Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 9. März 2015

Sankt Boris - der mortuis vivisque nil nisi veritatem

Auf den Seiten der "Propagandaschau" wurde analysiert, was sich gestern bei Günther Jauch abgespielt hat. Ich habe mir das Ganze - auf Rücksicht auf mein Herz und meine Verdauung - nicht angesehen, habe dann aber das Presseecho auf die Sendung überflogen.   Lauter Vorverurteilungen, "der Putin hat den Nemzow auf dem Gewissen", egal wer letzteren aus welchen Gründen umgebracht hat. Wer's anders sieht (Platzeck), wird ad hominem abgewatscht. 

Nun ist bei Debatten über rechtliche, politische, wirtschaftliche Fragen eigentlich von ad hominem-Argumenten abzusehen. Ob die Erhöhung des Diskontsatzes die Exporte stärkt oder schwächt, hängt nun einmal nicht vom Charakter der obersten Bankiers ab. Und ebensowenig kann eine Putin-Dämonologie darüber Aufschluss geben, wer Nemzow ermordet hat.  

Dass in der postsowjetischen Gesellschaft zu viel Gewalt, zu viel Korruption, zu viel Rechtsbeugung zu beobachten ist, bezweifle ich nicht. Nur waren an dieser Verlotterung Jelzin und sein damaliger Famulus Nemzow mehr als Putin beteiligt.  Nemzow hat sich im selben Oligarchen-Sumpf bewegt wie die übrigen. Ultraliberale Wirschaftsansichten machen ihn nicht zum Demokraten. Die von ihm mitgegründete Partei 'Union rechter Kräfte' (aus der er kurz vor deren Auflösung 2008 ausgetreten ist) erreichte bei der Wahl zur Staatsduma 2007 weniger als 1 Prozent. (So sähe demnach der (Jauch) 'bedeutendste Oppositionelle' aus.  Nun hat in der BRD etwa die MLPD einen größeren Stimmenanteil, aber zugegebenermaßen  hatte Nemzow vor über zehn Jahren viel Zuspruch, der sich durch die Misere Russlands, an der er und die seinigen mitschuldig waren, verlor.)  Die 'Union rechter Kräfte' wurde unter anderem von Khodorkovsky finanziert, der nun eine  weitere Gallionsfigur dessen ist, was viele westliche Medien als 'die Opposition' beschreiben, der aber doch ganz offensichtlich einer der Diebe waren, die es in wenigen Jahren zum Multimilliardär brachten und die damit die Oligarchie an Stelle einer doch möglichen Demokratie setzten.   So weit spricht nichts für Sankt Boris, aber auch nichts für eine Verteufelung.  Im Grau-in-grau der russischen Wirklichkeit ließe sich aufdröseln, was an den einzelnen Gestalten Gutes oder Schlechtes ist bzw. war; wenn man es denn wollte.

Ad hominem-Attacken gehen aber gerne so:

Fünf Tatverdächtige im Fall Nemzow wurden jetzt verhaftet, einer davon beruft sich mantramäßig auf den Propheten. Schnell ist der russische Journalist Kondratiev bei der These, dass Nemzows Äußerungen zu den „Charlie Hebdo“-Hinrichtungen ihn in Lebensgefahr brachten. Allah ist groß, der böse Moslem schnell da. Vergiss Putin und seinen mächtigen Oberkörper – das meinte er wohl.
 (Focus, 9.3.2015)

Fein! Da hat man gleichzeitig den Kondratiev abgewatscht und nochmal auf das 'Putin-der-Macho'-Bild angespielt. Nun muss sich Putin, wenn er sich mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd ablichten lässt, gefallen lassen, dass man daran erinnert.  Ebenso darf man aber daran erinnern, dass Nemzow in seiner Autobiographie "Beichte eines Rebellen" sich ebenfalls als Macho, nur anders portraitiert, wenn er von einem Abspeck-Aufenthalt in einer süddeutschen Klinik berichtet, den er mit einem Freund unternahm.


Мы приехали в клинику с одним известным бизнесменом и двумя девушками.Первый вопрос немецкого доктора:– Цель поездки?– Мы будем худеть, – ответил я.– Похвально, – сказал он. – А зачем девушек взяли? Я сначала не понял глубины вопроса и говорю:– Так ведь скучно одним-то.– Это грубая ошибка, – сказал доктор. – Девушки тоже хотят худеть?На что девушки хором закричали:– Нет, что вы, у нас все нормально.
Wir kamen mit einem wichtigen Geschäftsmann und zwei Mädchen in die Klinik. Die erste Frage des deutschen Arztes: "Was ist der Zweck Ihres Aufenthalts?" "Wir werden abnehmen", antwortete ich. "Das lobe ich", sagte er, "Aber warum habt ihr die Mädchen mitgebracht?" Anfangs habe ich die tiefere Bedeutung der Frage nicht verstanden und sagte: "Falls jemandem langweilig wird. " "Das ist ein großer Fehler", sagte der Doktor. "Wollen die Mädchen auch abspecken?". Worauf die Mädchen laut aufschrieen "Nein, nur ihr, bei uns ist alles normal." (Übersetzung von mir und möglicherweise schlecht; Korrekturen willkommen.)

Die Mädchen seien so 'sadistisch' gewesen, fein essen zu gehen, während er und der Freund ja Diät machen mussten. Nach ein paar Tagen hatten sie gar keine Lust mehr auf die Mädchen.
По ведение людей определяют два базовых инстинкта: инстинкт самосохранения, который упреждает людей от движения по встречной полосе и прыгания с десятого этажа, и инстинкт продолжения рода. Мне когда-то казалось, что инстинкт продолжения рода сильнее, чем инстинкт самосохранения. Это ошибка. В немецкой клинике нам доказал и, что отсутствие еды приводит к тому, что второй инстинкт исчезает. Кстати, милы й доктор рассказывал, что когда голодают женщины, то у них возникают прямо проти воположные ощущения. Голодные женщины очень хотят секса.
Das menschliche Verhalten wird von zwei Grundtrieben gesteuert: dem Selbsterhaltungstrieb, der die Leute davon abhält, auf der falschen Seite zu fahren oder aus dem zehnten Stock zu springen, und dem Fortpflanzungstrieb. Ich war einmal der Meinung, der Fortpflanzungstrieb sei stärker als der Selbsterhaltungstrieb. Das ist falsch. In der deutschen Klinik haben sie uns vorgeführt, dass Nahrungsmangel den zweiten Trieb zum verschwinden bringt. Übrigens erzählte uns der liebe Herr Doktor, dass den Frauen, die hungern, das Umgekehrte wiederfährt. Hungrige Frauen wollen dringend Sex. (Übersetzung von mir, s.o.)
Das ist jetzt nicht furchtbar schlimm. Und je nach persönlichen Abneigungen und Vorlieben mögen die Leserin oder der Leser den mit entblöster Brust reitenden Putin oder die Reflexion über die Potenz ekliger finden.

Beides würde nicht in eine vernünftige Debatte gehören: Weder die klebrigen Anekdötchen, noch das Reiten zu Pferde. Wenn aber das eine, en passant, vom Focus und vielen anderen immer wieder erwähnt wird, dann sei immerhin das andere auch erwähnt.

Ansonsten kümmert Konsistenz den Focus einen Dreck: Den "bösen Moslem" hat er ja bei anderen Gelegenheiten gerne bemüht.

In der Jelzin-Ära, an deren Gestaltung Nemzow mitwirkte, sind Millionen von russischen Rentnern an Unterversorgung (mit Nahrung, mit Medizin) vorzeitig gestorben. Das -- und nicht nur die böse böse Propaganda des reitenden Putin -- könnte ein Grund dafür sein, warum Nemzows Partei im Vergleich zu Putins Partei lächerlich wenig Stimmen bekam. Nemzow versprach ja bürgerliche Freiheiten nur im Bündel mit Wirtschaftliberalismus, der als Doktrin zur Transformation kommunistischer Staatswirtschaften nur für den taugt, den die, die dabei untergehen, nicht stören.

Wer Nemzow umgebracht hat, weiß ich nicht; und Jauch weiß es nicht; und Kasparov weiß es ebensowenig (begnadetes Schachspiel befähigt keineswegs zur Hellseherei). Wenn die russische Justiz ermittelt, scheint mir das immer noch sachnäher als Ferndiagnosen von Jauch und Co. Dass die russische Justiz ihrerseits etwas vertuscht, ist natürlich auch möglich. Und zwar nicht nur, weil "Putin" intervenieren, sondern weil auch irgendwer sonst sie bestechen könnte. Das nimmt in einem Land, in dem der (nicht korrupte) Beamte ein vergleichsweise armer Schlucker ist, und in dem es einige Hundert Multimillionäre und -milliardäre gibt, nicht wunder. Wer nun wirklich an Rechtsstaatlichkeit in Russland interessiert wäre, müsste die Oligarchen loswerden. Als Khodorkovsky verurteilt wurde, wurde die Frage, ob er das verdient haben könnte, kaum gestellt. Auch der wurde heilig gesprochen, gegen alle Informationen. Besser wäre es doch gewesen, Putin dafür zu kritisieren, dass er die anderen Oligarchen, mit denen er sich verbündet hat, laufen lässt.

Wer mit Oligarchen gegen die russische Regierung ist, der mag seine Gründe haben. "Förderung der Demokratie" gehört nicht dazu. Gegen die russische Regierung und gegen die Oligarchie zu sein, wäre zumindest eine Nummer schlüssiger. Da aber diese Schlüssigkeit sich nirgends findet, bleibt dann doch der Verdacht, dass hinter der ganzen Fassade aus 'Freemanmoxy' (Bell) und Moralappellen doch nur ein ganz schnöder Interessenkonflikt liegt.