Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 24. März 2008

Wer hat das Recht auf Waffen, die keiner haben sollte?

Nicolas Sarkozy hat die gaullistische Doktrin der nuklearen Verteidigung erneuert. Ein neues Atom-Unterseeboot läuft demnächst vom Stapel. Frankreich hat zwar nur noch halb so viele Sprengköpfe wie zur Zeit des kalten Krieges, beansprucht aber weiter das Recht, jedes Land der Erde mit Kernwaffen erreichen zu können. Andererseits ist Sarkozy an der Seite Bushs in der vordersten Front derer, die den Iran unter Druck setzen, die Anreicherung von Uran aufzugeben, obwohl der Iran damit keinen Vertrag bricht und obwohl der jüngste Bericht der amerikanischen Geheimdienste davon ausgeht, dass bereits 2003 die Arbeit am Atomwaffenprogramm aufgegeben wurde. Der Iran beteuert, er wolle nur zivile Atomkraft, eine für ein Schwellenland gar nicht so abwegige Idee, die dem Iran aber die wenigsten abnehmen, weil die meisten an Stelle des Irans versuchen würden, sich eine Lebensversicherung in Gestalt von Atomwaffen zu verschaffen, da weder das Völkerrecht noch die anderen Staaten denjenigen zu schützen vermögen, der ein Feind der USA ist. Man hält die Regierung des Iran in Hinsicht der Abschreckungslogik für einen rationalen Akteur, traut aber andererseits dem Iran, hätte er denn ein paar Atomwaffen, den selbstzerstörerischen Irrsinn zu, sie zum Angriff zu verwenden. Für Frankreich indessen ist, anders als für den Iran, kein Feind in Sicht, der es gerne erobern oder einen "Regime-Change" herbeiführen würde. Es ist also eigentlich irrational, Milliarden für die "Force de Frappe" auszugeben. Selbstverständlich hält aber jeder die französische Regierung für so verlässlich, die Dinger niemals abzuschießen.
Die vereinigten Staaten sehen derweil im neuesten Update ihrer Militär-Doktrin einen präventiven Einsatz von Kernwaffen in einer Reihe von Fällen vor, etwa wenn mit dem unmittelbaren Gebrauch von Massenvernichtungswaffen durch eine andere Macht zu rechnen sei. (Chairman of the Joint Chiefs of Staff (CJCS), “JP 3-12, Doctrine for Joint Nuclear Operations”) Hoffen wir also, dass die USA sich über die Waffen im Irak nicht geirrt, sondern tatsächlich gelogen haben, denn nur dann können wir weiter davon ausgehen, auch die amerikanische Regierung sei so verlässlich, die Dinger niemals abzuschießen.


Es lässt sich leicht verstehen, dass die Regierung des Irans nicht einsieht, wie man ihr etwas Erlaubtes verbieten will, weil man ihr etwas Verbotenes unterstellt, das man selber tut. Sie müsste nämlich unterschreiben, als ein Haufen unberechenbarer Irrer und Regierung zweiter Klasse zu gelten, und das mag sie nicht. Nun hat sich Ahmadinejad vor "dem Westen" um Kopf und Kragen geredet, indem er sich die Nicht-Anerkennung Israels aufs Panier schrieb und die Holocaust-Negationisten zu einem Kongress lud. Da lag es dann nahe, ihn gleich zum Nazi zu stempeln, dem man auch einen zur sicheren Selbstzerstörung führenden Angriffskrieg mit Atomwaffen zutrauen kann. -- Die Reden und Briefe Ahmadinejads an Bush und Merkel kann man übrigens auf seiner Homepage nachlesen und sich selbst ein Urteil bilden, was man einem zutrauen kann, der so etwas schreibt. Meines Erachtens nicht sehr viel, weder im Guten noch im Bösen. Die Kommentatoren, die Ahmedinejad oder "die Mullahs" zweifelsfrei als unberechenbare Fanatiker erkannt haben wollen, müssen noch etliche Annahmen hineingesteckt haben, darunter vielleicht auch solche, die sie ungern vor sich selbst zugeben würden: Dass man denen da unten im Süden und im Osten, diesen Moslems mit Handtüchern auf dem Kopf, ohnehin alles zutrauen kann, anders als "uns", den durch ihre unblutige und humane Geschichte berühmten Staaten der westlichen Welt. Und diese Annahme wäre in ihrem Kern rassistisch. Dass Rassisten geeignet wären, den Antisemitismus zu bekämpfen, will mir übrigens nicht einleuchten.

Montag, 17. März 2008

Irak-Veteranen

Die Organisation Iraq Veterans Against the War veranstaltete am vergangenen Wochenende öffentliche Vorträge von Irak-Veteranen in Washington, die über www.ivaw.org live verfolgt werden konnten. Die Vortragenden, die im Irak oder in Afghanistan eingesetzt wurden, beschreiben, wie sich das Verhalten der Soldaten in den ersten Monaten des Dienstes verändert. Anfangs halten sie sich noch an die Rules Of Engagement, die bei der Begegnung mit möglichen Angreifern eine langsame Eskalation vorschreiben, etwa für ein sich näherndes Fahrzeug: Warnende Handzeichen, Gewehr in Anschlag nehmen, Warnschuss, Schuss auf die Reifen, Schuss auf den Fahrer. Angst und Nervosität auf der einen Seite, Vergeltungsdrang für verlorene Kameraden auf der anderen verkürzen diese Kette derart, dass es leicht einen unbewaffneten Zivilisten erwischen kann. Die Soldaten beschreiben weiter, dass die Antwort auf einen Schuss häufig "indiscriminate fire" aus allen Rohren ist, auch dabei kommt es auf getötete Zivilisten nicht mehr an. Andere Erfahrungen bestätigen Umfragen, denen zufolge die westlichen Armeen merhheitlich als Besatzer, nicht als Befreier gesehen wurden.

Die Rückkehrer haben schwer an ihren Erinnerungen zu tragen, manche stellen es so dar, dass sie Böses vollbracht haben, und doch in den entsprechenden Situationen nicht anders konnten. Manche dachten, sie kämen als Befreier, weil sie der Regierung der vereinigten Staaten geglaubt hatten. Diese Soldaten klagen die Regierung an, einen falschen Krieg begonnen zu haben und jetzt die Armee in einer unmöglichen Situation zu lassen, in der sie nur Unrecht begehen kann, das die daran Beteiligten fürs Leben verwüstet.

Das in der politischen Rechtfertigung übliche Argument, es handle sich um "Kollateralschäden" hilft dem einzelnen Soldaten wenig, wenn er Unschuldige getötet hat. In diesem Krieg wird auf allen Seiten geschossen, alle Seiten begehen, indem sie zivile Tote in Kauf nehmen, Kriegsverbrechen. Mit zweierlei Maß nennt die US-Politik die einen Verbrechen Verbrechen, die anderen bloß nebenbei angerichtet Schäden, sieht darüber hinweg, dass die Zahl der irakischen Toten, darunter viele, viele Zivilisten, in die Hunderttausende geht, während bisher 3988 (am 15. 3. 2008) Angehörige der US-Besatzung gestorben sind, davon die meisten als Soldaten im Kampf.

Diese Zeugnisse, deren Aufzeichnungen wohl auch demnächst auf www.ivaw.org einsehbar sein werden, sind eine wichtige Ergänzung der einseitigen Berichterstattung durch die Medien, die ja allenfalls
"embedded" oder gar nicht vor Ort sind, und die die Verbrechen, die Iraker an Irakern begehen, wiederkäuen ohne die Verbrechen, die die Besatzung begeht, zu kennen.

Sonntag, 16. März 2008

Kausalität 1

Da immer wieder von Verantwortung die Rede sein muss, werden wir uns über den Begriff der Folge klar werden müssen oder, anders gesagt, über Kausalität.

Irgendwelche Kämpfer im Irak verstecken sich in einem Haus, in den Nachbarhäusern wohnen Zivilisten. Die amerikanischen Truppen greifen an und sprengen beide in die Luft. Ursachen sind ohne die Umstände, unter denen sie die Folge nach sich ziehen, unvollständig charakterisiert. Wenn wir uns bei diesem Problem nicht weiter aufhalten und von einzelnen Ursachen reden und Ketten von Ursachen, wird es kaum einfacher. Zwei Analysen des obigen in Form von Kausalketten:

1) Kämpfer verstecken sich => Angriff der US Army => Tod der Zivilisten
2) Angriff der US Army => Tod der Zivilisten

Beide, Iraker und Amerikaner, nehmen wir an, hätten auch anders gekonnt. Demnach wären sie für die Folgen ihrer Handlungen verantwortlich. In der ersten Analyse sieht es jedoch so aus, als hätte die US Army eben doch nicht anders gekonnt.

Eine beliebte Figur in dem Spiel, dessen Ziel darin besteht, den anderen die Verantwortung für alles Schlimme zuzuschustern ("Milosevic ist verantwortlich für alles, was geschieht.") ist die Verlängerung der Kausalketten. Der andere hat angefangen und ist insbesondere auch für die Folgen meiner Taten verantwortlich, die ja eine Reaktion auf die seinen sind. Man beliebt, die Reaktion als unvermeidlich, gewissermaßen mechanisch zu beschreiben, gegeben die eigenen guten Absichten.

Die Guten müssen in dieser Situation schießen, um das Gute zu bewirken, auch wenn es unvermeidlich zu "Kollateralschäden" kommt. Den Bösen werden keine Gründe zugestanden, d. h. man setzt sie als böse. Im obigen Beispiel lassen sich auch viel längere Kausalketten angeben, bis zur Invasion durch die USA, oder bis zu den Verbrechen Saddam Husseins, oder bis zur Aufrüstung des Irak als Bollwerk gegen den Iran durch die USA und andere Staaten, darunter Deutschland.

Die Verlängerung der Kausalkette über ein Verbrechen der Gegenseite hinaus zu verweigern heißt mit zweierlei Maß messen. Es ist nämlich prinzipiell kein Ende mit solcherlei Ketten, und auch wenn jeder nur eine endliche Beschreibung geben kann, so hat doch niemand einen Grund, ausgerechnet bei dieser Beschreibung stehenzubleiben. Deswegen gebraucht die Ungerechtigkeit ein "moralisches Argument": Wer die teuflischen Verbrechen der anderen als Folgen ansehe, entschuldige diese, und das sei böse.

Nun ist eine Erklärung zwar keine Entschuldigung, doch ist es mit diesem Hinweis nicht getan. Niemand kann leugnen, dass eine Erklärung ein entschuldigendes Moment hat, wenigstens in der Form des mildernden Umstands, und so bleibt der Vorwurf der Entschuldigung an jedem hängen, der Geschehnisse, die als sehr böse beurteilt werden, erklärt.

Um das "moralische Argument" auszuhebeln muss man den Mut besitzen, sich zur dieser Art von Entschuldigung auch noch des niederträchtigsten Verbrechens zu bekennen. Ja, auch die übelsten Verbrechen geschehen unter Bedingungen, die die Verbrecher nicht geschaffen haben. Ja, von vielen Verbrechen, die wir verdammen, sollten wir uns vorstellen können, sie selbst begehen zu können, gegeben solche Umstände. Nein, 9/11
ist kein absoluter Anfang. Verbrechen werden übrigens nicht weniger gemein, wenn man sich in den Täter versetzen kann, gemein sind sie nämlich aus der Perspektive der Opfer. In Wahrheit ist das "moralische Argument" nur die Forderung, an einem bestimmt Punkt die Vernunft zum Stehen zu bringen.

Wer in Notwehr gegen einen, der ihn bedroht, hundert erschießt, hat zwar in Notwehr gehandelt, aber doch hundert erschossen.

Reitkamel-Schlachtkamel

"Möchten Sie ein Reitkamel oder ein Schlachtkamel?" Tiere, die wir nicht zu essen pflegen, zu essen, scheint uns seltsam oder gar widerwärtig, während die von uns gegessenen Tiere eigens dazu gemacht scheinen. Bis vor kurzem schien "uns" die Bestrafung von Homosexualität naturgemäß, jetzt sind wir darüber hinaus und verwenden dies als Argument für die Rückständigkeit und Minderwertigkeit orientalischer Gesellschaften und Rechtsvorstellungen. Bei uns ist Inzest strafbar, wie jetzt wieder ein armes Geschwisterpaar feststellen musste, das weiter nichts getan hat, als sich auf nicht-geschwisterliche Art zu lieben. Das könnte beispielsweise schon aus französischer Sicht ein Beleg für die Rückständigkeit und Minderwertigkeit der deutschen Gesellschaft und Rechtsvorstellungen sein...

Wer aus der Verschiedenheit unserer zum größten Teil nicht gut begründeten Vorstellungen nicht den ganz falschen Schluss ziehen will, Kulturen sollten mit unkritischem Relativismus angesehen werden, wird vom Relativismus doch soviel lernen können, dass Hochmut fehl am Platze ist.

Unschuldsvermutung

"Einen absolut geschützten Rückzugsraum (das hat auch in Karlsruhe noch nicht jeder begriffen) für mutmaßliche Täter darf es dann nicht geben. Auf dieser Grundlage kann Deutschland mit Amerika zusammenarbeiten. Der Maßstab ist das Grundgesetz."

schreibt Reinhard Müller in der FAZ vom 12. März 2008. Da ein "mutmaßlicher", also nicht verurteilter Täter vor dem Gesetz noch als unschuldig gilt, hat er selbstverständlich ein Recht auf einen absolut geschützten Rückzugsraum, es sei denn niemand hätte dieses Recht. Es ging Müller um Terrorismus, scilicet "islamistischen". Für so einen kann man die Unschuldsvermutung, eine zentrale Idee des Rechtsstaats, schon einmal aufweichen, ohne dass der anständige Bürger davon betroffen wäre. Die Zeit ist anscheinend reif für zweierlei Maß in rechtlichen Fragen, die der Idee des Rechts selbst, nämlich der Gleichheit vor dem Gesetz, zuwiderlaufen. Es sei in diesem Zusammenhang erinnert an Schäubles Äußerung "Gefahrenabwehr kenne keine Unschuldsvermutung" und seine Bezugnahme auf ein "Feindstrafrecht", wie es etwa der Jurist Günther Jacobs vertritt. Die Entscheidung darüber, ob jemand auf normale Rechtsprozeduren Anspruch hat oder einem Ausnahmerecht unterworfen wird, fiele dann aber außerhalb des Rechts, wäre letztendlich politisch. Schäuble hat sich durch solche Äußerungen keineswegs aus der Debatte katapultiert, ebensowenig wie Reinhard Müller. Merkwürdig zurückhaltend das Presseecho, wenn man bedenkt, dass fast täglich die Beeinflussung der russischen Justiz durch die Politik beklagt wird.
Und nochmal: zweierlei Maß.