Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Samstag, 27. Dezember 2008

Pinter ist tot

Harold Pinter ist tot. Seine Theaterstücke waren alles andere als indoktrinierend oder thesenlastig. Der Bürger Pinter bildete sich hingegen, wie es von jedem eigentlich erwartet werden kann, Urteile und vertrat sie auch. Die These ist nunmal die Gestalt des vertretenen Urteils, und die Kategorien, mit denen wir menschliches Handeln beurteilen, sind zwangsläufig auch moralisch. Die schicke Literaturkritik, die nun schon seit bald zwanzig Jahren alles verreißt, das sie im Verdacht hat, moralisch aufzutreten, schickt dem Toten einen Verriss nach, siehe unten.

Wen meinen wir mit "der Kritik"? Sie möchten Namen? Bitte: Ina Hartwig, Thomas Steinfeld, Ijoma Mangold und viele andere. Das Beklagen des "erhobenen Zeigefingers", die Behauptung, jemand sei "moralinsauer", "besserwisserisch", "rechthaberisch" ist inzwischen ein fester Topos des Feuilletons. Wer moralisiert, habe nicht den rechten Formwillen. Und umgekehrt sei, wer ironisiere, künstlerisch wertvoller, komplexer. Das Theorem ist zu dumm, um offen zugegeben zu werden, erklärt aber eine Urteilspraxis, die Schlingensief, wenn er nur verblasen genug redet, gut wegkommen lässt, bei Pinter aber ständig ein Gesicht zieht, als wäre er ein ungelüftetes Zimmer.

Dabei treten ja alle, wenn man ihnen unrecht tut, moralisch auf. Schlagen Sie mal einen dieser Kritiker oder stehlen Sie ihm den (Kaschmir-)Mantel, dann werden Sie ja sehen, ob "hilflose Moralappelle" (Luhmann, nach Titanic) kommen. Dass man von den Toten nur Gutes sagen solle, ist sicher falsch, aber wenn man das schon zu Lebzeiten bloß unterstellte Schlechte im Tode wiederholt, nun ja, das ist nicht sehr fein, aber es wird schön sein, darauf hinzuweisen, wenn die Geschichte einmal ih Urteil gefällt haben wird.

Wir erinnern uns: Pinter brandmarkte etwa anlässlich der Nobelpreis-Rede den anglo-amerikanischen Krieg im Irak und den in Afghanistan, zwei völkerrechtswidrige Kriege, die die Chancen friedlicher Konfliktbewältigung für die Zukunft verkleinert haben. Keiner kann sich auf das Recht verlassen, also müssen gerade die Kleinen sich bis zu den Zähnen bewaffnen. Selbst wenn der Iran nur ein ziviles Atomprogramm verfolgt, wird ihm das keiner von unseren Realpolitikern glauben, weil sie selbst an Stelle des Iran nach einer Lebensversicherung in Gestalt der Abschreckendsten aller Waffen trachten würden. Die Folgen dieser beiden Kriege lassen sich noch gar nicht absehen; ganz konkret aber sind die vielen Toten, die sich nicht als Kollateralschäden verniedlichen lassen. Pinter hat völlig zurecht vom Blut an den Händen Bushs und Blairs gesprochen. Igitt, was für ein schlechter Geschmack, Literaten sollen doch keine Aussagen treffen. Einen vollkommenen Verriss wollte zwar niemand als Nachruf schreiben, aber die Nachrufe müssen mit Distanzierung und Verriss anfangen, um sich dann zum eigentlichen Werk vorzukämpfen.


Itzo die kleine Presseschau:


Thomas Kielinger in der "Welt":

Manche waren nicht von ihm überzeugt, um es vorsichtig auszudrücken. Christopher Hitchens sprach in einer Rundum-Polemik gegen den gerade mit dem Nobelpreis Geehrten von dessen „finsterer Mittelmäßigkeit“. Als wolle er ein solches Urteil bestätigen, ließ der Laureat am 10. Dezember 2005 auf die in Stockholm versammelte Festgemeinde eine aufgezeichnete Hasstirade niederprasseln, gegen Amerika und das mit ihm im Irak verbündete Großbritannien, die jeder Seriosität Hohn sprach.

„Lieber Präsident Bush“, so ließ sich die Video-Stimme vernehmen, „gewiss wird es eine nette Tea-Party geben zwischen Ihnen und Ihrem Kriegsverbrecher-Kollegen Tony Blair. Bitte spülen Sie dabei doch Ihr Gurken-Sandwich mit einem Glas Blut herunter, mit meinen besten Empfehlungen“.

Jetzt ist Harold Pinter im Alter von 78 Jahren von der Bühne gegangen und damit hoffentlich einen Schritt näher gekommen an die Auflösung seiner quälenden Lebensfrage, warum es zwischen „wahr“ und „falsch“, zwischen „wirklich“ und „unwirklich“ nur fließende Grenzen gebe in der Kunst – eine Aporie, die ihn nach eigenem Bekunden „als Bürger“, als engagierten, nie bekümmert hatte. Im Gegenteil: Das Bekenntnis war ihm kostbar, die Sündenböcke dieser Welt mussten scharf markiert werden, keine schwebende Undeutlichkeit der Zeichnung – das Markenzeichen seiner Bühnenkunst – war erlaubt. Auch darüber, auch über diese Eindeutigkeit, wird ihm nun Aufklärung zuteil.


Es ist ein Jammer, dass der Extremismus seines politischen Urteils in dieser Spätphase den Blick auf Pinter, den Bühnenautor, verstellen konnte.


Anschließend honoriert Kielinger dass "eigentlich schon immer politische" Werk und sagt am Schluss voraus, das Zeitlose daran werde bleiben. Immerhin legt Kielinger seine politischen Karten auf den Tisch: "die jeder Seriosität Hohn sprachen". Wenn die Geschichte einmal geurteilt haben wird, wird man diesen Parteigeist hoffentlich mit beurteilen. Stracks rechts und aus Prinzip auch in zweifelhaften Fällen proamerikanisch kann sich die "Welt" doch eine Bejahung der ehemaligen Avantgarde leisten. Kielinger kennt aber zumindest einige Stücke Pinters und schreibt darüber.

Was schreibt Gina Thomas in der FAZ?

Als Harold Pinter vor nicht allzu langer Zeit verkündete, dass er keine Stücke mehr schreiben werde, wollte ihm kaum jemand glauben. Man hielt die Aussage für Koketterie und machte sich über seine Eitelkeit lustig, schließlich hatte es schon früher Perioden gegeben, in denen er große Mühe hatte, fürs Theater zu schreiben. Aber die Skeptiker müssen jetzt Abbitte leisten. Pinter hat Wort gehalten, womöglich weil er immer schon überaus rechthaberisch war. Und das nicht nur in politischen Fragen, sondern auch auf dem Tennisplatz und dem Cricket-Feld, wo er, wie seine Spielpartner bezeugen, stets mit äußerster Verbissenheit auftrat. Er, der ein großer Poet der Ungewissheit war und als einzige Gewissheit den Tod anerkannte, hat jetzt sozusagen mit der Nachricht von seinem Ableben zum letzten Mal recht behalten.

Im Grunde war seine ganze Rechthaberei ein Versuch, den Zweifeln und Unsicherheiten der menschlichen Existenz eine Antwort abzupressen. Dieser Zweifel sitzt im Kern aller seiner Stücke. Er lag auch seinem stacheligen Wesen zugrunde.


Auch hier muss der Text mit einer Distanzierung von allem Rechthaberischen beginnen. Glaubt die Thomas denn nicht, sie habe recht, wenn sie etwas veröffentlicht? Wir hingegen glauben, sie habe unrecht mit ihrer Einschätzung oder would-be-english-irony, Pinter habe am Ende aus Rechthaberei das Zeitliche gesegnet. Anders als Kielinger hat Thomas kein eigenes Urteil über Politisches. Die Rechthaberei störte, auch wenn Pinter womöglich recht hatte. Aber das spielt keine Rolle, eine Rolle spielt allein das Werk. Darüber schreibt sie dann meines Erachtens gar nicht so falsch, wenn auch so vage, dass anders als bei Kielinger unklar bleibt, ob sie sich an ein konkretes Stück erinnert. Ärgerlich finde ich vor allem die Überleitung, die den Zorn psychologisch aus Zweifel und den Ängsten verfolgten Judentums ableitet. Das ist ebenso einfach wie wenig schlüssig. Es gibt Gründe für Zorn und Gründe für Zweifel. Auch der theoretische Skeptiker urteilt in der Lebenspraxis. Braucht man Psychologie, um den Zorn über krasses Unrecht und das allgemeine behäbige Schweigen dazu zu verstehen? In Wahrheit bräuchte man wohl psychologische Erklärungen, um dieses Schweigen zu verstehen. Amerika bricht das Völkerrecht, beginnt Krieg aus Gründen, die sich als falsch herausstellen (WMD), schiebt andere Gründe nach (Demokratisierung) und wird am Ende nicht einmal diesen gerecht. Dennoch aber ist, wer schimpft, ein antiamerikanischer Hasser. Ja, man braucht Psychologie.

In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung immerhin ein Nachruf von Hans-Jürgen Jakobs, der nicht dem Zwang verfällt, den Lesern doch ja die eigene Distanz zu Pinters Positionen begreiflich zu machen. Jakobs schreibt darüber, was Pinter getan und geschrieben hat und nimmt ein eventuelles Urteil des Lesers nicht vorweg.

Jörg Sundermeier in der TAZ macht es andersrum als die Nachrufer von Welt und FAZ. Er distanziert sich am Schluss von Pinters Zornausbrüchen mit den Sätzen

Großbritannien sah er vom "Idioten" Blair moralisch diskreditiert. Wie alle Mahner und Warner wurde er rechthaberisch und verbissen, schließlich zog er sogar noch seine Kunst in seine Kämpfe hinein und schrieb einige ziemlich plumpe politische Gedichte.

Nicht jeder Autor ist zum politischen Denker geboren. Unter seinen Ausfällen litt sein literarisches Ansehen, gleichwohl aber war und ist Pinters dramatische Kunst eine Bereicherung für das Theater der Welt. Sie wird bleiben. Denn das, was bleibt, stiften nicht die engagierten Mitbürger, sondern die Dichter.


Wie alle Mahner und Warner wurde er also rechthaberisch und verbissen (die Vokabeln, die auch Gina Thomas benutzt), soso. Das gilt übrigens auch für Warner und Mahner, die recht haben. Was bleibt, stiften nicht die engagierten Mitbürger, sondern die Dichter. Bleibet nicht auch manchmal das Engagement, und zwar nicht durchs immer-wieder-aufgesagt werden, sondern durch seinen Beitrag zur Veränderung der Welt? Natürlich bleibt eine situationsgebundene Äußerung nicht im selben Sinne wie ein Text, der das nicht ist. Es ist ganz überflüssig, so etwas zu sagen, außer man wollte mal wieder klar machen, wo man selbst, i. e. Sundermeier steht.

Da mir allmählich die Lust an der Presseschau vergeht, komme ich zum Schluss.

Das Stück "Landscape" habe ich in meiner Jugend gelesen und glaube, dass es in dem Maße, wie Literatur das überhaupt vermag, Spuren hinterlassen hat. Es scheint mir überflüssig, an dieser Stelle eine Analyse nachzuschieben. Dass Pinter eine engagierte Nobelpreisrede hielt statt die üblicherweise erwarteten poetologischen Bemerkungen zu machen, fand ich erfreulich, obwohl ich zuzeiten auch solche Poetologie gerne gelesen habe. Aber es muss doch um Himmels willen nicht alles gleich sein. Und was er sagte, halte ich nach wie vor für richtig, glaube sogar, dass diejenigen, die sich bei ihren Nachrufen distanzieren mussten, später einmal vor Scham erröten werden, falls ihr Teint das zulässt. Dear Mr. Pinter, I hope you are all right, up there, in nothingness. I would have liked to meet you.

Sonntag, 16. November 2008

Nachtrag zu: Georgien hat angefangen

(siehe Georgien hat angefangen)

Die BBC macht doch immer wieder lobenswerte Sachen, zum Beispiel diese Dokumentation zum Krieg in Süd-Ossetien, Anfang August: What really happened in South Ossetia?

Der Beitrag versucht den Verbrechen aller Seiten nachzugehen.

"Whatever the rights and wrongs, that does not justify that one country invades another"
sagt der britische Außenminister David Miliband. Bekanntlich wurden der Irak und Afghanistan mit britischer Beteiligung angegriffen, "whatever the rights and wrongs". Außerdem sagt er ständig "tit for tat", und schleimt mit dieser symmetrischen Formulierung die Frage zu, ob womöglich "unser" Verbündeter die Hauptverantwortung tragen könnte. Wenn nun, wie die Dokumentation suggeriert, Georgien Süd-Ossetien in einem an zivilen Opfern reichen Angriff annektieren wollte, was sollte Russland als Garantiemacht tun? Russland hat Georgien nämlich nicht erobert, wohl aber militärische Anlagen zerstört und sich anschließend zurückgezogen. Es gibt offenbar gar keine Maßstäbe, New Labour's Britain kann auch keine Maßstäbe wünschen, denen es selbst nicht genügen würde. Die BBC hat leider keine anderen NATO-Außenminister gefragt, aber ich erinnere mich von Steinmeier usw. an ähnlich parteiischen Schleim.

Was man von unseren demokratisch gewählten Außenministern halten darf, die auch dann NATO-Schulterschluss mit Georgien üben, wenn dieses gerade Verbrechen begangen hat? Die Muster des kalten Krieges, in denen nicht die Wahrheit sondern die Blockzugehörigkeit über die Beurteilung von was auch immer entscheidet, sind offenbar intakt.

Es wäre gut, gut zu sein

Doch lieber lassen sich die meisten Menschen einen gewitzten Halunken nennen als einen anständigen Dummkopf. Des einen schämen sie sich, aber mit dem anderen geben sie an.


Der Historiker Stefan Rebenich zitiert in der SZ vom 15. November Thukydides und analysiert die Gegenwart ebenso wie Thukydides' Athen als kompetitive Gesellschaft, in der jeweils nur der eigene Erfolg zählt. Rebenich erwähnt auch, dass ein gut gestaltetes Gemeinwesen mit entsprechenden Normen gegen die Herrschaft des Eigennutzes schützen kann. Auch diejenigen, die in der Geschichte nur den Eigennutz am Werk sehen wollen, werden kaum jemals auf Rechte und Gesetze verzichten wollen. Mögen sie dann auch sagen, diese seien letztlich durch den vermittelten Eigenutz entstanden: Wo es ein Recht gibt, gibt es eben nicht nur Eigennutz.


Das Thukydides-Zitat passt unter anderem zu den intellektuellen Gefechten der letzten fünfzehn Jahre, in denen viele, die etwas Anständiges in der Öffentlichkeit vertraten, früher oder später mit der Vokabel "Gutmensch" und der Unterstellung, sie seien dumm und naiv, lächerlich gemacht wurden.

Ist nicht offenbar Gutes Schlechtem, Aufrichtiges Unaufrichtigem und Gemeinnütziges Eigennützigem vorzuziehen? "Gutmensch","Authentizitätswahn" und dergleichen Vokabeln suggerieren das Gegenteil.

Liest man sich die Feuilletons durch, muss man zu dem Schluss kommen, dass es ehrrühriger ist, Bono zu sein als Waffenhändler oder der Krieg führende George W. Bush.

Dieses Ergebnis, das letztlich auch die, die es herbeigeführt haben, absurd finden müssen, ist wieder eine voraussehbare Folge des Wettbewerbs auf eingeschränktem Gebiet: Der Feuilletonist muss sich durch irgendwas hervortun, durch "Originalität" seiner Thesen. Besonders originell ist stets das Unvernünftige. Trotzdem ist Originalität nicht ausreichend, unter deren Schein muss man etwas sagen, das viele denken oder zumindest als Ressentiment in sich tragen.

"Gutmensch" war so eine Vokabel. Alle, denen "die Ökos" und Menschenrechtler und moralische Reden auf die Nerven gingen, begrüßten die mit diesem Wort gemeinte Verunglimpfung. Dabei ist der moralische Standpunkt unvermeidlich, und kaum einer derjenigen, die wieder einen Moralisten fertiggemacht haben, würde sich ausdrücklich zum Gegenteil bekennen wollen und etwa gutheißen, dass ein Achtel der Menschheit hungert. Es geht ja auch nur um eine Hackordung, nicht
mehr um ein Gespräch über das Richtige und das Falsche. Bono muss man einfach blöd finden, auch wenn man nichts von dem, was er unterstützt, wirklich falsch findet.

Aristides wurde bekanntlich ostrazisiert, und die Legende will, dass er selbst einen der Athener, der für seine Verbannung stimmte, nach den Gründen fragte und "Weil sie ihn alle den Gerechten nennen." zur Antwort erhielt. Vielleicht nickt manch einer verständnisvoll angesichts dieser Begründung und gesteht damit ein, selbst unter der antiken wie modernen Krankheit zu leiden, die eigene Laune mit dem Guten zu verwechseln: Wenn einer "nervt", braucht man nicht mehr zu fragen, ob er womöglich verdient, "Gerechter" zu heißen.

In den letzten Jahrzehnten haben die Geisteswissenschaften eine antike Debatte wieder aufgeführt, nämlich die, ob es im Leben um die Wahrheit und das Gute oder aber um rhetorisches
Rechtbehalten und ums Gewinnen gehe. Um die Laune gegenüber der Wahrheit ins Recht zu setzen, haben einige besonders Laute die Positionen der Sophisten oder zumindest der platonischen Karikatur der Sophisten sich zu eigen gemacht. Außerhalb der Philosophie umarmte man Derridas und Foucaults Lehre vor allem deshalb, weil sie den als beklemmend und konservativ empfundenen Anspruch auf die Wahrheit, die Vernunft und das Gute in Zweifel zogen und die Grenze zwischen "Recht haben" und "Recht behalten" verwischten.

Das berechtigte skeptische Element dieser Philosophien konnte man begrüßen, weil die Geschichte der Vernunft so voller Irrtümer ist, und auch deshalb, weil der Glaube an eine positive Vernunft es sich mitunter zu leicht gemachthat (-wie auch Platons Sokrates den Sophisten Gorgias allzu leicht in die Pfanne haut-). Dieses skeptische Element verlor sich leider sehr bald in einem umgekehrten Dogmatismus, der Gorgias immer Recht gegen Sokrates gibt, dem Rhetoriker gegen den Moralisten, dem Handel mit Schein gegen den Versuch, die Wahrheit herauszubekommen.

Während die Skepsis ja dazu hätte führen können, bisher Ausgeschlossenes zum Wort kommen zu lassen. (die vielbeschworene "Vielfalt"), ging es den so gar nicht skeptischen Neo-Sophisten um ein umgekehrtes Ausschlussverfahren. Es reichte nicht, den Begriff der Authentizität zu problematisieren, nein es musste umgekehrt sein: Authentisches doof - Unauthentisches gut. Dieser Dogmatismus gipfelte dann in sagenhaft dummen Kommentaren ehemals linksliberaler oder linker Tageszeitungen anlässlich einer vor den Kameras bloß gespielten und vorbereiteten Empörung im Bundesrat. (Man erinnert sich vielleicht.) Wer sich darüber empöre, laboriere an, na?, "Authentizitätswahn". Natürlich schauspielern doch alle, Politiker und wir auch, hahaha.

Schenkelklopfend über der eigenen Pointe übersahen die Autoren, dass eine parlamentarische repräsentative Demokratie darauf beruht, den Deputierten trauen zu können: Es gibt ja kein imperatives Mandat. "Spin" bedroht das Wesen einer solchen Demokratie. Soweit kam die Reflexion, im eigenen Lachen erstickt, allerdings nicht mehr. Es blieb dabei: Echte Empörung ist doof, gespielte Empörung legitim.

Dieser anti-moralische Dogmatismus wird, da er bloße Mode ist und das Kampfmittel einer kleinen ehrgeizigen Gruppe war, die nun auch langsam alt wird, ziemlich sicher wieder vergehen, allein schon, weil die nächste ehrgeizige Gruppe ja etwas zum Totbeißen haben möchte. Es braucht niemand zu fürchten, dass dann das Reicht der Vernunft anbricht, es wird halt die nächste Mode sein.

Jenseits dieses ganzen Gehampels messen ja fast alle sich und andere an moralischen Maßstäben (für Leser der Titanic: "Luhmanns Mantel"), und die meisten müssenauch manchmal erkennen, sich in den Maßstäben selbst geirrt zu haben. Die Dialektik, das Gute zu wollen und immer mal zu zweifeln, was das ist, ist aus dem gewöhnlichen Umgang mit der Moral nicht wegzudenken. Ein Gemisch aus Theoriebrocken, das diese Dialektik zu denken verbietet und sich nur auf die "antimoralische" Seite schlägt, ist recht eigentlich für dumme Leute, die gerne die meisten anderen für dumm halten.

Es ist nicht dumm, anständig sein zu wollen. Und es ist nicht ehrrührig, ein anständiger Dummkopf zu sein oder ein anständiger Schlaukopf. Ein gewitzter Halunke zu sein, ist durchaus ehrrührig. Ob aber diejenigen, die noch immer mit der "Gutmenschen"-Vokabel um sich schlagen, nicht am Ende sogar unanständige Dummköpfe sind, darüber würde die Geschichtsschreibung urteilen, wenn sie nicht selbst immer wieder von Moden bestimmt wäre. Selten nur in allen Zeiten findet sich ein Thukydides, den man auch noch lesen mag, wenn alle Moden längst vergangen sind.

Dienstag, 28. Oktober 2008

Heftys Gewissen

Georg Paul Hefty schreibt über
"Das persönlichste öffentliche Gut" in der FAZ vom 28. 10. 2008

„Das Gewissen ist das Persönlichste, was ein Mensch hat. Zugleich ist es aber auch ein öffentliches Gut.“ „Doch grenzenlos frei kann das Gewissen im Verständnis der Verfassung nicht sein, sonst ergäbe der vorgeschriebene Wortlaut für den Amtseid des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesminister keinen besonderen Sinn: Seine 'Pflichten gewissenhaft (zu) erfüllen' ist aus der Sicht des Staates nur dann vertrauenerweckend, wenn sich das Gewissen des Amtsinhabers nicht allzu sehr von dem unterscheidet, was gemeinhin als Gewissenskonsens gilt, und zwar in inhaltlicher und methodischer Hinsicht gleichermaßen.“ Auch wenn Hefty selbst nicht ganz versteht, was er mit der methodischen Hinsicht des Gewissens meint, wollen wir nicht kleinlich sein und etwas aus dem Satz lernen. Wenn, nur mal angenommen, eine nationalsozialistische Regierung mit großem arischem Gewissensrückhalt beim Volk beschließt, die Juden auszurotten, und Gesetze wie Verfassung ändert, dann hat der Bundespräsident fein mitzumachen und nicht etwa aus dem Gewissenskonsens auszuscheren. Nein, das war nicht gemeint? Sondern es war ein garantiert freiheitlich-demokratisches und keineswegs nationalsozialistisches Gewissen gemeint, Konsens hin oder her. Hefty geht es ja eher umgekehrt um das Verhindern des falschen Gewissens. „Das Grundgesetz setzt somit voraus, dass kein Amtsträger mit seinem Gewissen einer der freiheitlich-demokratischen Grundordnung feindlichen Ideologie dient. Daraus folgt zwingend die Frage, wie denn die persönlichen Gewissen in einer pluralistischen Gesellschaft gebildet sind.“ Ja, zum Beispiel werden Gewissen durch die Kommentare in der FAZ gebildet, die von unseren Truppen oder denen unserer Vebündeter getötete Zivilisten - ohne mit der Wimper des Gewissens zu zucken - als Kollateralschäden bezeichnen (28. 10.) oder gar erklären, dass, wo gehobelt werde, nun einmal Späne fallen. Außerdem braucht man nur eine x-beliebige Zeitung zu lesen, um festzustellen, dass in den afrikanischen Bürgerkriegen die Qualitätsgewehre von Heckler & Koch sehr beliebt sind und Konzerne, die große Gewinne machen, dennoch gerne Personal entlassen, um anderswo Leute mit Hungerlöhnen anstellen zu können. All das nach FAZ-Leitline keine Stolpersteine für's Gewissen, so dass ein gehaltvoller Gewissensbegriff voraussetzt, die Kinderchen weder von der FAZ noch von der Welt viel mitkriegen zu lassen.

So war es aber anscheinend auch nicht gemeint, sondern er meint das christlich geprägte Gewissen. „In der ehemaligen DDR sind viele Menschen in einem Atheismus aufgewachsen, der nicht einfach kirchenfern oder -feindlich im aufgeklärten Sinne war, sondern barbarische Züge trug, wie die Unterdrückung der Menschenrechte und die Rechtfertigung leninistischer Morde zeigen. Auch in der alten Bundesrepublik verlor die tradierte Gewissensbildung an Kraft, sonst gäbe es heute keine Neonazis, die ihre Augen und Ohren vor den sittlichen Lehren der Vergangenheit verschließen.“ Zu denen ja gehört, dass die bis dato noch bestehende christliche Prägung bekanntlich 1870/71, zwei Weltkriege und den Holocaust verhindert hat, sowie dass die 'deutschen Christen', auch wenn das allen peinlich sein mag, in der Mehrheit waren.

Dass mit einem wirklich christlichen Gewissen keiner dieser Kriege stattgefunden hätte, die Bundesrepublik sich nicht ganz flink aus Bündnisgründen wieder bewaffnet hätte, die Bundeswehr jetzt nicht in Afghanistan stünde, dafür viel mehr in Entwicklungshilfe flösse, und Hire and Fire, Billiglohn und Ausbeutung nicht vorkämen, glaube ich allerdings auch. Wirkliche Christen würde man in gefährliche Nähe zu Terroristen stellen müssen.

„Diese Mängel kann nur der Staat beheben. Sein klassisches Instrument ist dazu die Schule.“ „Hat erst einmal ein junger Mensch sein Gewissen nach der Maxime ausgerichtet, dass alles 'gut' ist, was ihm Vorteile verschafft, dann wird es für die Gemeinschaft schwierig.“ Gut gesagt, ihr alten Klassenkämpfer von der FAZ habt ja auch immer gegen den widerlichen Eigennutz des wirtschaftlichen Handelns gewettert! Die Schule soll also weniger Wissen und mehr Werte vermitteln, und zwar abendländisch-christliche, auch wenn in deren Namen schon so ziemlich alles angerichtet wurde: Armer Mann, ganz verwirrt, nix gelernt in der Schule außer Werte, schlimme Sache.

Dienstag, 2. September 2008

Judge for yourself

Ein am 29. August 2008 von Thomas Roth mit Vladimir Putin für die ARD geführtes Interview wurde in einer stark gekürzten Version ausgestrahlt. Diese gekürzte Version steht auch als
Transskript auf den Seiten der ARD zur Verfügung. Nachdem russische Sender dasselbe Interview teilweise in voller Länge ausgestrahlt hatten und ein Transskript des vollen Interviews zu zirkulieren begonnen hatte, erreichten viele Proteste die ARD, die sich anschließend entschloss, das volle Transskript ebenfalls zu veröffentlichen, sowie das volle Interview - allerdings zu einer unmöglichen Zeit - auszustrahlen.

Einerseits kann man der ARD nicht vorwerfen, Geheimniskrämerei zu treiben: Das Interview wurde den russischen Sendern zur Verfügung gestellt, und damit ging man auch das Risiko ein, dass es jemandem nicht passt, wie das Interview geschnitten wurde.

Andererseits ist die zur besten Zeit ausgestrahlte geschnittene Version doch bedauerlich entstellt, da genau die hier beklagte Einseitigkeit der westlichen Medien wieder die Schere geführt zu haben schent. Der fiel zum Beispiel zum Opfer, dass Georgien angefangen hat. Und dass die USA Georgien iaufgerüstet haben. Und dass sich ein Vergleich mit dem Kosovo durchaus ziehen lässt. Und nicht zuletzt die Einseitigkeit der westlichen Medien, von der Putin mit Recht spricht. Ein Ausschnitt der Wahrheit hat nun einmal etwas von einer Lüge. Es ist die klügere Variante der Lüge, da sie eben nur das Falsche suggeriert, ohne selbst falsch zu sein. Das kann man leicht abstreiten, wenn man ein Dunkelmann ist, aber es ist nun einmal so.

Da sich beide Versionen lesen lassen, judge for yourselves.

Montag, 11. August 2008

Georgien hat angefangen

Ein Nachtrag (14. August) vorweg: Einerseits spielt es für die Einschätzung eines Krieges eine Rolle, wer angefangen hat. Andererseits muss eine Seite nur lange genug schießen, um sich so ins Unrecht zu setzen, dass es eben doch keine Rolle mehr spielt, wer angefangen hat. Was unten abgehandelt wird, ist eine Einseitigkeit der westlichen Medien in der Anwendung des ersten Satzes.
Es geht nicht um eine Rechtfertigung Russlands (die im Licht des zweiten Satzes vielleicht schlecht möglich ist) sondern um eine unreflektierte Haltung, die apriori schon den Bösen und den Guten kennt.


Im Kosovo und anderswo sollte der faktische Friede respektiert werden, wie auch immer der völkerrechtliche Status sein mag. Serbien würde, wenn es sich den Kosovo militärisch wieder einverleiben wollte, mit Recht zum "Bösewicht" erklärt. Das sollte billigerweise nun von Georgien gelten, denn Georgien hat den unfreundlichen Frieden durch einen blutigen Militärschlag gebrochen. Und ähnlich wie die NATO als Schutzmacht für ein überfallenes Kosovo auftreten würden, betätigt sich Russland als Schutzmacht für Süd-Ossetien. Georgiens Präsident wollte von Anfang an die "territoriale Integrität Georgiens" wiederherstellen, d.h. Krieg führen. Die NATO hat Georgien mit dem Aufrüsten geholfen, Saakashvili hat der westlichen Presse in gutem Englisch demokratische Brocken hingeworfen, im übrigen aber nicht sehr demokratisch regiert. Dass diesen Krieg tatsächlich Georgien angefangen hat, bestätigen laut FAZ (13. August) inzwischen auch Quellen der NATO. Dieselbe FAZ schreibt allerdings seitenlang vom russischen Aggressor. In der vermutlich leider repräsentativen Presseschau der FAZ wird unter anderem Jyllands Posten zitiert, die die Aktion der russischen Armee gar mit Deutschlands Annektion der Tschechoslowakei im Namen der Hilfe für die Sudetendeutschen vergleicht. Die Grundlage für diesen Vergleich ist sehr sehr dünn, er ignoriert den Separationskrieg und dessen Gründe in den Neunzigern und, nun ja, die Tatsache, dass nun einmal Georgien angefangen hat. Der georgische Präsident ist mit seinem "Georgien den Georgiern" und anderen nationalistischen oder sogar rassistischen Äußerungen, die den Barbarentopos ausbeuten, um über die Russen zu sprechen, ein sehr viel besserer Kandidat im beliebten Spiel "Wer-ist-der-Hitler", ein dummes Spiel übrigens.

Eine mit Sanktionsdrohung versehene Aufforderung an Georgien, sich wieder zurückzuziehen, hat es nicht gegeben. Stattdessen allenfalls eine symmetrische Aufforderung "an beide Seiten", mit den Kampfhandlungen aufzuhören oder gar die einseitige Aufforderung an Russland. Und auch diese Aufforderung hätte ihr Gutes, käme sie nicht von selbst Krieg führenden Bellizisten.


Es ist merkwürdig, dass die Muster des kalten Krieges weiter die Wahrnehmung strukturieren. In der FAZ schrieb Georg Paul Hefty etwas von der "russischen Psyche", die die Anreiner Russlands aus leidvollen Erfahrungen kennen. Also nochmal: Georgien hat einen Krieg angefangen, den es gerade verliert. Beim georgischen Überfall kamen unter anderem russische Soldaten (unter UN-Mandat) und zahkreiche Zivilisten ums Leben. In vielen Redaktionen wurde aber schon lange beschlossen, wer in diesem Konflikt die Guten sind. Das Muster ist etwa: Russland betreibt immer nur Machtpolitik, die USA und ihre Freunde immer nur Menschenrechtspolitik, Georgien aber ist ein Freund der USA.

Nun haben aber die USA in den letzten Jahren eine weit aggressivere und blutigere Politik betrieben als Russland, ohne dass Hefty deshalb über die amerikanische Psyche zu sinnieren anfinge. Es ist überhaupt so eine Sache mit der Psyche von Völkern oder Staaten. Der Barbarentopos wurde von den Nationalisten und Rassisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gerne auch auf die Slaven angewandt. Der Russe: versteht nur die Gewalt, roh, mitleidslos, "asiatisch". Es braucht nur einen Interessenkonflikt, um die Schablonen auszupacken. Unsere Zeit ist keineswegs für Rassismus sensibilisiert, sondern nur für bestimmten Rassismus. Hefty und die vielen anderen würden sich dagegen verwehren, wenn sie über den Russen schwadronieren, etwa im Kern Rassisten zu sein. Im Falle Russlands haben solche Etikettierungen eine alte und üble Tradition. (Dennoch sei erinnert daran, dass Frankreich Russland überfallen hat und Deutschland Russland überfallen hat, nicht umgekehrt. Andererseits hat Russland zusammen mit Deutschland und Österreich die Polen in den Sack gesteckt und damit dieselbe niederträchtige Machtpolitik betrieben, dieselbe!, nicht etwas eine besonders finstere russische Abart. Trotzdem schwadronieren die Heftys "Russland hat schon immer", ganz geschichtsvergessen und dafür verblüffend selbstbewusst. ) Man braucht natürlich nicht einen wie im Falle Russlands lang geübten Rassismus, es geht unter Umständen auch sehr schnell. Ein paar Jahre einseitige (unter anderem von Werbeagenturen eingefädelte, s. Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan ) Propaganda über das explodierende Jugoslawien, schon ist der Reflex trainiert, dass immer die Serben die Bösen sein müssen. Zögerlich nur tröpfelt das Ausmaß des Nationalismus und der Verbrechen auch der anderen Gruppen ins Bewusstsein.




Das alles ist so einseitig, dass es ein unsichtbares Propagandaministerium nicht besser machen könnte, s. auch diesen amerikanischen
Blog-Artikel.


Es gibt offenbar keine Maßstäbe, und deshalb zählt allein die Macht, ungestraft tun zu können, was man tut. Einseitige Verwendung moralischer Kategorien macht diese stumpf. Wer sollte sich schon von George Bush zum Frieden ermahnen lassen? Anders sähe die Welt aus, wenn nicht nur Karadzic, sondern auch Bush in den Haag säße, wenn Saakashvili angeklagt würde und man dennoch die Russen auffordert, doch gefälligst mit dem Schießen aufzuhören. In der etwas älteren Geschichte sehen alle mit Leichtigkeit durch die dünne Firnis der Rechtfertigung auf die interessegeleiteten Politik, in der Gegenwart dagegen lässt man immer wieder die Kriege der eigenen Seite als gerecht durchgehen. Aus Bosnien hätten wir gelernt, wie wir immer wieder lesen, dass Kriegführen human ist, und von Kriegseinsätzen abraten inhuman. Zu welchem Ende betreiben wir Geschichte?

"Wir brauchen eine allgemeine Abrüstung." Das wäre mal ein schöner Satz. Stattdessen haben "wir" Georgen aufgerüstet und kannten die dortigen Konflikte. So dass die etlichen tausend Opfer des georgischen Überfalls vielleicht ja auch in den Genuss unserer hervorragenden Technik kamen. Pfui also nicht nur über Saakashvili und unsere Presse, Pfui auch über die Waffenhändler und uns alle.

Den Splitter im Auge der anderen sieht die deutsche Presse immerhin. Michael Ludwig analysiert die Berichterstattung über diesen Krieg in den russischen Medien, in denen Georgien nur Aggressor und Russland nur humanität "zur Rettung der süd-ossetischen Brüder" agiert, von anderen Motiven sei nicht die Rede. Ansonsten beschuldigen die meisten Medien wohl die USA, da diese die georgische Armee trainiert und ausgerüstet haben. Und damit wären die russischen Medien gerade so teilweise gerecht, teilweise ungerecht, und überaus einseitig wie die westlichen. Das Russland nur edle Motive habe, klingt fishy, aber die Darstellung z. B. in der FAZ, in der es nur unedle hat, nun ja: kalter Krieg.

Samstag, 26. Juli 2008

Kollateralschaden, again

Nachdem britische Truppen in Afghanistan auf ein Fahrzeug geschossen haben, in dem sie "Aufständische" vermuteten, in dem sich aber hernach nur schwer verwundete gewöhnliche Zivilisten fanden, drücken alle Verantwortlichen ihr Bedauern aus. Verwerflich scheint nichts daran, dass nervöse Soldaten aus Angst vor Selbstmordanschlägen Zivilisten erschießen, solange sie es nicht absichtlich tun, während besagte Sehlbstmordanschläge, bei denen die Täter ihr Leben in die Waagschale legen um ihnen feindliche Soldaten zu erwischen, regelmäßig als feige und hinterhältig betitelt werden. Eine Sprache für die Herren und eine für die Knechte, ganz sicher. Die BBC berichtet weiter:


Troops have warned civilians to keep away from their convoys and checkpoints.

However, some Afghans, apparently unaware that they are seen as a threat, have failed to heed these warnings.


Apparently unaware that the road that leads from their village to the next village does no longer belong to them, but to the UK?

Wohlgemerkt, man versteht die nervösen Soldaten, die nach einer Woche mit mehreren Anschlägen lieber einmal zu viel als zu wenig schießen. Versteht man aber nicht auch diejenigen, die fremde Armeen bekämpfen, die Afghanistan den ersten Frieden nach zwanzig Jahren Krieg wieder zerbombt haben? Bzw. diejenigen, die jenen langen Bürgerkrieg gewonnen haben und es nicht recht einsehen, dass Europäer und Amerikaner in ihrem Bürgerkrieg mitkämpfen? Vergleichbare Fälle von zweierlei Maß sind bei allen Kriegen festzustelle. Krieg, staatlich sanktioniertes Töten, bedarf schon immer moralisierender Propaganda, und das vielleicht noch mehr, wenn es sich um demokratische Staaten handelt.

Natürlich gibt es in diesem Krieg PARTEIEN, die die Präsenz der westlichen Truppen begrüßen, denn diese sind selbst PARTEI. Es ist kein Polizeieinsatz gegen Banditen, sondern ein Kampf mit den Bürgerkriegsparteien, die verloren haben, gegen die Bürgerkriegsparteien, die gewonnen haben. Dass das Verbrechensregister etwa der ehemaligen Nordallianz dasjenige der so genannten Taliban womöglich noch übersteigt, kümmert nicht, man ist schließlich Partei mit universalistischer Rhetorik. In den Zeitungen steht auch oft: Ja, natürlich hätte man den Krieg nicht anfangen sollen, jetzt aber ist es besser zu bleiben. Natürlich wäre es besser gewesen, die Sowjetarmee wäre nicht einmarschiert, aber einmarschiert schien's der UdSSR besser, den Krieg auch zu gewinnen. Natürlich wäre es für die USA besser gewesen, sich keine Mujaheddin heranzuziehen, aber nachdem dies geschehen ist, ist es eben besser, diese durch neue Kriege zu bekämpfen usw.

Es wäre nicht das erste Beispiel, in dem die "Realisten" die Karre immer wieder in den Dreck fahren und jedesmal wieder die "Idealisten" beschimpfen, deren abstrakte Prinzipien ja nichts brächten. Pazifisten hätten auch das unsympathische Regime Afghanistans von außen durch Verträge bändigen können, während innere Veränderungen möglich gewesen wären, aber das sind ja immer Spinner, die Pazifisten.

Also im Klartext: Die britischen Soldaten haben auf afghanische Zivilisten geschossen. So etwas geschieht in Afghanistan jeden Tag. Das ist Unrecht, und es geschieht in der Folge von anderem
Unrecht.

Die Eroberung Afghanistans durch amerikanische und britische Truppen war durch keinen UN-Beschluss gedeckt. Später übernahmen dann die Vereinten Nationen ihre gewohnte Aufgabe, das bereits angerichtete Chaos mit aufzuräumen, und beaufragten die ISAF,
die Interimsregierung zu stützen. Die ISAF sollte also eine von einer Partei an die Macht gebrachte Partei stützen, was das Völkerrecht kaum weiterbringen dürfte.

Samstag, 21. Juni 2008

P. wie Papagei

Horst Köhler, der Bundesp., hat am 17. Juni in Berlin eine fast schon schmerzhaft beschränkte Rede gehalten, in der manches Richtige über die Wirtschaft, viel Falsches dagegen von der sozialen Wirklichkeit zu lesen ist. Deutschland sei auf dem richtigen Weg, die Agenda 2010 sei ein guter Anfang, nun müsse es eine Agenda 2020 geben. Ein guter Anfang wofür? Köhler redet von Arbeit, Bildung und Integration.

Arbeit, Bildung, Integration - warum sind gerade die Ziele so wichtig? Weil sie schöpferisch sind und Freiheit sichern. Arbeit schafft Einkommen und sichert materielle Freiheit. Bildung schafft Selbstbewusstsein und sichert innere Freiheit. Integration schafft Zusammenhalt und sichert politische Freiheit. Wenn eins der drei fehlt, leiden auch die andern. Umgekehrt: Je mehr wir für Arbeit, für Bildung, für Integration erreichen, desto näher kommen wir allen dreien und desto mehr kann unser Land die ganze Kraft entfalten, die in ihm steckt. Das lohnt die Anstrengung.


Dass Arbeit Einkommen und materielle Freiheit schafft, ist ein Satz, der das Deutschland des Wirtschaftswunders widerspiegelt. Wie sieht es mit der materiellen Freiheit der Billigarbeiter aus? Deren Arbeit schafft aber durchaus materielle Freiheit für die, denen sie dienen.

Arbeit: Da gibt es erste Erfolge. In den vergangenen drei Jahren haben über 1,6 Millionen Menschen zusätzlich einen Arbeitsplatz gefunden. Dabei sind besonders viele Ältere, die es bisher auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hatten, und dabei sind auch besonders viele Menschen, die lange Zeit arbeitslos waren.

Diese Fortschritte tun dem Land unendlich gut. Am meisten helfen sie denen, die wieder in Arbeit sind, und ihren Angehörigen. Wenn zum Beispiel in einer Familie mit Kindern der Vater oder die Mutter wieder eine Vollzeitbeschäftigung aufnehmen, dann ist für diese Familie die Gefahr zu verarmen in fünf von sechs Fällen gebannt. Arbeit haben bringt aber nicht nur Geld ins Haus. Arbeit macht auch zufriedener, denn die meisten von uns wollen aus eigener Kraft für sich und die ihren sorgen. Arbeit gibt Anregung, sie gibt dem Familienalltag Ordnung, sie erweitert den Gesichtskreis um die Bekanntschaft mit Kunden und Kollegen. Arbeit haben bedeutet oft saure Wochen, das stimmt schon, aber sie bedeutet vor allem: gebraucht werden und auf eigenen Füßen stehen.

Selbst wer dabei zunächst wenig verdient, hat Fuß gefasst, um sich weiter hoch zu arbeiten. Selbst wer trotz Arbeit auf Hilfe angewiesen bleibt, tut doch das ihm Mögliche und muss nicht mehr Solidarität in Anspruch nehmen als nötig. Das ist fair und verdient Achtung. Alle sollen eine anständige Grundabsicherung haben und durch eigene Erwerbstätigkeit mindestens dazu beitragen können. Zugleich sollen aus dem Bereich niedriger Löhne und einfacher Arbeiten viele Türen und Treppen weiterführen, hin zu beruflicher Fortbildung und zu besser bezahlter Beschäftigung.


Auch die Billigarbeit adelt? Fuß fassen? Sich hocharbeiten? Jüngste Studien belegen, dass das für Leute in Maßnahmen und Billigjobs kaum je geschieht.


(Quelle: Tagesschau) Der Niedriglohnsektor bietet in Deutschland nur geringe Chancen für einen späteren Aufstieg in höhere Lohn- und Gehaltsgruppen. Einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge schafft lediglich jeder achte Geringverdiener den Sprung aus dem Niedriglohnsektor in ein besser bezahltes Arbeitsverhältnis.

Die von Wissenschaftlern der Universität Erlangen-Nürnberg unterstützten Forscher hatten die Erwerbsbiografien von Männern und Frauen begleitet, die 1998 und 1999 zur Gruppe der Geringverdiener zählten. Jeder Dritte arbeitete auch 2005 als Vollzeitbeschäftigter im Niedriglohnbereich. 13,3 Prozent gelang der Sprung über die sogenannte Niedriglohnschwelle von 1779 Euro im Westen und 1323 Euro im Osten. Sie bekamen nach sechs Jahren einen höheren Lohn. 13,5 Prozent der betrachteten Männer und Frauen waren teilzeitbeschäftigt und 10,1 Prozent arbeitslos. Von knapp einem Drittel lagen keine Informationen vor. Sie waren entweder ganz aus dem Erwerbsleben ausgeschieden oder hatten sich selbstständig gemacht, vermuten die Arbeitsmarktforscher.


Köhler spricht auch von Grundsicherung, sozialer Marktwirtschaft und dergleichen, hat sich aber verbissen in das Paradigma der Vollbeschäftigung. Ein sich ausweiternder Billiglohnsektor ist allein schon deshalb kein Sprungbrett, weil ganze Branchen davon erfasst werden. Einem, der zu den "arbeitenden Armen" zählt, ist der Satz kaum zumutbar: Selbst wer dabei zunächst wenig verdient, hat Fuß gefasst, um sich weiter hoch zu arbeiten. Selbst wer trotz Arbeit auf Hilfe angewiesen bleibt, tut doch das ihm Mögliche und muss nicht mehr Solidarität in Anspruch nehmen als nötig. Das ist fair und verdient Achtung.

Achtung, mon cul. Symbolische Anerkennung bei gleichzeitiger Verweigerung der Anerkennung, die in einer fairen Bezahlung besteht? Was ist fair? La vue n'est pas tres bonne a Bellevue.

Und wohlgemerkt, es ist ansonsten nicht alles falsch an dieser Rede. Dass unser Schulsystem Einwanderern zu wenig Chancen bietet, bemerkt und beklagt er richtig. Und dass die deutsche prosperierende Wirtschaft auf qualifizierte Arbeitskräfte, Bildung und Forschung angewiesen ist, stimmt ebenfalls. Und doch ist seine Antwort auf ein brennendes Problem der Gegenwart merkwürdig dumm. Die hohe Produktivität moderner Produktion macht viel Arbeit überflüssig. Andererseits ist vielerlei nützliche Arbeit nicht als Lohnarbeit, die "Einkommen und materielle Freiheit" schafft, zu haben. Die handelt er unter "bürgerschaftlichem Engagement" ab. Und auch wenn er sich gegen die Ersetzung des Sozialstaates durch freiwillige Arbeit verwehrt...

Die Bürgergesellschaft ist auch kein Ersatz und kein Reparaturbetrieb für das nötige staatliche Handeln. Niemand sollte auf die Idee kommen, unseren Sozialstaat zurückzubauen mit dem freundlichen Hinweis, das Fehlende könne ja dann von der Bürgergesellschaft geleistet werden. Oft wird eher umgekehrt ein Schuh draus, das zeigt der internationale Vergleich: Wo der demokratische Staat sich umfassend für das Wohl des Gemeinwesens verantwortlich fühlt, da ist vielfach auch die Bürgergesellschaft besonders vital. Bei uns in Deutschland ist dies schon recht gut gelungen. Wir sollten aber mit Nachdruck weiter daran arbeiten, die bestmögliche Mischung zu finden, und wir sollten dabei die kleinen Lebenskreise und ihre Fähigkeit zur Initiative stärken. "Gebt den Leuten Freiraum und lasst sie machen" - der Grundsatz kann noch viel stärker beachtet werden.


...ist auch darin noch ein Lob für die bereits jetzt teilweise prekären Verhältnisse und den Sozialabbau der letzten Jahre. Die würdig bezahlte Arbeit für Alle wird es im freien Spiel der Marktkräfte nicht geben. Es gibt verschiedene Ideen, wie dem beizukommen wäre, etwa die eines Grundeinkommens für alle oder aber ein stärkerere öffentlicher Sektor. Nichts davon ist in der Rede des Bundesp.

Die Studie des IAB und der Satz des P. vom "Fuß fassen und hoch arbeiten" widersprechen sich, und es sei erlaubt, einer mühsam erstellten Studie mehr zu trauen als dem Satz eines Redenschreibers. Der Satz ist FALSCH. Und nur weil es erlaubt ist, die soziale Wirklichkeit zu ignorieren, kann man es vermeiden, von einer Lüge zu sprechen. Es gibt anscheinend keine "soziale Fakten", an die man sich bei einer Rede zu halten hat. Und so kann man, ohne "es böse zu meinen", im Namen von
Chancen und Freiheit usw. Verhältnisse propagieren, in denen dauerhaft erhebliche Armut geben wird. Keine gelbe Karte für falsche Aussagen wird je gezogen.

Warum gibt es keine "sozialen Fakten" mit einiger Autorität? Es gibt bloß Studien, und die muss man "bezweifeln", vor allem, wenn man ihnen die falsche Couleur unterstellt. Bezweifeln ist eine ganz billige Operation, es ist schnelle getan, selbst wenn in der Studie Tausende von Arbeitsstunden stecken. In den Naturwissenschaften ist es anders. Wenn einer behauptet, Beten sei besser als Operieren bei Blinddarmentzündung, so macht er sich lächerlich. Köhler ist sich dieses Mangels übrigens teilweise bewusst. Er fordert unter anderem mehr wissenschaftliche Beurteilung der Wirksamkeit und der Kosten von Politik. Diese wissenschaftlichen Resultate lassen sich aber jetzt schon ignorieren.

Nach der Rede viel Lobhudelei. Wie kann das sein? Nun ja, die, die in dem hier ausgeblendeten Bereich der Welt gefangen sind, kommen nicht zu Wort, so einfach ist das. Und wenn einige von
diesen die Linkspartei wählen, redet man von ihnen als verirrten Schafen, statt darin eine berechtigte Entscheidung zu sehen. Es handelt sich also nicht nur um eine sich entwickelnde ökonomische Zweidrittelgesellschaft, sondern auch um eine Zweidritteldemokratie, die deren notwendiges Korrelat ist. Das dann bloß unter dem Titel der Demokratieverdrossenheit abzuhandeln, genügt nicht.

Dienstag, 10. Juni 2008

Waffenhandel, Rüstung, Entwicklungshilfe

Im letzten Jahr wurden nach Berechnung des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI weltweit 1339 Milliarden Dollar für Militärausgaben ausgegeben.

Davon entfallen 45 Prozent oder 547 Milliarden Dollar auf die USA, es folgen Großbritannien, China, Frankreich und Japan mit ca. fünf Prozent. Auf dem sechsten Platz, knapp vor Russland, stand Deutschland mit ca. drei Prozent oder 36,9 Milliarden Dollar.

Bei den Waffenexporten stehen die USA mit 31 Prozent an erster Stelle, gefoglt von Russland mit 25 Prozent und Deutschland mit 10 Prozent.

Das weltweite Entwicklungshilfevolumen betrug dagegen 2005 laut OECD 106,5 Milliarden Dollar. Noch immer fast eine Milliarde Menschen sind unterernährt. Erhebliche Teile der Menschheit haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, etc.


Die Armutsberichte sogar der entwickelten Länder sind alarmierend.

45 Millionen US-Amerikaner sind nicht krankenversichert, je nach Maßstab leben 10 bis 20 Prozent unter der Armutsgrenze. Die Säuglingssterblichkeit in afro-amerikanische US-Familien ist fast dreimal so hoch wie in weißen (und damit etwas auf dem Niveau des indischen Teilstaats Kerbala).
(Quelle: Human Development Report 2005, herausgegeben vom UNDP)

Der jüngste Armutsbericht der deutschen Bundesregierung zeigt, dass 13 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sind, und noch einmal genauso viele von Armut bedroht sind.

Natürlich lassen sich nicht alle Problem durch Geldausgeben lösen. Aber 1339 Milliarden, das ist frivol, bzw. zum Kotzen. Schweden hat kürzlich seinen Militärhaushalt drastisch gekürzt, um angemessene Sozialausgaben finanzieren zu können. Die Opposition meint, Schweden habe de facto seine Armee abgeschafft. Es geht doch.

Ach ja, eines noch: Warum das hier steht. Über Birma/Burma/Myanmar hieß es doch, wie verwerflich die Trägheit des Regimes angesichts der jüngsten Naturkatastrophe sei. Unterlassene Hilfeleistungen stört uns sehr an Regierungen, die wir ohnehin & wohl mit Recht nicht leiden können. Tja. 1339 Milliarden unterlassene Hilfeleistung. Die Zahl der Menschen, die allein in Afrika jedes Jahr bei besserer medizinischer Versorgung nicht sterben würde, geht in die Millionen. Wir können Myanmar unsere wundervoll weißen Hände zeigen.

Samstag, 17. Mai 2008

Freundlich zu unsympathischen Menschen sein, rät der Hausfreund

Hinter mir stand ein junger, mit allen Attributen der Mode, auch jener Aura der Arroganz, ausgestatter Mann, hatte nur eine Dose Fisch, ich aber einen ganzen Haufen Waren. Er fragte mich, ob ich ihn vorlassen könne. Ich ließ ihn vor, obwohl mir der Laffe (wie ich fand) herzlich unsysmpathisch war, und obwohl ich bezweifelte, dass er mir ein gleiches getan hätte. Das war schön, mir von meiner Abneigung nicht zweierlei Maß einreden zu lassen: Was billig ist, sollte ich auch den Leuten zugestehen, die ich nicht leiden kann.

Zwar, wenn mir im umgekehrten Fall einer, der nur ein wenig so aussähe, diese Gefälligkeit verweigert, wird's mich wurmen und kurz reuen, selber einmal freundlich gewesen zu sein. Das aber wird mir der Zorn ganz falsch diktieren. Denn es ist eine schönere Welt, in der einer, der keine Eile hat, einen vorlässt, der ihn nur ein wenig aufhält. Und außerdem wird es ja ein anderer sein, der mich nicht vorlässt, und nur mein Zorn täte so, als wär's derselbe und Undank der Welten Lohn.

Mehr ist wohl nicht zu erwarten, als dass Menschen trotz vielerlei Abneigungen versuchen, freundlich und gerecht zu sein. Die Abneigungen selbst sind kaum zu vermeiden und schwer zu überwinden. Sie beruhen teils auf schlechter Verallgemeinerung eigener Erfahrung oder auf bloßen Gerüchten. Gegen Belehrungen sind sie meist resistent, auch weil diese so gerne versäumen, auf jene Teile der Abneigung einzugehen, die einigermaßen berechtigt sind, und sich dadurch unglaubwürdig machen. Selbst gegenteilige Erfahrungen vermögen oft wenig zu verändern an einer gut etablierten Abneigung. Man verbucht jene dann unter "Ausnahmen".

Nehmen wir die Abneigungen besser als gegeben, wenn wir über eine gerechte Welt nachdenken, in der jeder auch die rechtlich und darüber hinaus freundlich behandelt, die Gruppen angehören, die er nicht mag. Es soll mir nicht einfallen meine Feinde zu lieben, aber es wäre ein guter Einfall, einerlei Maß für Freunde und Feinde zu verwenden. Fairer Umgang aber hebt womöglich mit der Zeit die Feindschaft auf.

Manche Leute gestehen freimütig ein, dass sie Türken oder Araber nicht leiden können. Andere schreiben alle paar Wochen einen Artikel über Ausländerkriminalität, ohne dass ihnen ein explizit ausländerfeindliches Wort durch die Feder flösse. Diese Artikel suggerieren eine Sonderbehandlung der Ausländer durch die Justiz, sie unterscheiden bei den Straftaten nach denen, die sie begangen haben, sie empfehlen zweierlei Maß und damit praktizierte Feindschaft. Wenn es dazu nicht kommt, wenn gleiches Recht für alle gilt, bleibt die Abneigung ein bloßes Gefühl, dem mit der Ungleichbehandlung der Boden entzogen ist. In der europäischen Union spielt es keine Rolle mehr, ob Franzosen und Deutsche sich leiden können. Die Abneigungen sind keineswegs alle verschwunden, aber sie werden zu Folklore, wenn eben keine Armeen mehr mit ihnen mobilisiert werden. Die Geschichte kennt leider schreckliche Beispiele, wo die Abneigungen die rechtliche Gleichstellung überlebten und schließlich die Rechte wieder über den Haufen warfen, aber es liegt doch eine große Chance darin, die Abneigungen zu bloßen Gefühlen werden zu lassen.


Solange viele Ausländer, die hier schon eine Weile leben oder vor Kriegen geflohen sind, mit ihrer Abschiebung rechnen müssen, ist die Abneigung, die sie erfahren, mit einem Rechtsgefälle verbunden. Wo keine Gleichheit herrscht, lässt sich keine Erfahrung unter Gleichen machen, und daran wieder erneuert sich die Abneigung. Die Rechtsgleichheit auch denen abzuringen, die Ausländer nicht leiden können, darum geht es zunächst, nicht darum, ihnen ein anderes Gefühl einzureden.

Montag, 7. April 2008

fundamentalistische Muslime und tief gläubige Christen (wieder keine Sprachkritik)

(Eine Fortsetzung von "berüchtigt-berühmt")

Die Perspektive, aus der etwas beschrieben oder erzählt wird, ist bereits Partei. Man kann nicht ohne Perspektive erzählen, also müsste man aus vielen Perspektiven erzählen, um unparteiisch zu sein, das aber taugt kaum für die Zeitung. Dieses Problem zeigt sich für den Journalisten und dessen Leser schon bei der Wortwahl. Der im letzten Post zitierte Joris Leuyendijk ("Wie im echten Leben", Berlin 2007) hat über seine Zeit als Nahostkorrespondent geschrieben:

Das Heilige Land war eine neue Welt, und ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein und immer unparteiisch zu bleiben [...] -Aber ging das überhaupt, unparteiisch sein? Anfangs war ich blauäugig, denn wie hieß es so schön beim amerikanischen Nachrichtensender Fox News "We report, you decide"? [...] War das nicht der erste Grundsatz des Qualitätsjournalismus: die Fakten wiedergeben, so wie sie sind, Meinungen und Gegenmeinungen einholen? So war eine objektive Darstellung von Konflikten möglich. Dachte ich.

Doch schon bald beschlichen mich Zweifel, die in den darauffolgenden Jahren noch größer werden sollten. Das fing schon bei der Wortwahl an. In der arabischen Welt [Anm.: in der Leuyendijk schon einige Jahre als Korrespondent tätig war] hatte ich es bereits mit einer parteiischen Sprache zu tun bekommen. Muslime, die ihre politischen Überzeugungen mit ihrem Glauben begründeten, gelten als "Fundamentalisten", ein US-amerikanischer Präsident, der mit seiner Religion genauso umgeht, heißt in den westlichen Medien "evangelikal" oder "tief gläubig". Wenn dieser Amerikaner die Wahlen gewinnt, redet keiner davon, dass das Christentum "sich ausbreitet", aber wenn Muslime, die ihre politischen Ansichten aus dem Koran ableiten, sich durchsetzen, schreibt im Westen gleich jeder, der Islam sei "auf dem Vormarsch". Gerät ein arabischer Staatschef in einen Konflikt mit einer westlichen Regierung, gilt er als "antiwestlich". Westliche Regierungen werden nie als "antiarabisch" verschrien.

In Kairo hatte ich etliche Beispiele dafür gesammelt, im Heiligen Land wurde die Liste immer länger: Anhänger der Hamas sind "antiisraelisch", jüdische Siedler nicht "antipalästinensisch". Palästinenser, die gewaltsam gegen israelische Bürger vorgehen, sind "Terroristen", Israelis, die gewaltsam gegeb Palästinenser vorgehen, "Falken" oder "Hardliner". Israelische Politiker, die eine friedliche Lösung anstreben, sind "Tauben", ihre israelischen Pendants "gemäßigt" - womit impliziert wird, dass alle Palästinenser Fanatiker seien. Mit welchen unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird, erkennt man am besten, wenn man den Spieß umdreht: "Mit seinen antiislamischen Äußerungen hat der gemäßigte Jude Schimon Peres die palästinensischen Tauben aufgeschreckt."

So war man schon parteiisch, indem man vergleichbare Dinge je nach Lager mit verschiedenen
Etiketten versah. Im Heiligen Land blieb es aber nicht bei diesem "asymmetrischen Wortgebrauch".
In arabischen Diktaturen gibt es für alles eine eindeutige Bezeichnung, was der Übersichtlichkeit zugute kommt. Aber Israel heißt auch die "zionistische Entität" und "besetztes Palästina". Waren es die "besetzten", die "umstrittenen" oder die "befreiten Gebiete", oder doch Westjordanland oder Judäa und Samaria oder die Palästinensergebiete? Lagen dort jüdische Dörfer, jüdische Siedlungen oder illegale jüdische Siedlungen? Sollte ich von Juden, Zionisten oder Israelis sprechen? Nicht alle Zionisten sind jüdisch, nicht alle Juden israelisch, und nicht alle Israelis jüdisch. Waren es Araber, Palästinenser oder Muslime? Nicht alle Araber sind palästinensische, nicht alle Palästinenser sind muslimisch, und nicht alle Muslime sind palästinensisch.

Das war im Heiligen Land - um lieber diesen Begriff zu verwenden - das erste Problem, wenn man unparteiisch war: Es gabe keine unparteiischen Wörter. Und es war natürlich nicht möglich, alle Begriffe nebeneinanderzustellen: "Heute sind in Ramallah im besetzten beziehungsweise umstrittenen beziehungsweise befreiten Westjordanland beziehungsweise in Samaria zwei Palästinenser beziehungsweise Muslime beziehungsweise arabische Neuankömmlinge beziehungsweise Terroristen bezehungsweise Freiheitskämpfer von israelischen Soldaten beziehungsweise der Israelischen Verteidigungsarmee beziehungsweise der zionistischen Besatzungstruppen getötet beziehungsweise massakriert worden..."


Wie immer, wenn man über derartiges liest, kann man gelangweilt abwinken, alles bekannt. War man sich aber wirklich der eigenen Reaktion auf diese beiden Sätze bewusst?

1. "Mit seinen antiislamischen Äußerungen hat der gemäßigte Jude Schimon Peres die palästinensischen Tauben aufgeschreckt."

2. "Mit seinen antiisraelischen Äußerungen hat der gemäßigte Palästinenser N. N. die israelischen Tauben aufgeschreckt."


An den zweiten Satz haben wir uns gewöhnt, den ersten möchte man als westlicher Leser so nicht stehen lassen, oder? Eine bekannte Parteilichkeit ist längst nicht überwunden. Was sich über lange Zeit eingeschliefen hat, kann auch nur in langer Zeit und mit vielleicht langweiligen Wiederholungen verändert werden, alas.

Für Joris Luyendijk war die Berichterstattung über Israel in gewissem Sinn komplementär zu seiner vorherigen Tätigkeit in Kairo. In den arabischen Diktaturen war einfach nicht herauszukriegen, was die Leute dachten. Die mageren Regierungsstatements bildeten die Nachrichten. In Israel, bzw. den Palästinensergebieten ließen sich dagegen viele von größeren oder kleineren Gruppen geteilte Positionen ermitteln. Ein völliger Wirrwarr war das Ergebnis, der nur dadurch nachrichtenfähig wurde, dass Redaktionen und Journalisten sich darauf beschränkten, nur über zwei Perspektiven zu berichten, die der israelischen Regierung und die der palästinensischen Autonomiebehörde. Diese Auswahl schien im Hinblick auf einen bipolar wahrgenommenen Konflikt unparteiisch, in Wahrheit gab und gibt es aber viel mehr Parteien auf beiden "Seiten". Kann man von einer vereinfachten Darstellung sprechen oder einer unkenntlichen Karikatur? Gruppen auszublenden, von denen man anschließend behaupten kann, sie hätten "den Friedensprozess sabotiert", ist Teil der Sabotage an einem denkbaren Friedensprozess. Frieden ist allemal das Ergebnis einer Vermittlung gegensätzlicher Positionen. Wer nicht an der Vermittlung Teil hat, brütet über seinen Positionen.

Freitag, 4. April 2008

berüchtigt-berühmt (keine Sprachkritik)

"Mitglieder der berüchtigten Mahdi-Miliz..." stand vor einigen Tagen im Berliner Tagesspiegel. Es wurde nicht gesagt, wofür sie denn berüchtigt ist. Deutlich wurde aber, wem sie als berüchtigt gilt.
Versuchsweise angefertigte ähnliche Bildungen:

Mitglieder der berüchtigten Regierungstruppen

Mitglieder der berüchtigten amerikanischen Streitkräfte

Artikel berüchtigter Journalisten


Anschließend kann man - ebenfalls versuchsweise - in allen Fällen "berüchtigt" durch "berühmt" ersetzen. Und gewiss ist die Mahdi-Miliz bei manchen berühmt für ihre Erfolge. Man erfährt durch diese Vokabeln etwas über das Verhältnis der Schreibenden zu ihrem Gegenstand, wenig oder nichts über diesen. "Berüchtigt" sind Feinde, berühmt "Freunde".

Solchen groben stilistischen Unsitten können Journalisten natürlich aus dem Weg gehen, begegnen dem Problem aber sogleich wieder. Wie nennen wir denn die Angehörigen der Mahdi-Miliz? Kämpfer? Widerstandskämpfer? Islamisten? Terroristen? Schiiten? Die Bezeichnungen sind eben nicht in erster Linie informativ, sondern wertend, und irgendwie muss man sie ja nennen. Es ist leider auch keine Lösung, alle möglichen Bezeichnungen hintereinander zu reihen. Und welche Ereignisse werden berichtet? Die, die wir kennen, vielleicht eine einseitige Auswahl, die manche der Akteure in ein schlechteres Licht stellt als andere. Journalisten haben oft kaum eine Wahl, als sich einer bereits etablierten Weise der Berichterstattung anzuschließen. Weder sie noch die Redaktionen riskieren damit viel. Wenn sie irren, waren es wenigstens die Irrtümer vieler. Wer an einer etablierten Beurteilung zweifelt, ist ja noch längst nicht imstande, eine andere Beurteilung gut zu begründen.

Das Problem ist, obwohl ich es an einem Wort festgemacht habe, gerade kein Sprach-, sondern ein Wahrnehmungsproblem. Nach allem, was wir so mitkriegen, hätten die meisten "berüchtigt" auch selbst ergänzen können, wenn da nur "die Mahdi-Armee" gestanden hätte. Deswegen konnte sich der Autor auch sparen, dieses Beiwort zu erklären.

Joris Luyendijk hat in seinem Buch "Wie im echten Leben" (original: "Het zijn net mensen") viele Mechanismen beschrieben, die selbst einen Journalisten, der guten Willens ist, dazu bringen, letztlich nur etablierte Bilder und Wertungen zu reproduzieren und eben nicht, wie er sich's vorher erträumt haben mag, den Dingen auf den Grund zu gehen. Eine Redaktion erfährt durch eine Nachrichtenagentur von einem Ereignis und schickt einen Reporter dorthin, der dann vorbereitete Informationspakete zu diesem Ereignis bekommt. Vielleicht spricht er sogar die Landessprache und kann noch andere Leute, die nicht direkt mit der Verbreitung besagter Information befasst sind, befragen, ohne doch jemals zu "repräsentativem" Material zu kommen.
Was nicht von den Agenturen gemeldet wird, schafft es nicht zur Nachricht. Die Aktionen der amerikanischen Armee im Irak sind großenteils geheim, die Kollateralschäden, für die diese Armee "berüchtigt" sein könnte, werden selten Gegenstand einer Nachricht. Anders die Kämpfe seitens
der Mahdi-Miliz, die folglich für "uns" tatsächlich berüchtigt ist.

In vielen Situationen wird, wie Luyendijk schildert, der Journalist unfreiwillig zur Sprechpuppe. Er sitzt "vor Ort" im Hotel, wartet und darf bei den Nachrichten diese oft merkwürdig inhaltsleeren Zeilen in die Kamera aufsagen. Ein Beispiel aus dem Buch: Das Fernsehen fragt seinen Mann in Amman, was man dort Neues über den amerikanischen Angriff auf den Irak hört. Nun, nichts anderes als irgendwo sonst, wo man Zugang zu den großen Medien hat, der Irak ist ja weit genug weg. Also spricht der Mann über die Stimmung in Amman, für's arabische Lokalkolorit reicht das. Andere Journalisten haben ein Visum für den Irak bekommen und sitzten in Baghdad im Hotel. Dort bekommen sie immerhin mit, wie die Bomben explodieren, wir erinnern uns.

Der Journalist weiß über die großen Nachrichten oft so wenig wie die, für die er schreibt.
Andererseits könnte er vieles erzählen, was die Leser nicht wissen, er könnte das normale Leben der Leute beschreiben. Das Alltägliche ist natürlich keine Nachricht wert, wohl aber brennende Fahnen, Selbstmordattentate, Raketenangriffe. Wer das eine Weile verfolgt, denkt sich, wenn er über den Orient liest, den "berüchigten Orient", das lässt sich gar nicht verhindern. Bei uns spielen Kinder, reden Leute bald Sinnvolles, bald Schwachsinn in den Cafes, regen sich über die Zeitungen auf und backen Kuchen. Im Orient dagegen wird geschossen.

Man kann die durch die Nachrichten verzerrt wiedergegebene Wirklichkeit nicht einfach "entzerren". Es ist daher ratsam, davon auszugehen, dass man nicht viel versteht von der Welt. Solange man sich für diese interessiert, solange aus dem allgemeinen Nichtwissen Gründe für Kriege geschmiedet werden, muss man sich aber immer wieder fragen, was denn richtig ist, und muss immer wieder über die "berüchtigte Mahdi-Miliz" stolpern. Damit ist allerdings wenig getan: kein Grund, sich etwas aufs kritische Lesen einzubilden, wenn man nicht auf jeden Mist reinfällt. Es bleibt genug Mist, den man unbemerkt verinnerlicht.

Dienstag, 1. April 2008

Skepsis und Vertrauen

Fürs vernünftige Handeln ist man auf Prognosen der möglichen Folgen angewiesen. Im Kleinen reicht dafür meist unser Erfahrungswissen aus. Wir kennen uns mit vielerlei Dingen, die wir schon öfter getan haben, aus und verhalten uns entsprechend. Mal bewährt sich das, mal müssen wir notgedrungen dazulernen. Dieses Erfahrungswissen hat nicht die Gestalt einer Theorie, wir müssen nicht einmal wissen, dass wir es haben. Wir haben schon verschiedentlich die Tomaten zu früh oder zu spät ins Freiland gesetzt und verhalten uns entsprechend. Im Großen, in der Politik, gibt es jedoch wenig verlässliches Erfahrungswissen. Keiner überblickt genug, um Erfahrung zu haben, was eine gewisse Steuer bewirkt, oder wie sich die Energiepolitik auf das Klima auswirkt.

Es ist unangenehm, sich bei seinen Entscheidungen auf die Aussagen von Theorien stützen zu müssen, die man nicht versteht. Das ist aber die Grundsituation politischer Entscheidungen. Sich in Generalskepsis gegen Theorien auf "seinen Bauch" zu verlassen, ist ebenso töricht wie blauäugiges Vertrauen in alles, was Theorie heißt. Es ist einerseits angemessen, "Fachleuten" zu vertrauen, wo die eigene Urteilskraft ein Ende findet. Andererseits fallen auch die Aussagen von Fachleuten zuweilen in den Bereich der eigenen Erfahrung oder des eigenen Wissens. Manchmal weiß man, dass ein Fachmann irrt, obwohl man keine seiner Theorien versteht. In anderen Fällen bietet die Person des Fachmanns Grund zum Misstrauen: Wenn er im Sold einer Interessengruppe steht, oder sich früher schon nachweislich geirrt hat. Viele Theorien legen durchaus auch Rechenschaft ab von den eigenen Grenzen, von den nicht berücksichtigten Faktoren, von den Unsicherheiten selbst im Rahmen der Theorie.

Der Bericht des IPCC (International Pannel for Climate Change) ist in dieser Hinsicht mustergültig, die gemachten Prognosen werden im Hinblick auf ihren theorieinternen Gewissheitsgrad markiert. Der ist in vielen Fällen hoch, da die wissenschaftliche Behandlung vieler Probleme nach langer Zeit einem Konsens zustrebt, der etwas ganz anderes als die Despotie willkürlicher Autorität ist. In anderen Fällen gibt es erhebliche Abweichungen verschiedener Modelle, entsprechend unsicher sind die Voraussagen. Die Theorien selbst sind zwar nur Spezialisten verständlich, aber auch ein Laie kann durchaus nachlesen, welche Größen sich messen, welche Modelle sich im Labor überprüfen lassen. Die Modellierung des Treibhauseffekts beruht hauptsächlich auf der Absorption von Strahlung durch diverse Gase, die sich sehr genau im Labor nachmessen lässt. Wenn nun einer, der die Voraussagen des IPCC bezweifeln möchten, den Fehler ausgerechnet an dieser Stelle sucht, hat das wenig von "gesunder Skepsis", viel mehr aber von Halsstarrigkeit, die einen auch behaupten lassen kann, die Erde sei eine vor sechstausendundetlichen Jahren erschaffene Scheibe. Andererseits gibt es viele Unwägbarbarkeiten in den Modellen, und die kann man, auch ohne ein Experte zu sein, benennen; sie werden auch von den Forschern ganz offen diskutiert. Etwas zu bezweifeln hat nicht bloß deshalb, weil es kritisch erscheint, schon etwas für sich. Ein guter, nicht dogmatischer Zweifel, ist fähig, sich selbst zu bezweifeln und verschiedene Grade von Gewissheit zu unterscheiden. Der Zweifel an etwas in vielen unabhängigen Experimenten von verschiedenen Leuten Nachgewiesenem ist weniger vernünftig als der Zweifel an einer Einzeldarstellung, der Zweifel an einem Zeitungsartikel vernünftiger als der Zweifel an einem wissenschaftlichen Artikel, der ein Überprüfungsverfahren hinter sich hat. Die Ergebnisse eines unabhängigen Institutes verdienen mehr Vertrauen als die eines von einer Interessengruppe bezahlten und abhängigen, und so weiter.


Nach all diesen Kriterien sind die Aussagen der Klimaforscher im Großen und Ganzen verlässlicher als die Aussagen der Makroökonomen. Die Prognoseerfolge der Makroökonomen sind nämlich bescheidener, die konkurrierenden Modelle weiter voneinander entfernt. Man weiß auch weniger von menschlichen Entscheidungen als von Strahlungsgleichgewichten.

Nach denselben Kriterien sind die Aussagen der Klimaforscher auch glaubwürdiger als die der amerikanischen Regierung, die Invasion des Irak diene dessen Demokratisierung.

Es ist demnach keine ideologische Aussage, zu behaupten, dass A und B ideologischere, theoretisch weniger abgesicherte Aussagen sind als C:

A: "Mindestlöhne kosten Arbeitsplätze"

B: "Militärische Invasionen sind geeignet, Länder zu demokratisieren."

C: "Es gibt eine durch menschliche Emissionen bewirkte Erwärmung der Erde."


Wenn nun Autoren A oder B behaupten und sich gegen C mit zum Teil nachweislich falschen Argumenten als Skeptiker betätigen, dann handelt es sich womöglich gar nicht um Skeptiker, sondern um Ideologen? Ein Beispiel:

Zum Klimawandel haben sich Dirk Maxeiner und Michael Miersch wiederholt und wie sie meinen "skeptisch" geäußert. Wer sich den Briefwechsel zwischen Douglas Maraun und Maxeiner und Miersch durchliest, wird feststellen, dass die letzteren entweder gar nicht verstanden haben, was Maraun schreibt, oder nicht an argumentativem Umgang mit ihren eigenen Argumenten interessiert sind. Zwar ist Maraun mitunter beckmesserisch und macht Fehler, die sie ihm ebenso beckmesserisch unter die Nase reiben, aber auf die gültigen Einwände wird nicht eingegangen. Dieses Verhalten wäre dann nicht ganz zu verwerfen, wenn die beiden am Ende richtige pyrrhonische Skeptiker wären, die zwar die anderen Überzeugungen aufhebeln wollen, dafür aber selbst keine neuen dogmatischen Behauptungen aufstellen. Alles, was sie sagen und schreiben, wäre dann nur Werkzeug oder Redefigur, die durch Überwindung der Dogmen den Weg zur Urteilsenthaltung freimachen...

Den beiden fällt das Urteilen durchaus nicht schwer. Über die Invasion der Irak schreibt Miersch:


Dummerweise geben aber die Amis keine Ruhe. Diese Störenfriede sind seit dem 11. September 2001 der Meinung, dass die Unterdrückung des Menschen auch in islamischen Ländern beseitigt werden sollte. "Hybris!", schimpfen die, die ihre eigenen Freiheitsrechte für eine Selbstverständlichkeit halten. Aber war nicht einst der Kampf gegen Unterdrücker und Menschenschinder links? Hieß links sein nicht fortschrittsoptimistisch sein, Lust auf Veränderung haben und an ein besseres morgen glauben? Kann sich noch einer daran erinnern? Ach was soll's, dann bin ich eben rechts - wenn die neue linke Definitionsmacht es so will. Neue politische Freunde habe ich auch schon. Die wohnen in Washington, sind fortschrittsoptimistisch und wollen die Welt verändern. Sie sind der Alptraum aller Despoten - ganz wie einst die Linke.


Der Mann ist also gewiss kein Skeptiker. Er ist Skeptiker, wo es seiner Agenda nützt, und behauptet sonst fröhlich drauf los: zweierlei Maß, das wenig Vertrauen gibt, es lasse sich etwas lernen aus dem, was sie schreiben. "Net amal ignorieren" wäre da natürlich das Beste. Dafür sind sie aber zu präsent in den Medien und tausendfach verlinkt von ähnlich einseitig pseudo-skeptischen Websites.

Die pyrrhonischen Skeptiker muss man übrigens in Schutz nehmen vor solchen falschen Skeptikern. Es ist nämlich angesichts der Geschichte der menschlichen Irrtümer achtbar, alles zu bezweifeln und sich wirklich der Urteile zu enthalten, um nicht unter anderem auch schädlichen Stuss zu glauben. Nur bleibt die antike Frage an die Skeptiker, wie sie denn nun handeln wollen, auch für deren denkbare moderne Nachfahren ein Problem: Kaufen wir uns ein viel oder wenig Treibstoff verbrauchendes Auto, wenn Unrecht erleiden besser ist als Unrecht tun? Der Skeptiker kann sich zwar immer sagen, er wisse nicht, was Unrecht sei. Was kauft er denn nun?
Oder liegt er nur so da, als denkende Pflanze?

Montag, 24. März 2008

Wer hat das Recht auf Waffen, die keiner haben sollte?

Nicolas Sarkozy hat die gaullistische Doktrin der nuklearen Verteidigung erneuert. Ein neues Atom-Unterseeboot läuft demnächst vom Stapel. Frankreich hat zwar nur noch halb so viele Sprengköpfe wie zur Zeit des kalten Krieges, beansprucht aber weiter das Recht, jedes Land der Erde mit Kernwaffen erreichen zu können. Andererseits ist Sarkozy an der Seite Bushs in der vordersten Front derer, die den Iran unter Druck setzen, die Anreicherung von Uran aufzugeben, obwohl der Iran damit keinen Vertrag bricht und obwohl der jüngste Bericht der amerikanischen Geheimdienste davon ausgeht, dass bereits 2003 die Arbeit am Atomwaffenprogramm aufgegeben wurde. Der Iran beteuert, er wolle nur zivile Atomkraft, eine für ein Schwellenland gar nicht so abwegige Idee, die dem Iran aber die wenigsten abnehmen, weil die meisten an Stelle des Irans versuchen würden, sich eine Lebensversicherung in Gestalt von Atomwaffen zu verschaffen, da weder das Völkerrecht noch die anderen Staaten denjenigen zu schützen vermögen, der ein Feind der USA ist. Man hält die Regierung des Iran in Hinsicht der Abschreckungslogik für einen rationalen Akteur, traut aber andererseits dem Iran, hätte er denn ein paar Atomwaffen, den selbstzerstörerischen Irrsinn zu, sie zum Angriff zu verwenden. Für Frankreich indessen ist, anders als für den Iran, kein Feind in Sicht, der es gerne erobern oder einen "Regime-Change" herbeiführen würde. Es ist also eigentlich irrational, Milliarden für die "Force de Frappe" auszugeben. Selbstverständlich hält aber jeder die französische Regierung für so verlässlich, die Dinger niemals abzuschießen.
Die vereinigten Staaten sehen derweil im neuesten Update ihrer Militär-Doktrin einen präventiven Einsatz von Kernwaffen in einer Reihe von Fällen vor, etwa wenn mit dem unmittelbaren Gebrauch von Massenvernichtungswaffen durch eine andere Macht zu rechnen sei. (Chairman of the Joint Chiefs of Staff (CJCS), “JP 3-12, Doctrine for Joint Nuclear Operations”) Hoffen wir also, dass die USA sich über die Waffen im Irak nicht geirrt, sondern tatsächlich gelogen haben, denn nur dann können wir weiter davon ausgehen, auch die amerikanische Regierung sei so verlässlich, die Dinger niemals abzuschießen.


Es lässt sich leicht verstehen, dass die Regierung des Irans nicht einsieht, wie man ihr etwas Erlaubtes verbieten will, weil man ihr etwas Verbotenes unterstellt, das man selber tut. Sie müsste nämlich unterschreiben, als ein Haufen unberechenbarer Irrer und Regierung zweiter Klasse zu gelten, und das mag sie nicht. Nun hat sich Ahmadinejad vor "dem Westen" um Kopf und Kragen geredet, indem er sich die Nicht-Anerkennung Israels aufs Panier schrieb und die Holocaust-Negationisten zu einem Kongress lud. Da lag es dann nahe, ihn gleich zum Nazi zu stempeln, dem man auch einen zur sicheren Selbstzerstörung führenden Angriffskrieg mit Atomwaffen zutrauen kann. -- Die Reden und Briefe Ahmadinejads an Bush und Merkel kann man übrigens auf seiner Homepage nachlesen und sich selbst ein Urteil bilden, was man einem zutrauen kann, der so etwas schreibt. Meines Erachtens nicht sehr viel, weder im Guten noch im Bösen. Die Kommentatoren, die Ahmedinejad oder "die Mullahs" zweifelsfrei als unberechenbare Fanatiker erkannt haben wollen, müssen noch etliche Annahmen hineingesteckt haben, darunter vielleicht auch solche, die sie ungern vor sich selbst zugeben würden: Dass man denen da unten im Süden und im Osten, diesen Moslems mit Handtüchern auf dem Kopf, ohnehin alles zutrauen kann, anders als "uns", den durch ihre unblutige und humane Geschichte berühmten Staaten der westlichen Welt. Und diese Annahme wäre in ihrem Kern rassistisch. Dass Rassisten geeignet wären, den Antisemitismus zu bekämpfen, will mir übrigens nicht einleuchten.

Montag, 17. März 2008

Irak-Veteranen

Die Organisation Iraq Veterans Against the War veranstaltete am vergangenen Wochenende öffentliche Vorträge von Irak-Veteranen in Washington, die über www.ivaw.org live verfolgt werden konnten. Die Vortragenden, die im Irak oder in Afghanistan eingesetzt wurden, beschreiben, wie sich das Verhalten der Soldaten in den ersten Monaten des Dienstes verändert. Anfangs halten sie sich noch an die Rules Of Engagement, die bei der Begegnung mit möglichen Angreifern eine langsame Eskalation vorschreiben, etwa für ein sich näherndes Fahrzeug: Warnende Handzeichen, Gewehr in Anschlag nehmen, Warnschuss, Schuss auf die Reifen, Schuss auf den Fahrer. Angst und Nervosität auf der einen Seite, Vergeltungsdrang für verlorene Kameraden auf der anderen verkürzen diese Kette derart, dass es leicht einen unbewaffneten Zivilisten erwischen kann. Die Soldaten beschreiben weiter, dass die Antwort auf einen Schuss häufig "indiscriminate fire" aus allen Rohren ist, auch dabei kommt es auf getötete Zivilisten nicht mehr an. Andere Erfahrungen bestätigen Umfragen, denen zufolge die westlichen Armeen merhheitlich als Besatzer, nicht als Befreier gesehen wurden.

Die Rückkehrer haben schwer an ihren Erinnerungen zu tragen, manche stellen es so dar, dass sie Böses vollbracht haben, und doch in den entsprechenden Situationen nicht anders konnten. Manche dachten, sie kämen als Befreier, weil sie der Regierung der vereinigten Staaten geglaubt hatten. Diese Soldaten klagen die Regierung an, einen falschen Krieg begonnen zu haben und jetzt die Armee in einer unmöglichen Situation zu lassen, in der sie nur Unrecht begehen kann, das die daran Beteiligten fürs Leben verwüstet.

Das in der politischen Rechtfertigung übliche Argument, es handle sich um "Kollateralschäden" hilft dem einzelnen Soldaten wenig, wenn er Unschuldige getötet hat. In diesem Krieg wird auf allen Seiten geschossen, alle Seiten begehen, indem sie zivile Tote in Kauf nehmen, Kriegsverbrechen. Mit zweierlei Maß nennt die US-Politik die einen Verbrechen Verbrechen, die anderen bloß nebenbei angerichtet Schäden, sieht darüber hinweg, dass die Zahl der irakischen Toten, darunter viele, viele Zivilisten, in die Hunderttausende geht, während bisher 3988 (am 15. 3. 2008) Angehörige der US-Besatzung gestorben sind, davon die meisten als Soldaten im Kampf.

Diese Zeugnisse, deren Aufzeichnungen wohl auch demnächst auf www.ivaw.org einsehbar sein werden, sind eine wichtige Ergänzung der einseitigen Berichterstattung durch die Medien, die ja allenfalls
"embedded" oder gar nicht vor Ort sind, und die die Verbrechen, die Iraker an Irakern begehen, wiederkäuen ohne die Verbrechen, die die Besatzung begeht, zu kennen.

Sonntag, 16. März 2008

Kausalität 1

Da immer wieder von Verantwortung die Rede sein muss, werden wir uns über den Begriff der Folge klar werden müssen oder, anders gesagt, über Kausalität.

Irgendwelche Kämpfer im Irak verstecken sich in einem Haus, in den Nachbarhäusern wohnen Zivilisten. Die amerikanischen Truppen greifen an und sprengen beide in die Luft. Ursachen sind ohne die Umstände, unter denen sie die Folge nach sich ziehen, unvollständig charakterisiert. Wenn wir uns bei diesem Problem nicht weiter aufhalten und von einzelnen Ursachen reden und Ketten von Ursachen, wird es kaum einfacher. Zwei Analysen des obigen in Form von Kausalketten:

1) Kämpfer verstecken sich => Angriff der US Army => Tod der Zivilisten
2) Angriff der US Army => Tod der Zivilisten

Beide, Iraker und Amerikaner, nehmen wir an, hätten auch anders gekonnt. Demnach wären sie für die Folgen ihrer Handlungen verantwortlich. In der ersten Analyse sieht es jedoch so aus, als hätte die US Army eben doch nicht anders gekonnt.

Eine beliebte Figur in dem Spiel, dessen Ziel darin besteht, den anderen die Verantwortung für alles Schlimme zuzuschustern ("Milosevic ist verantwortlich für alles, was geschieht.") ist die Verlängerung der Kausalketten. Der andere hat angefangen und ist insbesondere auch für die Folgen meiner Taten verantwortlich, die ja eine Reaktion auf die seinen sind. Man beliebt, die Reaktion als unvermeidlich, gewissermaßen mechanisch zu beschreiben, gegeben die eigenen guten Absichten.

Die Guten müssen in dieser Situation schießen, um das Gute zu bewirken, auch wenn es unvermeidlich zu "Kollateralschäden" kommt. Den Bösen werden keine Gründe zugestanden, d. h. man setzt sie als böse. Im obigen Beispiel lassen sich auch viel längere Kausalketten angeben, bis zur Invasion durch die USA, oder bis zu den Verbrechen Saddam Husseins, oder bis zur Aufrüstung des Irak als Bollwerk gegen den Iran durch die USA und andere Staaten, darunter Deutschland.

Die Verlängerung der Kausalkette über ein Verbrechen der Gegenseite hinaus zu verweigern heißt mit zweierlei Maß messen. Es ist nämlich prinzipiell kein Ende mit solcherlei Ketten, und auch wenn jeder nur eine endliche Beschreibung geben kann, so hat doch niemand einen Grund, ausgerechnet bei dieser Beschreibung stehenzubleiben. Deswegen gebraucht die Ungerechtigkeit ein "moralisches Argument": Wer die teuflischen Verbrechen der anderen als Folgen ansehe, entschuldige diese, und das sei böse.

Nun ist eine Erklärung zwar keine Entschuldigung, doch ist es mit diesem Hinweis nicht getan. Niemand kann leugnen, dass eine Erklärung ein entschuldigendes Moment hat, wenigstens in der Form des mildernden Umstands, und so bleibt der Vorwurf der Entschuldigung an jedem hängen, der Geschehnisse, die als sehr böse beurteilt werden, erklärt.

Um das "moralische Argument" auszuhebeln muss man den Mut besitzen, sich zur dieser Art von Entschuldigung auch noch des niederträchtigsten Verbrechens zu bekennen. Ja, auch die übelsten Verbrechen geschehen unter Bedingungen, die die Verbrecher nicht geschaffen haben. Ja, von vielen Verbrechen, die wir verdammen, sollten wir uns vorstellen können, sie selbst begehen zu können, gegeben solche Umstände. Nein, 9/11
ist kein absoluter Anfang. Verbrechen werden übrigens nicht weniger gemein, wenn man sich in den Täter versetzen kann, gemein sind sie nämlich aus der Perspektive der Opfer. In Wahrheit ist das "moralische Argument" nur die Forderung, an einem bestimmt Punkt die Vernunft zum Stehen zu bringen.

Wer in Notwehr gegen einen, der ihn bedroht, hundert erschießt, hat zwar in Notwehr gehandelt, aber doch hundert erschossen.

Reitkamel-Schlachtkamel

"Möchten Sie ein Reitkamel oder ein Schlachtkamel?" Tiere, die wir nicht zu essen pflegen, zu essen, scheint uns seltsam oder gar widerwärtig, während die von uns gegessenen Tiere eigens dazu gemacht scheinen. Bis vor kurzem schien "uns" die Bestrafung von Homosexualität naturgemäß, jetzt sind wir darüber hinaus und verwenden dies als Argument für die Rückständigkeit und Minderwertigkeit orientalischer Gesellschaften und Rechtsvorstellungen. Bei uns ist Inzest strafbar, wie jetzt wieder ein armes Geschwisterpaar feststellen musste, das weiter nichts getan hat, als sich auf nicht-geschwisterliche Art zu lieben. Das könnte beispielsweise schon aus französischer Sicht ein Beleg für die Rückständigkeit und Minderwertigkeit der deutschen Gesellschaft und Rechtsvorstellungen sein...

Wer aus der Verschiedenheit unserer zum größten Teil nicht gut begründeten Vorstellungen nicht den ganz falschen Schluss ziehen will, Kulturen sollten mit unkritischem Relativismus angesehen werden, wird vom Relativismus doch soviel lernen können, dass Hochmut fehl am Platze ist.

Unschuldsvermutung

"Einen absolut geschützten Rückzugsraum (das hat auch in Karlsruhe noch nicht jeder begriffen) für mutmaßliche Täter darf es dann nicht geben. Auf dieser Grundlage kann Deutschland mit Amerika zusammenarbeiten. Der Maßstab ist das Grundgesetz."

schreibt Reinhard Müller in der FAZ vom 12. März 2008. Da ein "mutmaßlicher", also nicht verurteilter Täter vor dem Gesetz noch als unschuldig gilt, hat er selbstverständlich ein Recht auf einen absolut geschützten Rückzugsraum, es sei denn niemand hätte dieses Recht. Es ging Müller um Terrorismus, scilicet "islamistischen". Für so einen kann man die Unschuldsvermutung, eine zentrale Idee des Rechtsstaats, schon einmal aufweichen, ohne dass der anständige Bürger davon betroffen wäre. Die Zeit ist anscheinend reif für zweierlei Maß in rechtlichen Fragen, die der Idee des Rechts selbst, nämlich der Gleichheit vor dem Gesetz, zuwiderlaufen. Es sei in diesem Zusammenhang erinnert an Schäubles Äußerung "Gefahrenabwehr kenne keine Unschuldsvermutung" und seine Bezugnahme auf ein "Feindstrafrecht", wie es etwa der Jurist Günther Jacobs vertritt. Die Entscheidung darüber, ob jemand auf normale Rechtsprozeduren Anspruch hat oder einem Ausnahmerecht unterworfen wird, fiele dann aber außerhalb des Rechts, wäre letztendlich politisch. Schäuble hat sich durch solche Äußerungen keineswegs aus der Debatte katapultiert, ebensowenig wie Reinhard Müller. Merkwürdig zurückhaltend das Presseecho, wenn man bedenkt, dass fast täglich die Beeinflussung der russischen Justiz durch die Politik beklagt wird.
Und nochmal: zweierlei Maß.