Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Freitag, 27. November 2015

Der angegeketteten Ente zuhören

Le Canard Enchainé, 18 Novembre 2015

Jetzt ist wieder was passiert! Da muss sofort gehandelt werden, und das heißt: aufmarschiert, gedroht und geschossen, im Inneren und nach Außen. George W. Bush hat im Anschluss an 9/11 unter anderem die Weltgegend in Brand gesetzt,  der sich das gegenwärtige Aufflammen von sich auf den Islam berufenden Terrorismus verdankt.  Und da darf Frankreich keineswegs durch überbordende Vernunft zurückstehen. Handeln ist in solchen Momenten gut, wäre es noch so dumm und planlos. Es ist ein Vergnügen, inmitten des Gebrülls die französische Satirezeitung Le Canard Enchainé zu lesen.
Le droit dans tous ses états

Après un violent traumatisme, les psychiatres conseillent toujours à leurs patients de ne prendre aucune décision importante. Il faut attendre que la la raison l'emporte à nouveau sur l'émotion. Ce conseil avisé devrait être suivi par les responsable politiques. Pas seulement pour s'éviter une place de choix  dans un bêtisier, mais pout épargner de fâcheux dérapages à notre Etat de droit. [...]

Nach einem heftigen Trauma raten Psychiater stets, keine wichtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist nötig zu warten, bis die Vernunft wieder über die Gefühle herrscht. Dieser Rat sollte von den politisch Verantwortlichen befolgt werden. Nicht nur, um  einen ausgesuchten Platz in einem Kabinett der Dummheit zu vermeiden, sondern auch, um unserem Rechtsstaat peinliche Entgleisungen zu ersparen.  [Übers. von mir, leider gibt es keine wirklich elegante Übersetzung von 'bêtisier']
Anschließend lässt Louis-Marie Horeau die angedrohten oder geplanten oder schon durchgeführten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit seit dem 13. November Revue passieren.

In der Ausgabe finden sich neben Karikaturen von Terroristen Karikaturen der Regierung und anderer Politiker, die leider von sich reden machen (Villepin, Sarkozy). Es finden sich Danksagungen des Terrors an George W. Bush und Zitatesammlungen des 'in gerechtem Zorn' aufschäumenden Frankreich, sowie Torheiten aus aller Welt.  Vorschläge, alle, die irgendwie verdächtig sind, einzusperren, kommen aus Sarkozys Partei 'Les Républicains' und dem Front National. Besonders schön aber ist ein Zitat von Donald Trump, der es ja durchaus zum republikanischen Präsidentschaftskandiadaten schaffen könnte, das im Original so lautet:
When you look at Paris -- you know the toughest gun laws in the world, Paris -- nobody had guns but the bad guys. Nobody had guns. Nobody. They were just shooting them one by one and then they (security forces) broke in and had a big shootout and ultimately killed the terrorists. And I tell you what: You can say what you want, but if they had guns, if our people had guns, if they were allowed to carry -- it would've been a much, much different situation.
Der Canard kommentiert: Le port de la kalachnikov pour chacun et la nation sera sauvée.  Ein technischer Kommentar von mir: Wenn es schwer ist, an Waffen zu kommen, ist es auch für Terroristen schwerer.  Für Sprengstoffe gilt das offenbar auch. Der Sprengstoff, den die Täter von Paris mitführten, war wieder mal der dümmste, ungeeignetste Sprengstoff, den jedes Kind herstellen kann (und den ich auch als Kind hergestellt habe, man muss wirklich nicht viel von Chemie verstehen. Nur entzündet er sich bei der kleinsten Erschütterung von selbst, so dass die Chance für die Terroristen, schon vor dem geplanten Anschlag  zu ihren Vätern versammelt zu werden, groß ist.)  Unter der reißerischen Überschrift "Die grausame Professionalität der Attentäter" berichtet das der Spiegel, obwohl doch gerade diese Wahl des Sprengstoffs ausgesprochen unprofessionell ist.

Sonst finden sich in der Ausgabe natürlich die üblichen wöchentlichen Rubriken, darunter die Filmempfehlungen: Filme, die man sehen  kann, Filme die man zur Not sehen kann und Filme, die man nicht sehen kann (genauer: die nicht zu sehen möglich ist.)

Der Canard Enchainé ist eine Zeitung, die man lesen kann.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Und das, eine gute Zeitschrift, die man lesen kann, ist recht selten heute :). Es fällt ja auf, daß die übergroße Mehrheit der JournalistInnen selbst keinerlei Selbstkritik zu kennen scheinen. Daß diverse ehemals linke Szenen rar geworden sind und schon seit 25 Jahren durch allerlei verblasene Gruppen ("Popdiskurs" usw...) ersetzt wurden. Was mich seit 20 Jahren ärgert, bisher aber geht es einfach so weiter.
Die Einseitigkeit, schon so lange, führt dann bizarr genug dazu, daß grade Leute wie Minister Steinmeier, anders als "ironische", "sich selbst reflektierende" Kulturszenen, Feuilletons und die uniformen JournalistInnen, bemerken, wie wenig vielfältig berichtet wird. Sogar Steinmeier fiel zur Berichterstattung etwa zur Ukraine 2013/14 auf, wie immer das Grundböse feststeht, 100 zu 0... So behauptet von den Leuten, die sich noch immer mit "wir stellen fragen. wir haben keine antworten" selbst bezeichnen.
Sogar Peter Sloterdijk, der Retter der Reichen gegen die bösen Armen, der seit fast 20 Jahren erbitterte Kämpfer gegen die böse Frankfurter Schule (Jüngere wissen nicht, was das ist^^) geruhte jüngst im erzkonservativen "Cicero" den Verfall des Journalismus zu bemerken. 20, 25 Jahre nach dem Beginn des Verfalls, den Millionen Menschen überall längst wahrgenommen hatten.
Allerdings sagt das später Erwachen hier nichts. Sloterdijk leugnete in seiner schwachen TV-show vor Jahren auch die Ergebnisse der Klimawissenschaft - mit der üblichen Phrase, das wäre doch vor allem die "deutsche Lust am Untergang" Zur Pariser 21.Klimakonferenz ("beschließen wir nichts bindend, krempeln aber nun, 27 Jahre zu spät, bestimmt die Ärmel hoch, auf auf; na, sind wir nicht sprachgewandt, aber bitte schön weiter privatisieren und bloß keine Kerosinsteuer") drehte er dann mal wieder um.

Steinmeier also bemerkt mit vielen Jahren Verspätung früher als all diese "ironischen" Leute und die JournalistInnen, daß es merkwürdig ist, wenn - davon spricht er nicht, ist ja auch unwichtig - etwa auf Buchmessen ganze Scharen von AutorInnen 100:0 die westliche, aggressive Politik schönreden, all die Kriege nicht bemerken.

Da ist eine Zeitung mit einer anderen Meinung eine Entdeckung! Wenn nur mein französisch besser wäre, warum muß ich auch Sprachen lernen, die fast niemand spricht :).