Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Freitag, 27. November 2015

Der angegeketteten Ente zuhören

Le Canard Enchainé, 18 Novembre 2015

Jetzt ist wieder was passiert! Da muss sofort gehandelt werden, und das heißt: aufmarschiert, gedroht und geschossen, im Inneren und nach Außen. George W. Bush hat im Anschluss an 9/11 unter anderem die Weltgegend in Brand gesetzt,  der sich das gegenwärtige Aufflammen von sich auf den Islam berufenden Terrorismus verdankt.  Und da darf Frankreich keineswegs durch überbordende Vernunft zurückstehen. Handeln ist in solchen Momenten gut, wäre es noch so dumm und planlos. Es ist ein Vergnügen, inmitten des Gebrülls die französische Satirezeitung Le Canard Enchainé zu lesen.
Le droit dans tous ses états

Après un violent traumatisme, les psychiatres conseillent toujours à leurs patients de ne prendre aucune décision importante. Il faut attendre que la la raison l'emporte à nouveau sur l'émotion. Ce conseil avisé devrait être suivi par les responsable politiques. Pas seulement pour s'éviter une place de choix  dans un bêtisier, mais pout épargner de fâcheux dérapages à notre Etat de droit. [...]

Nach einem heftigen Trauma raten Psychiater stets, keine wichtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist nötig zu warten, bis die Vernunft wieder über die Gefühle herrscht. Dieser Rat sollte von den politisch Verantwortlichen befolgt werden. Nicht nur, um  einen ausgesuchten Platz in einem Kabinett der Dummheit zu vermeiden, sondern auch, um unserem Rechtsstaat peinliche Entgleisungen zu ersparen.  [Übers. von mir, leider gibt es keine wirklich elegante Übersetzung von 'bêtisier']
Anschließend lässt Louis-Marie Horeau die angedrohten oder geplanten oder schon durchgeführten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit seit dem 13. November Revue passieren.

In der Ausgabe finden sich neben Karikaturen von Terroristen Karikaturen der Regierung und anderer Politiker, die leider von sich reden machen (Villepin, Sarkozy). Es finden sich Danksagungen des Terrors an George W. Bush und Zitatesammlungen des 'in gerechtem Zorn' aufschäumenden Frankreich, sowie Torheiten aus aller Welt.  Vorschläge, alle, die irgendwie verdächtig sind, einzusperren, kommen aus Sarkozys Partei 'Les Républicains' und dem Front National. Besonders schön aber ist ein Zitat von Donald Trump, der es ja durchaus zum republikanischen Präsidentschaftskandiadaten schaffen könnte, das im Original so lautet:
When you look at Paris -- you know the toughest gun laws in the world, Paris -- nobody had guns but the bad guys. Nobody had guns. Nobody. They were just shooting them one by one and then they (security forces) broke in and had a big shootout and ultimately killed the terrorists. And I tell you what: You can say what you want, but if they had guns, if our people had guns, if they were allowed to carry -- it would've been a much, much different situation.
Der Canard kommentiert: Le port de la kalachnikov pour chacun et la nation sera sauvée.  Ein technischer Kommentar von mir: Wenn es schwer ist, an Waffen zu kommen, ist es auch für Terroristen schwerer.  Für Sprengstoffe gilt das offenbar auch. Der Sprengstoff, den die Täter von Paris mitführten, war wieder mal der dümmste, ungeeignetste Sprengstoff, den jedes Kind herstellen kann (und den ich auch als Kind hergestellt habe, man muss wirklich nicht viel von Chemie verstehen. Nur entzündet er sich bei der kleinsten Erschütterung von selbst, so dass die Chance für die Terroristen, schon vor dem geplanten Anschlag  zu ihren Vätern versammelt zu werden, groß ist.)  Unter der reißerischen Überschrift "Die grausame Professionalität der Attentäter" berichtet das der Spiegel, obwohl doch gerade diese Wahl des Sprengstoffs ausgesprochen unprofessionell ist.

Sonst finden sich in der Ausgabe natürlich die üblichen wöchentlichen Rubriken, darunter die Filmempfehlungen: Filme, die man sehen  kann, Filme die man zur Not sehen kann und Filme, die man nicht sehen kann (genauer: die nicht zu sehen möglich ist.)

Der Canard Enchainé ist eine Zeitung, die man lesen kann.

Montag, 16. November 2015

Im Krieg ?

Blutige Anschläge, begangen von französischen Staatsbürgern in Frankreich, die sich zum IS bekennen. Manuel Valls nennt das Krieg, so wie G. W. Bush nach 9/11 von Krieg sprach. Es war aber ein Anschlag, kein Krieg.

Der Feind im Inneren: Sarkozy schlägt vor, allen Franzosen, die verdächtigt werden, mit Islamisten zu sympathisieren oder in Kontakt zu stehen, elektronische Fußfesseln zu verpassen.

Derselbe Sarkozy hat, als einmal nach einer Polizeiaktion die Vorstädte brannten, deren Jugendliche als 'racaille' bezeichnet, als Abschaum, Gesindel.

Wie kommt es, dass französische Staatsbürger, die in den Genuss der in den letzten Tagen ständig zitierten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gekommen sind, zu einer solchen Tat des Hasses fähig sind? Sarkozys Vorschlag impliziert, man habe sie noch nicht genug kriminalisiert.  Andererseits bestätigen französische Soziologen, dass die französische Gesellschaft und der französische Staat es versäumt haben, die 'exclusion' allzu vieler zu überwinden. An vielen wurden die Versprechen von Brüderlichkeit und Gleichheit nicht eingelöst. Die französische Polizei wurde mancherort als feindliche Macht erfahren. Dieses Problem werden Fußfesseln ebensowenig lösen wie Kriege mit anderen Ländern.

Selbstverständlich kann man alles auf die 'Verbreitung einer mörderischen Ideologie reduzieren' und daraus eine Legitimierung für Fußfesseln im Inneren und Luftangriffe im Äußeren basteln.  Gewalt in verschiedenen Formen wäre demnach der angemessene Umgang mit einer gewalttätigen Ideologie.

Anders Behring Breivik hat sich bei seinem Anschlag unter anderem bei Argumenten bedient, die in dem bekannt-berüchtigten Blog "Achse des Guten" vorgebracht werden.  Wo soll man denn da Luftangriffe fliegen? Dortmund? Berlin?  Über die Fußfesseln für Neonazis und Neocons ließe ich gerne mit mir reden, kann aber auch daran nicht glauben.

Psychologen und Soziologen haben sich mit der Entstehung von Gewaltbereitschaft befasst -- ich habe nur wenig davon gelesen; sicher kennen die, die nach Gewalt gegen Gewalt rufen, noch weniger davon.  Denn es scheint kaum zu bezweifeln, dass Gewalterfahrungen zu Gewalt prädisponieren.

Und obwohl es sich von selbst versteht: Auch das ist keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung der Taten, auch nichts in der Art.  Der vulgäre Kategorienfehler, Erklärungsversuche als Entschuldigung zu beschimpfen, ist eigentlich nur ein rhetorischer Trick der Scharfmacher.  Geschieht etwas Schlimmes, ist eine ursächliche Erklärung allemal hilfreicher als moralisches Geseier. Ansonsten hat sich das Strafrecht mit den Tätern, soweit sie noch leben, zu befassen. Das ist die Reaktion eines Rechtsstaats auf Verbrechen.  Oder wünschen viele sich gar keinen Rechtsstaat, sondern würden lieber von den Fesseln des Rechts befreit draufschlagen, wo angeblich das Übel wächst?  Das Übel, das ja gerade darin besteht, von den Fesseln des Rechts befreit draufzuschlagen.

Sonntag, 15. November 2015

Nachtrag

Trauern

Auf den Monitoren in der U-Bahn stand die Meldung, dass sich gestern Abend 1000 Menschen am Brandenburger Tor versammelt haben, um an die in Paris Ermordeten zu erinnern.

Vorgestern stand niemand irgendwo in Berlin, der an die im Libanon Emordeten erinnert hätte.

Gaucken

Also sprach der Bundesp. :

Aus unserem Zorn über die Mörder müssen Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft werden. Auch dabei stehen wir an der Seite der Franzosen.
Europas Werte und Europas Freiheit sind in der Geschichte von machtvollen Feinden angegriffen worden. Dennoch ist unser Europa ein Bollwerk der Demokratie und der Menschenrechte. Auch die brutalen Angriffe islamistischer Terroristen vermögen dies nicht zu ändern.
Das Bollwerk der Menschenrechte, das -- unter Gaucks beredtem Schweigen -- Tausende ersaufen lässt. Der Zorn über die Mörder ohne die Zerknirschung über unsere Fehler ist nun leider einen Dreck wert: Aus diesem Zorn soll Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft werden.  Sich nicht mehr an schlechten Kriegen zu beteiligen und finsteren Diktaturen keine Waffen mehr zu liefern, dafür mehr Geld für zivile Kooperation auszugeben, das "wird nicht aus diesem Zorn".

An Schwulst kann sich Gauck mit Kohler messen, nur ist es bei ihm noch von einem pfäffisch-sanften Lächeln übergossen.

Mord und Mord

Der inzwischen zum General beförderte  Oberst Klein, der bei Kundus das Bombardement einleitete, das  - je nach Quelle, - über 70 (rotes Kreuz), über 80 (amnesty interational) oder noch mehr Zivilisten das Leben kostete, ist Soldat, nicht Terrorist. Seine Einschätzung, es handle sich ausschließlich um feindliche Kämpfer, war ein Irrtum. Sorry.

Der Mörder von Paris haben absichtlich 129 Zivilisten und sich selbst getötet.  Ob sie es vorgezogen hätten, einen Luftangriff auf ein militärisches Ziel in Frankreich zu befehlen, wenn sie das gekonnt hätten, lässt sich nicht herauszufinden. Ihnen fehlten jedenfalls die Mittel dazu.
 
Ja, wollen Sie etwa  einen Kollateralschaden mit diesem Akt der Barbarei vergleichen?

Gewiss. Aus der Perspektive der Toten, bzw. ihrer Familien handelt es sich in beiden Fällen um jähe, gezielte Tötung, der nicht zu entrinnen war.

Der mit mächtigen, modernen Waffen aus der Ferne und aus der Luft geführte Krieg tötet täglich Zivilisten. Es handelt sich in jedem Einzelfall um 'Versehen', in der Absehbarkeit solcher 'Versehen' aber insgesamt um Mord, der nie gesühnt wird. Eine statistische Verantwortung, aus der sich die Akteure in jedem Einzelfall herausreden können, unterläuft anscheind unsere moralische Urteilskraft und unsere juristischen Kategorien.

Die Mörder von Paris sind aber eindeutig das: Mörder.  Und weil das so einfach ist, können das auch schlechte Journalisten schildern.

Asymmetrische Konflikte haben immer auch diesen Zug: Die überlegenen Parteien bringen zwar mehr Leute um, meistens auch mehr Zivilisten, haben aber weniger blutige Hände.    Es ist aber sehr zweifelhaft, ob die Anschläge in Paris als Teil des Krieges  zu verstehen sind, der sich in Syrien und dem Irak abspielt, auch wenn durch das Bekennerschreiben ein Zusammenhang hergestellt wird.

Unschuldige sterben

Wieder Paris, wieder ein Anschlag auf die ganze freie Welt. Nur zehn Monate nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ erschüttert eine noch blutigere Tat die französische Hauptstadt und die übrige Menschheit, jedenfalls den Teil von ihr, den man zivilisiert nennen kann. Der  "11. September Frankreichs" wird der konzertierte Terrorangriff mit seinen vielen Toten und Verletzten genannt. (Berthold Kohler, FAZ, "Im Weltkrieg", 15.11.2015).

Ein Verbrechen in seinem Zusammenhang


Eines Vorweg:  Es ist eine Tugend des Verstands, Handlungen und Situtationen auf Ursachen und Wirkungen zu untersuchen.  Das entgegengesetzte Laster ist an Gestalten wie Berthold Kohler (FAZ) und Seehofer (CSU) zu sehen.  Wer das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht bedenkt, wird immer wieder dazu beitragen, genau das anzurichten, was angeblich vermieden werden soll.
Eine Tugend der Urteilskraft wiederum ist, "das rechte Maß" beim Handeln und beim Urteilen zu finden. Diese Tugend aber kann nicht am einzelnen Gegenstand ausgebildet werden, sondern nur am Ganzen. Wer sie nicht hat oder nicht haben will, kann bald das eine Verbrechen oder die eine gute Tat grotesk überhöhen, bald achselzuckend über andere, größere Taten hinweggehen.

Es gab nun also terroristische Anschläge in Paris, durch die mindestens 129 Menschen ums Leben gekommen sind. Dazu bekannt hat sich der IS, dessen Existenz sich nachweislich den westlichen Kriegen und Einmischungen im Irak, Libyen und Syrien verdankt.  In Syrien wurden noch bis vor kurzem die Vorläufergruppierungen des IS von den USA und ihren Verbündeten unterstützt (siehe zum Beispiel die Zusammenfassung im Guardian.) Der Krieg im Irak hat, je nach Schätzung einige Hunderttausend bis über eine Million Menschen das Leben gekostet, davon viele, sogar die meisten, Zivilisten, bzw. "Unschuldige".  Und selbiger  Krieg hat einen gescheiterten Staat produziert, in dem 2015 wöchentlich mehr Menschen (auch Unschuldige) sterben als  vorgestern in Paris gestorben sind. Die desolaten Verhältnisse begünstigen nicht nur den (möglicherweise recht dünnen) ideologischen Hintergrund des IS, sondern vor allem die Bereitschaft von Männern, die seit Jahren im Krieg leben, sich wenigstens für Krieg bezahlen zu lassen, und zwar durch den IS.

Der Bürgerkrieg in Syrien ist auch nicht ohne Waffenhandel zu erklären. Es ist bekannt, dass auch deutsche Waffen ihren Weg in diesen Krieg gefunden haben --  auf Fotos wurden immer wieder Gewehre von Heckler & Koch identifiziert. Die BRD beliefert unter anderem Quatar und Saudi-Arabien, die nun ihrerseits diverse islamistische Gruppen in Syrien bewaffnet haben. Unter Gabriel hat die Bundesregierung mehr Waffenexportgenehmigungen erteilt als je zuvor. 

Unschuldige sterben auch jede Woche dort, wo die USA mit Hilfe von völkerrechtlich ganz inakzeptablen Drohnenangriffen "gegen den Terror" kämpfen.

Und nicht zuletzt lässt die EU jedes Jahr einige Tausend Menschen im Mittelmeer ersaufen, die vor just den Konflikten, für die wir Mitverantwortung tragen, fliehen.  Es handelt sich hier, wie der oberste Bundesrichter Thomas Fischer in einer Kolumne für die Zeit aufgedröselt hat, um irgendwas zwischen Mord durch Unterlassung und unterlassene Hilfeleistung. Die EU könnte ja Visen vergeben. Und sie hätte "Mare Nostrum" verlängern können.

Kurzum, das Unrecht, das in Gestalt der Attentate von Paris begangen wurde, steht in einem Kontext globalen Unrechts, zu dessen Akteuren auch "wir" gehören.  Der Zweck dieser Einbettung ist nicht der einer Rechtfertigung (die kann es weder für das durch IS begangene Unrecht, noch für das durch uns begangene Unrecht geben), sondern ein Beurteilungsrahmen für die Angemessenheit der möglichen Reaktionen. Diese Attentate gehören strafrechtlich verfolgt, soweit sich die Verantwortlichen nicht bereits selbst in die Luft gesprengt haben. Als Antwort die wahnhafte Reaktion der USA nach 9/11 zu wiederholen ("war on terror") und etwa ein weiteres Land in die Luft zu sprengen, wird verlässlich die Wahrscheinlichkeit solcher Anschläge erhöhen.

Auch das voraussehbare Argument, die Gefahr für uns liege ja nicht in der Brutalisierung halber Kontinente, sondern nur in der Einwanderung der solchermaßen Brutalisierten, mithin müsse die Einwanderungen aus Sicherheitsgründen schleunigst begrenzt werden, das nicht nur Rechtsextreme, sondern auch Söder, Seehofer (CSU) oder Reinhard Müller (FAZ) vorbringen, ist erstens falsch und zweitens widerwärtig.  Erstens kann niemand die Grenzen so dicht machen, dass Leute, die kämen, um ein Attentat zu begehen, aufzuhalten wären.  Die meisten kommen aber zweitens, um ihr Leben zu retten bzw. sich ein neues Leben aufzubauen. Diese Menschen abzuweisen bedeutet einen massiven Verstoß gegen die Werte, die wir angeblich haben, und ist auch wieder eine Kollektivstrafe gegen Hunderttausende, die nichts für die Attentate können. Die Attentäter wiederum haben eine Kollektivstrafe an mindestens 129 Menschen, die nichts dafür können, vollstreckt. Kollektivstrafen sind auf allen Seiten widerwärtig. 

Vorhang auf für Berthold Kohler


Die Engführung der Logik der Terroristen mit der Logik der westlichen Staaten, Gesellschaften, Parteien ist beabsichtigt.   In den Reihen der Terroristen müssen wir uns  Redner vorstellen, die so klingen wie Berthold Kohler (Kommentar "Im Weltkrieg", 15.11), nur auf arabisch und mit jeweils umgedrehten Vorzeichen. Jeder einzelne Satz von Kohlers jüngstem Kommentar beleidigt die Intelligenz und die Humanität.  Eigentlich erübrigt sich eine ausführliche Kommentierung. Es müsste genügen, zu sagen: Lesen Sie und speien Sie.  Ich kommentiere aber doch, für die Akten:

Wieder Paris, wieder ein Anschlag auf die ganze freie Welt.

Schon dieser erste Satz ist ein Popanz. Wieder ein Anschlag auf verschiedene Orte in Paris. "Die ganze freie Welt", so sah auch der willkürlich den Gegenstandsbereich aufblähende Propagandabegriff aus, der zur Rechtfertigung des Irakkrieges angeführt wurde, und zu dessen Ergebnissen auch dieser Anschlag gehört (im Sinne von Kausalität, "kontrafaktische Definition": IS, und damit diesen Anschlag, gäbe es fast sicher nicht, hätte es diesen Krieg nicht gegeben).

Die Botschaft der Anschläge auf Amerika war: Der islamistische Terrorismus hat dem Westen den Krieg erklärt – und er ist dazu fähig, ihn in die Herzen der westlichen Metropolen zu tragen. Die blutige Mitteilung von Paris lautet: Ihr könnt uns auch anderthalb Jahrzehnte danach immer noch nicht daran hindern. Eure Mühen und Opfer im „Krieg gegen den Terror“, ob auf fremder oder eigener Erde, waren vergebens.

Alle Achtung, unsere Mühen und Opfer waren vergebens.  Da aber doch der IS unter anderem die Frucht dieser Mühen und Opfer ist, verdankt sich zumindest dieser Anschlag unseren Mühen und Opfern und ja, wenn auch in klitzekleinem Format, Berthold Kohler, der in diesem Ton die Kriege propagierte, ohne die die Toten von Paris wahrscheinlich noch lebendig wäre.  Hier, wie meist: Sprich von der Veantwortung der anderen, nicht von der eigenen. Ignoriere die Kausalität, wo du selbst zu den Ursachen von etwas Bösem gehörst,   und reite auf ihr herum, wo die anderen etwas verursacht haben. Die Grenzen von "wir" und die "anderen" zieht jeder Hetzer anders, bei Kohler ist wir "USA -- NATO -- Deutschland", und das nennt er halt die "freie Welt."

In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen.

Man kann kontrovers diskutieren ... gewiss.  Selbst Kohler kann nicht abstreiten, dass es den IS ohne den Irak-Krieg nicht gäbe.  Aber die Ursache spielt ja keine Rolle, wenn das Ungeheuer nun einmal da ist und nun mit Waffen bekämpft werden muss.  Kohler ist eigentlich immer für die jeweiligen Kriege des Westens, sogar für die, die der Westen mit guten Gründen nicht führt.   Um das "Ungeheuer Saddam" zu töten wird ein Land zu Klumpen geschossen. Daraus erwächst das nächste Ungeheuer, jetzt kann man nur weiterschießen, so die Logik.   "Man kann kontrovers diskutieren" ist aber doch sehr mager als Selbstreflektion, und beim Weiterschießen ist nun die Frage, wie und auf wen.   Russland etwa betreibt die Stärkung der syrischen Regierung gegen alle Rebellen, von denen die meisten Islamisten und viele bei IS sind.  Die USA, ihre Verbündeten und auch ihr geliebter Kohler wollen das aber auch nicht.  Der IS ist das Böse, und Russland ist das Böse, auch wenn Russland eines der wenigen Länder ist, die schlüssig in der Logik handeln, den IS zu bekämpfen. Der Autor dieser Zeilen kennt Syrien zumindest aus längerer eigener Anschauung, und damit besser als Kohler, würde einen schlechten Frieden für Syrien einem guten Krieg vorziehen.  Das eigentlich Böse an allen bisherigen Einmischungen in Syrien war, den Krieg in die Länge zu ziehen.  Und wenn es so wäre, dass die gegenwärtigen Machtverhältnisse einen Frieden nur unter Assad  möglich machen, dann wäre es eben ein Frieden unter Assad.   Eine Umfrage der Washington Post zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Syrer das so sieht.

Erfreut über den russischen Anteil am Krieg kann ich aber nicht sein; allerdings müsste Kohler es sein, stünde ihm nicht ein doppeltes Feindbild im Wege.  Er sieht nur "die freie Welt im Krieg gegen das Böse".

Wie wird der Terror von Paris in Ländern wirken, die eher der Ansicht zuneigen, wer selbst nicht bombardiere, werde auch nicht bombardiert?

Nun, dass Attentate des IS sich gegen Länder richten, die sich an den Bombardements gegen den IS beteiligen, ist doch wohl die Logik des Krieges (und des Terrorismus), der ja gerade Kohler das Wort redet. Vermutlich erwischt es Russlands als nächstes Land; was wohl Kohler dann schreibt ?  Einstweilen fürchtet er jedoch, dass die Kampfkraft des Westens beschädigt werde -- ohne doch den Nachweis antreten zu können, diese sei bisher für etwas gut gewesen.

Mehr denn je kommt es jetzt auf die Geschlossenheit des Westens an. Und darauf, dass er seinen Willen und seine Fähigkeit demonstriert, seine Werte zu schützen. Das wird angesichts des Ausmaßes der Bedrohung und der Asymmetrien des Konflikts nicht gänzlich ohne Einschränkungen der Freiheiten möglich sein, die es zu verteidigen gilt, gegebenenfalls auch mit eigenen Truppen in Syrien. Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein. Obsiegen kann in der Konfrontation mit dem Terrorismus nur, wer sich von ihm nicht einschüchtern und erpressen lässt.

Seine Werte. Soso. Wertemäßig stellen die Kriege in Irak/Afghanistan/Libyen ein Desaster da. Die Lüge zur Förderung von Kriegen hat noch immer gerne zum Schwulst gegriffen: "epochaler Kampf","obsiegen", man findet derlei in Karl Kraus' Dokumentation der österreichischen und deutschen Propaganda für den ersten Weltkrieg.   Die Nichterwähnung Russlands, das ja genau das tut (IS bekämpfen), was Kohler will, ist auch hier auffällig.

Der Flüchtling als potentieller Feind


Am Schluss kommt die befürchtete Volte:  Dass die Einwanderung uns gefährde. Kohler endet so:
Doch kam auch mit diesen Zügen schon eine Angst ins Land: dass Deutschland sich bei dem Versuch, fremde Kulturen und Konflikte zu integrieren, hoffnungslos übernimmt und danach nicht mehr so sein kann, wie es sein will. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (auch Solidarität mit den Armen und Verfolgten der Welt) sind längst auch deutsche Ideale. Doch noch ein vierter Wert gehört dazu, ohne den alles andere nichts ist – Sicherheit. Die Deutschen haben nichts gegen ein freundliches Gesicht an der Spitze ihrer Regierung. In solchen Zeiten aber wollen und müssen sie ein anderes sehen: ein hartes.
 Oh ja, es kracht hier nur so vor Brüderlichkeit. Dieser Absatz ist in einem Maße verlogen, dass doch bitte die Götter selbst Kohler strafen mögen.  Wir lassen weiter die Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen, betreiben die Abschiebung möglichst vieler (Kosovo, Serbien, Afghanistan), lassen seit Jahrzehnten wieder eine Armutsschicht in Deutschland entstehen, und sollen jetzt "Härte" zeigen gegen Flüchtlinge, an deren Fluchtursachen wir mit Schuld sind. 

Selbst wenn "das Ungeheuer IS" nur noch militärisch zu beseitigen wäre (woran ich zweifle), wären Akteure mit der unreflektierten Selbstgerechtigkeit eines Kohler so gefährlich wie das Ungeheuer selbst, ja Fleisch von selben Fleische.  Da Kohler die Handlungen, die zur Entstehung des IS geführt haben, mit ähnlich wilhelminischem Vokabular gerechtfertigt hat, trägt er sein Quentchen Mitschuld an den Toten von Paris. Könnten die Toten noch sprechen, würden sie wohl davon abraten, auf Kohler zu hören. Kohler hätte wohl gerne eine Weltkrieg, so klingt's. Wenn dann Millionen in ihrem Blut ersaufen, sind die Toten von Paris gerächt, bravo, kleiner Mann!

Die Toten soll man beklagen und begraben, die Täter strafrechtlich zur Verantwortung ziehen. Wer sich aber aus den Toten Argumente backt, um künftig noch viel mehr Menschen und Staaten in den Orkus zu ziehen, der ist ein schlechter Mensch.

Und noch eine letzte Bemerkung:  Einen Tag vor den Anschlägen in Paris kostete ein Anschlag in Beirut mehr als vierzig Menschen das Leben. Wie groß war die Reaktion unserer Presse?   Vierzig tote Menschen im Libanon und 129 tote Menschen in Frankreich kann man eben nicht vergleichen.  Meines Wissens hat Kohler darüber kein Wort verloren. Bei der Gelegenheit wurde also nicht "die ganze freie Welt" angegriffen?  Der Libanon hat im Vergleich zu seiner Größe viel mehr Flüchtlinge aufgenommen als wir, aber dadurch wird man ja noch nicht Mitglied unserer Wertegemeinschaft.

Mittwoch, 4. November 2015

Fremdenfreundliche Übergriffe

Bei einer Initiative, die Hilfsangebote für Flüchtlinge entgegennimmt, meldet sich ein bürgerliches Ehepaar, das bereit ist, mit vier syrischen Flüchtlingskindern am ... von ... bis ... in den Zoo zu gehen.  Vier Stück, ohne die Eltern selbstverständlich.

Diejenige, die den Anruf entgegennimmt, erklärt, dass auch Flüchtlinge nicht ohne weiteres wildfremden Menschen ihre Kinder zum Gebrauch überlassen. Die Anrufer dürften aber gerne das Geld für Eintrittskarten in den Zoo spenden. Erbost wird aufgelegt: Da will man helfen, und jetzt das!

[Quelle: Mitarbeiter besagter Initiative.]


Ganz anders ist diese Geschichte:  In Hamburg wurde Suppe an Flüchtlinge verteilt. Zwei Mädchen kamen mit ihren Schalen zurück: Die Suppe schmecke ihnen nicht, ob es Schokolade gebe ?  Ob das nicht wunderschön sei, schrieb mir ein Freund aus Hamburg, der dabei war, dass diese Kinder noch nicht so zerknautscht und in falsche Demut hineingepresst sind, sondern etwas möchten, das ihnen schmeckt.  Da hat er recht. Wie das wohl der Bundespfaff fände?

[Quelle: Der Hamburger Freund.]

Da kann man erwarten

Thomas de Maizière hat letzte Woche festgestellt, Afghanistan stehe "im laufenden Monat und auch im Verlauf des ganzen Jahres inzwischen auf Platz zwei der Herkunftsländer. Das ist inakzeptabel."

"Wir sind uns einig mit der afghanischen Regierung: Das wollen wir nicht."

Schließlich helfe Deutschland seit Jahren (durch Militär, Polizei, und, klar!, Brunnenbauen, ein blühendes Land voller Brunnen ist's inzwischen). "Da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben."

Wie idiotisch diese Sätze angesichts der Verhältnisse in Afghanistan ist, wurde in den Medien schon kommentiert. Da nun aber durch das wunderbare Internet nicht zählt, ob etwas gesagt wurde, sondern vor allem, ob es häufiger als etwas anderes gesagt wurde und bei Google oben steht, sei es hier noch mal gesagt:

Thomas de Maizière ist offenbar verblödet oder hält uns dafür. Berichte wie der Länderbericht 2015  von Amnesty International zu Afghanistan schildern eindeutig ein desolates Land, aus dem zu fliehen es viele gute und asylrechtlich relevante Gründe gibt.  Deutschland hat zur Legitimierung des Krieges gegen/in Afghanistan, an dem es beteiligt war, gerne die Berichte über die Menschenrechtssituation unter den Taliban herangezogen. Für viele, auch viele Frauen ist das Leben jetzt weder besser noch sicherer.

Was ist der Sinn dieser offenbar falschen Sätze? Nun, in der gegenwärtigen Good-Cop-Bad-Cop-Arbeitsteilung muss Merkel ein wenig Humanität mümmeln und de Maizière den immer schon bräunlichen rechten Rand der CDU/CSU-Wähler beruhigen. 

Vor einigen Tagen wurde das Mahnmal zur Erinnerung an die von den Nazionalsozialisten ermordeten Sinti und Roma durch Beschmieren mit einem Hakenkreuz geschändet.  Alle diejenigen, die die Abschiebung der 'Flüchtlinge aus dem Westbalkan' betreiben, von denen, wie jeder weiß aber bei dieser Gelegenheit unerwähnt lässt, viele Roma sind, haben dann brav gegen diesen Akt der Barbarei protestiert.