Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Sonntag, 26. Juni 2016

Krokodile weinen

Großes Geschrei: Der Brexit.

Ich hatte das Haus verlassen, um an einen See zu fahren, und nichts mitbekommen vom Ergebnis der Abstimmung. Im Zug war eine englischsprachige Reisegruppe, der Reiseführer ein in Berlin lebender Brite mit perfekt gestutztem Bart.

Der junge Brite war aufrichtig entsetzt.  Im kurzen Gespräch, das folgte, wurde allerdings klar, dass er zu denjenigen gehört, die sich nicht die Mühe gemacht haben, übertriebene Wirtschaftsorientierung, mangelnde Solidarität und unzureichende Demokratie der EU zu beklagen.  Die Kommission winkt CETA durch? Griechenlands demokratische Entscheidung wird ignoriert, Deutschland vor allen anderen verlangt von den Griechen Opfer, die keine deutsche Regierung überstehen würde? Die Sozialstandards in Europa stehen in einem Wettbewerb nach unten, jetzt bekommen die Franzosen ihren Schröder?  Nichts davon sagt ihm was,  ihm fällt nur der sicher vielfach abgeschriebene Satz ein, die britische Entscheidung können ja nichts mit mangelnder Demokratie in Europa zu tun haben, schließlich habe das UK, haha, ein nicht gewähltes House of Lords.

Und so sieht es bei vielen der schockierten modernen Leute aus, die nicht nur im oberen Drittel der Fresspyramide leben -- das allein ist noch kein Vorwurf, da lebe ich auch, weiter unten wird's sehr ungemütlich -- sondern das nicht wissen und darüber hinaus auch so außerordentlich selbstgefällig und beschränkt sind, nicht zu bemerken, dass dieses Europa seine großen Rechtsversprechen seit geraumer Zeit bricht, und dass darunter vor allem die ärmsten Mitgliedsstaaten nund in allen Mitgliedsstaaten das ärmste Drittel der Bevölkerung leidet.

Der junge Mann ist bestürzt: Das hat die britische AfD (UKIP) oder die britische Pegida vollbracht. So Leute wie Orban und Putin.  Glaubt er nun wirklich, dass die 52% sich nach diesem Schema erklären lassen?

Er glaubt, was für ihn bequem ist.  Die Schuld der Lauwarmen, die die EU achselzuckend vor die Hunde gehen lassen, will er nicht sehen. Er erklärt das Ergebnis durch Ressentiment und absolute Unvernunft.  Es könnte doch alles so schön sein, wären die Leute nicht so blöd.   Passenderweise akzeptiert er auch meine folgende Bemerkung nicht, die Tories hätten sei eh und je antieuropäische Bälle gespielt, so dass ihre Kampagne für den Verbleib in der EU einigermaßen unglaubwürdig war. "Die Tories waren gespalten", sagt er. Ja, zuletzt, und früher recht einig darin, einen britischen Sonderweg zu beschwören.  Diese Zurückweisung ist aber ebensowenig erstaunlich: Es kennzeichnet den inkonsequent liberalen, schicken, relativ wohlhabenden Stadtbewohner, Kritik an der bürgerlichen Rechten zu widersprechen, ja die Unterscheidung zwischen "links und rechts" für überholt zu halten. Und das ist am Ende vor allem eines: rechts. So rechts wie das Europa, das neben seinen schon angedeuteten wirtschaftspolitischen Sünden auch in der Außenpolitik -- oh Friedensnobelpreisträger! -- zum Arm einer keineswegs friedlichen NATO wird. (In dem Assoziationsabkommen mit der Ukraine, das nicht unterzeichnet zu haben Janukowitsch sein Amt kostete, stand nicht nur etwas von Freiheit-Demokratie-Handel, sondern auch verstärkte militärische Zusammenarbeit. Das Abkommen bezeugt einen Geist, der nicht in erster Linie einen zivilen Annäherungsprozess wünscht, sondern in politischen und militärischen Blöcken denkt.  Und folgerichtig haben sich dann die Blockstrukturen wieder verschärft; irgendwem wird's nützen, mir nicht.)
So rechts wie das Europa, das an seinen Außengrenzen Flüchtlinge ersaufen lässt, bzw. mit obskuren Abmachungen in Drittstaaten abschiebt.

Nun haben viele Befürworter des EU-Austritts unter anderem auch Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht. Manchen war die EU in in ihrer heuchlerische verbrämten Inhumanität noch zu human.  Diese Befürworter sind abzulehnen, aus demselben Grund wie die AfD, Pegida und nicht unerhebliche Teile unserer Regierungsparteien (die ja etwa, um uns vor zu vielen Flüchtlingen zu schützen, Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklären, die es nicht sind.)

Durch diesen Aspekt des Brexit wird noch längst nicht die Kitsch-Geschichte war, nach der die Ach-so-Gute-EU-und-mit-ihr-ich-wohlfrisierter-Mittelschichtspross-Vielflieger-und-Grünenwähler nur durch Rechtspopulisten beschädigt wurde.  Hätte die EU ernsthaft versucht, möglichst demokratisch und innen wie außen solidarisch zu sein, und wäre dann GB ausgetreten, ja dann könnte was dran sein.

Wie wär's denn, wir fingen jetzt damit an, die EU zu demokratisieren, statt die Beleidigten zu spielen?   Und versuchten ernsthaft, so zu handeln, dass von den vernünftigen Argumenten gegen die EU keines übrig bliebe?  Um die unvernünftigen müssten wir uns dann noch kümmern.    Eine solche Wandlung ist mit Merkel-Schäuble-Draghi-Hollande-Dijsselbloem-Juncker wahrscheinlich nicht zu haben.  Die Totengräber der EU sollen  Fanatiker vom rechten Rand sein?  Nein; in der politischen Mitte und im Machtzentrum sitzen sie, und deswegen können sie auch so ungestört das Werk von Jahrzehnten zerstören. In der Mitte Europas sitzen die, die nicht an "Europa" als ein vielschichtiges Vereinigungs- und Fortschrittsprojekt, sondern letztlich nur an den Erfolg europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt "glauben". Wertfrei erfolgsorientiertes Pack, das doch die Wertvokabel so gerne benutzt.

Ach ja, die anfangs erwähnte Reisegruppe fuhr sich das KZ Oranienburg ansehen.  Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, darüber sind sich ja alle einig. Wir müssen aber unbedingt die neue Ukraine bewaffnen, die fleißig Denkmäler für Faschisten baut.  (Es liest zwar niemand diesen Blog; sollte es aber anders sein, wäre es bald so weit, mich als Putin-Troll zu identifizieren. Nun war ich aber nach der orangenen Revolution in der Westukraine und fand manches Bandera-Denkmal und in den Zeitungen finster-nationalistisches Geschwurbel vom damals durch den Westen so gelobten Juschtschenko. Schon bei der orangenen Revolution ging es darum, Janukowitsch, "den Mann Russlands", loszuwerden, der doch bei der nächsten oder übernächsten Wahl wieder gewählt wurde, keineswegs enthusiastisch, sondern von desillusionierten Ukrainern als geringeres Übel, nachdem sie zu spät erkannt hatten, dass die Orangene Revolution nicht ihre eigene war, sondern ein Mechanismus, eine korrupte Clique durch eine andere zu ersetzen.  Jahre später dann der Maidan, teilweise die selben Akteure. Wieder die Soros-Stiftung, wieder die Vertreter von EU und USA, wieder Demokratiekitsch und wieder viel zu viel antirussisches Ressentiment und faschistophiler Historismus.  -- Nein, nein. Wir sind die Guten, der Poroschenko ist ein Guter, der Jazeniuk war ein Guter, der Putin ein böser, böse auch Großbritannien, wir machen alles richtig, aber der Putin. Der ist eigentlich am Austritt Großbritanniens schuld. Stand so ähnlich in seriösen Medien geschrieben, echt jetzt, ohne Scheiß.)

 ------- Mak. Blatt

 Es ist recht, sich selbst ins Wort zu fallen: Der Vorschlag, jetzt anzufangen, die EU zu demokratisieren und zu solidarisieren, ist doch eigentlich idealistischer Quatsch. Wenn es die ganze Zeit nicht danach aussah, warum sollte so etwas ausgerechnet jetzt geschehen? Ja, wohl wahr, ich habe Unsinn geredet. Bis auf weiteres wird die EU vor allem ein Vehikel gewisser wirtschaftlichen Interessen sein.  Und in dem Maße, wie das so ist, werden sich noch mehr Mitgliedsstaaten fragen dürfen, ob sie draußen besser dran sind.  Es gibt wird keinen großen Neuanfang geben, sondern ein allmähliches Zerbröckeln, von dem ein Kern vermutlich nicht betroffen sein wird.  Nun, was dann?

Dann wird es möglichst weitgehende bilaterale Verträge zwischen der EU und den abgesplitterten Staaten geben.  In allen Lobreden wird ja hervorgehoben, mit der EU hätten die europäischen Staaten aufgehört, sich in Kriegen zu zerfleischen.  Dasselbe lässt sich aber auch mit anderen Vertragswerken erreichen.  Stabile rechtliche Beziehungen sind auf Dauer das beste Mittel gegen die Kriegsgefahr.  Eine zu eng gefasste Beziehung dagegen kann mit Austrittswünschen auch Ressentiments füttern.  Vielleicht ist eine kleine geschriebene 'eu', die sich nur als  'negatives Surrogat der positiven Idee' eines Weltstaats verstünde,  bei den nach wie vor wirksamen nationalen Egoismen realistischer, gesünder und auf Dauer auch friedlicher. Und in einem gestaffelten System bilateraler Verträge hätten auch die USA und  Russland ihren Platz.  Wir müssen nicht am Bau einer geopolitschen Zone arbeiten, wenn wir es gar nicht können. Wir müssen nicht Souveränität an schwer durchschaubare Handelsabkommen (CETA; TTIP) abgeben, die ja erneut auf Blockbildung hinauslaufen, nur in der wirtschaftlichen Sphäre.  Lieber kleine Verträge, die sich erweitern lassen, wenn sie nicht reichen.  Das ist vielleicht nicht so mitreißend wie mein Märchen vom solidarischen Europa, aber es ist auch keine Katastrophe.

Für die Debatte, wie wir uns Flüchtlingen gegenüber verhalten sollen, ändert sich wenig:  Schon jetzt besteht sie aus lauter nationalen Debatten. Wenn die Auffassung, es handle sich um ein "Europäisches Problem", niemandem, vor allem nicht den Flüchtlingen genutzt hat, vielleicht wären ja sich als souveräner verstehende Staaten eher bereit,  Flüchtlinge großzügig willkommen zu heißen?  (Man könnte sich dann etwa ein Beispiel an Schweden nehmen, das pro Kopf ein Mehrfaches an Flüchtlingen aufgenommen hat als etwa Deutschland, statt mit dem Finger auf ärmere Staaten Europas zu zeigen, weil diese kaum Flüchtlinge aufnehmen wollen. Fragt man die Flüchtlinge, so wollen sie übrigens auch nicht in diese Länder, auf deren desolaten Arbeitsmärkten sie keine Chancen haben.)
Und das Ende des Schengenraums (bedauerlich) wäre zugleich auch das Ende der Dublin-Vereinbarung (erfreulich).

Diese beruhigende Entdramatisierung des Dramas sollte aber nicht vergessen lassen, wer die EU  verraten hat: nicht in erster Linie GB.

Je vais crâcher sur vos tombes!


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p.s.  Die BBC berichtet gerade auf ihrer Website davon, dass einige Labour-Politiker/innen Jeremy Corbyn beschuldigen, am Ergebnis eine Schuld zu tragen, weil er als Kritiker des neoliberalen Europas die Kampagne für den Verbleib in der EU zu glanzlos geführt habe. Ich weiß nun nicht, ob es sich um Blairisten handelt, die die Gelegenheit nutzen wollen, den verhältnismäßig linken Corbyn zu limogieren, aber es könnte schon passen. Im übrigen glaube ich, dass die Pro-Europa-Kampagna eines Kritikers der europäischen Misstände allemal glaubwürdiger war als eine rein positive und damit notwendigerweise verlogene Kampagne gewesen wäre.  Die Werbeweisheit, dass negative Formulierungen dem Verkauf des Produkts  schaden, muss nicht immer stimmen. (Wenn Demokratie nicht reines Manipulationsgeschehen ist, können Wähler auch durch Nachdenken zum Schluss kommen, dass man grinsenden Schleimern, die offensichtlich einen Teil der Wahrheit verschweigen, den anderen Teil nicht unbedingt abnehmen sollte.) Könnten doch empirische Sozialforscher  herausfinden, ob das Ergebnis durch Corbyn knapper ausgefallen ist als es sonst ausgefallen wäre!    --  Die Labour-Party arbeitet so wie die SPD und der PS fleißig daran, die Sozialdemokratie vollends überflüssig zu machen. 

Dienstag, 21. Juni 2016

Der große Kohler

Um darzustellen, dass Berthold Kohler - wie üblich - Unsinn überzeugt vorträgt, genügt es zum Glück, ihn zu zitieren. Vorgestern schrieb er in der FAZ:

Hatte Putin vielleicht Geburtstag und es fehlte noch das Geschenk? Man muss sich wirklich die Augen reiben. Es ist nicht der russische Außenminister, der dem westlichen Verteidigungsbündnis wegen dessen Manöver auf dem Gebiet der östlichen Nato-Staaten „lautes Säbelrasseln“, „Kriegsgeheul“ und das „Anheizen“ der Lage vorwirft, sondern der deutsche. Mit solchen Beschuldigungen garnieren üblicherweise Moskauer Propagandaschmieden die Behauptung, an der Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen sei die Nato schuld.

Nun genügt ein Blick auf die Statistik, um zu sehen, dass die NATO seit Ende des Warschauer Paktes Schritt für Schritt Russland mit Militärbasen umstellt, gegebene Versprechungen dabei schlicht ignorierend.  Kohler begründet sein vertrautes "Wir haben Recht, der Russe nicht" mit der Annexion der Krim.  Auch dabei verschweigt er die vorherige Einmischung des Westens in innere Angelegenheiten der Ukraine - nein, es war nicht nur eine Demokratiebewegung -- , so dass der völlig unblutige, aber vermutlich völkerrechtswidrige Akt auf der Krim nicht nur des Russen Werk, sondern auch Folge anderer mindestens fragwürdige, jedenfalls agressiv gegen Russland gerichteter Akte war.  Was kümmert's den Kohler?

Steinmeier moniert also das Säbelrasseln im größten aller Manöver vor der russischen Grenze. Da muss Kohler natürlich protestieren, da Säbelrasseln zu seinen Plaisirchen gehört (wenn auch am fernen Redaktions-/Stammtisch).

Die Nato-Verbände und ihre Manöver haben einen politischen Zweck: Sie signalisieren Moskau, dass der Westen sich nicht noch einmal von einem Handstreich wie auf der Krim überraschen ließe. Und dass die Nato einen Angriff auf eines ihrer Mitglieder als Angriff auf alle betrachten würde.
Ist es wahr, dass Russland seine Nachbarn bedroht und mit Drohungen in seine Schranken gewiesen werden muss? Als der Westen mehr oder minder die Ukraine  aus einer engen Verbindung mit Russland heraustrennen wollte, hat Russland reagiert, darüber denke jeder, was er will. Aber seinen Machtbereich ausdehnen? Woher denn, er schrumpft von Jahr zu Jahr. Der Westen verbündet sich mit politischen Kräften in den Anreiner-Staaten, auch wenn sie korrupt, gefährlich und rassistisch wären, etwa Saakaschwili in Georgien. Der hat nachweislich einen kleinen Krieg gegen Russland um Südossetien vom Zaun gebrochen,  offenbar in der Hoffnung, die NATO würde mitmachen. Voraussehbar war in der hiesigen Presse zunächst monatelang der Russe der Böse, bis unabhängige Kommissionen die russische Version des Hergangs bestätigten. Über diese wurde dann 'ferner liefen' berichtet, so dass das Durchschnittsbewusstsein von Leuten, die einem Kohler Beifall klatschen, das Ereignis unter "Agressionen Russlands" verbucht haben dürfte. Der aus dem eigenen Land wegen Korruption und  systematischer Verfolgung der Opposition angeklagte Saakashwili setzte sich in die USA ab. Und von dort durfte er kommen, die Ukraine beraten.

Kurzum, es ist nicht wahr, dass Russland irgendwen bedroht. Im geopolitischen Gerangel hat Russland seit 1990 den Kürzeren gezogen. Putin wird u. a. deswegen zur Hassfigur stilisiert, weil er für den Versuch steht, dem Einhalt zu gebieten. Dazu gehören auch Drohgesten, die aber nur unter böswilligem Ignorieren der jüngeren Geschichte als Angriffsdrohung zu verstehen wären.

Kohler wäre sicher froh, wenn's kracht.

Und wir wären froh, wenn Kohler irgendwann als Witzfigur dasteht.  Dazu bräuchte man sich nur deutlich genug an das zu erinnern, was er geschrieben hat.