Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Sonntag, 15. Januar 2017

Nachtrag zu "Neues Jahr..."

Wer  etwas behauptet, macht zugleich deutlich, dass er das Behauptete für "wahr" hält.  Nun sind aber Behauptungen, die sich auf Krieg und Frieden, Syrien und Afghanistan und ähnlich Unübersichtliches beziehen, nicht so leicht zu stützen, daher auch die Vertreter der jeweils gegenteiligen Behauptung die Wahrheit beanspruchen.  Oder etwa nicht?

Im letzten Beitrag erwähnte ich den Beschluss der Bundesregierung, Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben. Die begründende Behauptung, Afghanistan sei ein "sicheres Land", halte ich für falsch, wie auch ProAsyl und eigentlich alle Experten.  Beanspruchen diejenigen, die das behaupten, tatsächlich die Wahrheit?  Das ist nicht möglich, weil zu viele von denselben Personen nicht bestrittene Fakten dem widersprechen. Es muss sich um eine wirkliche Lüge oder einen Fall von "mauvaise foi" handeln. Die Behauptung wird bloß vorgebracht, um etwas politisch Opportunes zu rechtfertigen. Wer so spricht, schafft es entweder, alles zu ignorieren, das der Aussage widerspricht, oder kreuzt die Finger hinterm Rücken.  Dann ist's nicht gelogen vor dem Herrn.

Ein Maßstab für Wahrheit und Falschheit ist Konsistenz. Inkonsistente Meinungen müssen an irgendeiner Stelle falsch sein.  Es ist möglich, dass sich eine große Mehrheit der Gesellschaft für eine gewisse Zeit auf ein widersprüchliches System einigt. Früher oder später aber bricht Inkonsistenz auf, sie trägt anders als die isolierte Lüge den Keim ihrer Überwindung in sich selbst.

Einige Bundesländer fangen damit an, sich zu weigern, nach Afghanistan abzuschieben.  Sie begründen diese Weigerung mit dem Gegenteil dessen, was die Bundesregierung behauptet hat.  Diesmal hat es also nicht lange gedauert, bis auch von Regierungen der Widersprüchlichkeit einer Regierung widersprochen wurde.  Wenn es immer noch opportun ist, die afghanischen Flüchtlinge abzuschieben, werden die Regierungsparteien wohl die Demontage des Asylrechts noch  etwas weiter treiben müssen.  Wir können in Länder abschieben, die sicher sind, und in solche, für die wir die Abschiebung eigens vorsehen.  Im Sprachgebrauch der Asylpakete heißen solche Länder "sicher".

Noch eine kleine Bemerkung: Die Konjunktur des Wortes "postfaktisch" ist einigermaßen peinlich. Es ist doch nichts Neues daran, dass in der politischen und öffentlichen Sphäre sich widersprechende Behauptungen miteinander streiten, und dass von diesen viele unwahr sind, sei es aus Lüge, sei es durch Unwissenheit oder aus "mauvaise foi".  Die Lügen werden bunt durcheinander von einzelnen, Gruppen, Parteien oder Regierungen vorgetragen.  Es lohnt sich, nach besonderen neuen Eigenschaften des gerade erstarkenden Rechtspopulismus zu suchen; das Verhältnis zur Wahrheit ist keine davon.   Und wer behauptet, wir hätten jetzt auf einmal ein postfaktisches Zeitalter, tja, der spricht die Wahrheit nicht, denn wir hatten es immer schon.


Nachtrag zum Nachtrag, im Juni 2017

Vorübergehend sind die Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt, es ging nämlich eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft hoch. Als Erklärung für die vorübergehende Aussetzung wird natürlich nicht das Leben, bzw. die Sicherheitslage in Afghanistan herangezogen, sondern die vorübergehend in ihrer Arbeit behinderte Botschaftsbürokratie. 

Schwer fällt es, nicht zu denken, die Aussetzung wolle vor allem vermeiden, dass die Bevölkerung die Abschiebungen und die ganzen Lügengeschichte über das auch dank "unserem" Einsatz wieder sicher gewordenen Afghanistan womöglich in Frage stellt. Die afghanischen Anschläge schaffen es für gewöhnlich nicht bis zur bewussten Wahrnehmung durchs deutsche Publikum. Sobald es aber bei der deutschen Botschaft rumst, werden die Ohren aufgestellt. Jetzt könnten die unangenehmen Fragen von unserer leider lammfrommen Presse gestellt worden. Also wird vorübergehend nicht abgeschoben, bis so viel Gras über die Sache gewachsen ist, dass nach der Abschieberei wieder kein Hahn mehr kräht.

Samstag, 7. Januar 2017

Neues Jahr, alter Käse

Zur Kenntnis

Angriffe auf Asylbewerber

Im Jahr 2016 wurden bis zum 27. Dezember laut Auskunft des BKA 921 Delikte gegen Asylbewerberunterkünfte verübt, davon mehr als 150 Gewalttaten, wozu 66 Brandstiftunten und 4 Sprengstoffexplosionen gehören. Die Amadeu-Antonio-Stiftung unterhält eine eigene Statistik , in der 1839 Angriffe auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte gezählt werden, davon 104 Brandanschläge und 349 Körperverletzungen. Ein großer Mangel der BKA-Statistik wird hier behoben, nämlich die Zahl der Verletzten nicht zu erheben: Es handelt sich um 458 Verletzte.  Dass es bei den Brandstiftungen nicht zu Todesfällen kam, ist ein glücklicher Zufall. Es wäre zu viel des guten Willens, den Rassisten zu unterstellen, sie hätten Opfer vermeiden wollen. Eher wohl vermute ich, dass sie nach dem siebten und vor dem achten Bier so große Mühe hatten, sich nicht zu bepissen, dass sie es besser nicht mehr hinbekamen.

Abschieben, Abweisen

2016 wurden 20000 Einreisen verweigert, es gab 55000 freiwillige Ausreisen und 25000 Abschiebungen. Wieviele der Abgewiesenen oder Abgeschobenen inzwischen zugrundegegangen sind, ist unbekannt. Bei der Überfahrt nach Europa starben 2016 mindestens 5000 Menschen.(Auf die Verantwortung, die die EU dafür tägt, wurde hier schon hingewiesen.)

Eine Bemerkung

Eine Abschiebung ist staatliche, politisch sanktionierte Gewalt, die sich gegen die Flüchtlinge als Flüchtlinge richtet. Bei den Anschlägen handelt es sich um rassistisch oder politisch motivierte Taten von einzelnen oder Banden gegen Flüchtlinge als Flüchtlinge.

Die rechte Mitte dieser Gesellschaft findet das mitunter wenig empörend und stellt gern die Straftaten dagegen, die von einem gewissen Teil der Flüchtlinge begangen werden.  Dabei werden Beispiele gewöhnlicher Kriminalität in einer Weise angeführt, als rechtfertigten diese politische Gewalt gegen die ganze Gruppe. (Es handelt sich bei Straftaten von Flüchtlingen weit überwiegend um gewöhnliche, unpolitische Kriminalität, die mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt wird. Wieso sollte sie mit anderen Mitteln verfolgt werden?)

Noch jeder Rassismus ließe sich so rechtfertigen: "Weil unter euch einige Kriminelle existieren, können wir euch in eurer Gesamtheit ablehnen."

Es ist  außerdem nicht so klar, wie hoch diese Straffälligkeit im Vergleich zur  Straffälligkeit der sonstigen Bevölkerung ist.  Ein einziger Fall von politisch motivierter Gewalt durch einen Flüchtling wird nun zu einer großen Bedrohung aufgeblasen, einige scheinen nur auf so etwas gewartet zu haben:

Das Attentat/der Amoklauf  vom Breitscheidplatz: 12 Tote, 45 Verletzte.

Man kann nichts verrechnen

Die Nebeneinanderstellung solcher Daten möchte keine Verrechnung suggerieren, keine Rechtfertigung, keine Verhältnismäßigkeit. Sie wendet sich nur gegen die Isolierung eines Faktums, auf dem sich anschließend herumtrommeln lässt.  Es gab 458 durch Rassisten verletzte Flüchtlinge, deren Tod etwa durch Verbrennen in vielen Fällen wohl in Kauf genommen wurde, es gab zigtausend Abschiebungen, es gab 12 Tote und 45 verletzte Besucher auf dem Weihnachtsmarkt vom Breitscheidplatz. All das gab es; wer nur von einem und nicht von anderem spricht, der findet die einen Opfer wohl wichtiger als die anderen.  Wer nur von einem spricht, der macht sich der Verrechnung von Gewaltopfern schuldig. (Der Vorwurf wird ja meist umgekehrt gegen diejenigen vorgebracht, die Opferzahlen gegeneinander halten. Verdient haben ihn nur die, die die einen Opfer durch die anderen rechtfertigen. Noch infamer ist, die einen Opfer gar nicht zu erwähnen.)

Ein Beispiel für derlei Einseitigkeit?

Jasper von Altenbockum kommentiert in der FAZ vom 5.1.2017 die Stellungnahmen der Behörden zu der Tatsache, dass Anis Amri zwar als Gefährder galt, aber es -- im Rahmen rechtsstaatlichen Vorgehens -- nicht für eine Verhaftung reichte:
[...] Es ist schön, in Zeiten, in denen Grenzen etwas Böses sind und Deutschland offen sein soll wie ein Scheunentor, von den Grenzen des Rechtsstaats zu hören. Man fragt sich dann allerdings angesichts all dieser Nachrichten: Setzt sich dieser Rechtsstaat seine Grenzen noch selbst? Beginnt er nicht wenigstens dort, wo sich jemand weigert, seine Herkunft preiszugeben? Wo Sozialbetrug und Asylmissbrauch zur Tagesordnung gehören? Wenn sich der deutsche Rechtsstaat, wie es 2015 und auch 2016 noch geschehen ist, derart auf der Nase herumtanzen lässt, liegt seine Grenze nicht dort, wo Unrecht beginnt, sondern wo er sich für dumm verkaufen lässt.
Wir wären demnach viel zu gut? Dass Flüchtlinge bisweilen ohne Ausweise fliehen müssen, ist eine Sache, dass nicht wenige ihre Ausweise wegwerfen, um nicht abgeschoben zu werden, eine andere. Die Abschiebepraxis ist bei den allermeisten, die das tun, der unmittelbare Grund für das Verschleiern der Herkunft.

Daraus folgt aber keineswegs, dass es sich dabei um Asylmissbrauch handelt. Denn wer nicht in das "sichere" Bürgerkriegsland Afghanistan abgeschoben werden will und seinen afghanischen Pass verbrennt, der wäre ja wohl kein Betrüger, wohl aber triebe ihn unser Staat, der eine Abschiebung nach Afghanistan für rechtens erklärt, in formalen Betrug.

[Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Lagebeschreibungen der afghanischen Armee und ihrer Verbündeten (über 5000 Tote bis September 2016, Taliban auf dem Vormarsch) und die Statistik der terroristischen Anschläge sprechen eine eindeutige Sprache: Nicht der Asylbewerber betrügt, sondern die Abschiebebefürworter in der BRD lügen. Nur zu den Anschlägen, weil es so leicht ist, derlei zu ignorieren: 19. 12., Kundus (1 Toter, 22 Verletzte), 25. November, Jalalbad (6 Tote, 27 Verletzte,), 21. November, Kabul (27 Tote, 35 Verletzte), 16. November, Kabul 4 Tote, 11 Verletzte, 12. November, Provinz Parwan (4 Tote, 18 Verletzte), 10. November, Mazar-e-Sharif (8 Tote, 120 Verletzte), 4. November, Provinz Faryab (12 Tote, 30 Verletzte), 1. November, Provinz Parwan (7 Tote). Der September war ruhiger, aber 5. September, Kabul (24 Tote, 90 Verletzte). Es ist ermüdend, nicht wahr. Nun nur noch die Allergrößten: 23. Juli, Kabul (80 Tote, mind. 231 Verletzte), 30. Juni, Kabul (30 Tote, 40 Verletzte), 19. April, Kabul (64 Tote, 340 Verletzte). (Quelle: Wikipedia , dort auch Belege. Liste vermutlich nicht vollständig.) So sieht ein sicheres Herkunftsland aus. Und das waren nur die Anschläge. Gewalt gegen Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Erpressung und Zwangsrekrutierung ließen sich noch recherchieren. Aber wer möchte das schon, wenn die Bundeswehr "uns" "am Hindukusch verteidigt" hat, und dort jetzt nichts besser ist als vor unserem glorreichen "Einsatz für die Menschenrechte"?]

Anständig bleiben?

Statt auf Reaktionäre vom Schlage Altenbockums zu hören, wäre unsere Gesellschaft gut beraten, anständig zu bleiben. Die Gründe, aus denen das Asylrecht ins Grundgesetz Eingang fand, bestehen weiter. Die meisten Flüchtlinge fliehen nachweislich vor Gewalt (siehe: Anerkennungsquoten). Und diejenigen, die "nur" vor niederschmetternder Armut oder kompletter Chancenlosigkeit in korrupten Diktaturen fliehen, wollen auch nichts weiter, als sich hier ein Leben aufbauen. Ein Satz wie dieser (wieder Altenbockum, 7.1.2017)
Um welche Schwachstelle geht es? Das Asylrecht ist zum Einfallstor für Kriminalität geworden – am Beispiel nordafrikanischer Bewerber wird jetzt deutlich, wie groß das Ausmaß ist und wie groß über Jahre auf der politischen Bühne die Bereitschaft war, das Problem zu ignorieren.
kann nur als Brandstiftung bezeichnet werden. Trotz aller gegenteiligen Kassandra-Rufe hat Deutschland verhältnismäßig wenig Kriminalität, auch unter Flüchtlingen ist sie nicht hoch.

Was nun "tun" gegen politisch (oder rassistisch oder religiös) motivierte Gewalt?

Ideologisch motivierte Gewalttaten gegen Personen sollten  - wie andere auch - durch die Justiz geahndet werden (und dabei handelt es sich hierzulande vor allem um rechtsextreme Taten.)

Gegen die ideologische Vorbereitung (rechtsextrem; islamistisch; was auch immer) von Straftaten ist vermutlich kein einfaches und vor allem kein schnell wirkendes Kraut gewachsen. Es könnte aber schon helfen, sich mit einer Gesellschaft, die niemanden ausschließt, Mühe zu geben und nicht von offizieller Stelle Ressentiments anzuheizen. (Beachten Sie den lautesten Ruf von staatlichen Stellen und Parteien: mehr Geheimdienste! mehr Befugnisse für Polizei und Geheimdienste!  Der ertönte nicht nach Hunderten von Anschlägen auf Asylunterkünfte, sondern nach einem Attentat/Amoklauf. Nicht nur deswegen ist dieser Ruf verworren. Der Attentäter Amri war ja sogar geheimdienstlich erfasst, nur  war die Beurteilung der von ihm ausgehenden Gefahr falsch.  Das Gespenst großer islamistischer Netzwerke, die Anschläge planen, hat sich in Europa bisher nicht verwirklicht, sondern die Taten wurden einigermaßen privat geplant.  Wieviel Geheimdienst soll es denn sein, um Taten vorherzusagen, die Hans oder Ahmed in ihrem Wohnzimmer ausbrüten?)

Und außerdem sollten Kriege und Bürgerkriege in anderen Ländern nach Möglichkeit nicht angeheizt werden. Das Zerbomben Libyens und des Iraks hat IS und an andere radikale Gruppen hervorgebracht. Und die scheinheilige Unterstützung der syrischen Aufständischen bei gleichzeitiger Dämonisierung der syrischen Regierung (und der russischen) mag sich auch einmal rächen, denn auch dort haben "wir" den Krieg befeuert. Kriege ziehen Berufsgewalttäter heran und senken allgemein -- auch an anderen Orten -- die Schwellen der Gewalt, das gilt auch für Kriege, die unter "Freemanmoxy"-Rufen vom Zaun gebrochen werden. Menschenrechtsdiskurse, die auf Völkerrecht verzichten zu können glauben, machen Menschenrechte zum Mittel der Gewaltlegitimation. Damit verkehren sie diese in ihr Gegenteil, denn sie sind entstanden als Normen zur Abwehr staatlicher Gewalt, die sich demokratisch entfalten sollten. Eine künftige demokratische Entwicklung Syriens wird vorweggenommen, indem man die "richtigen" unterstützt, die sich hernach als die Falschen erweisen. Immer wieder der törichte Versuch, ein Resultat ohne die zu ihm hin führende Entwicklung zu bekommen.  Übrigens schießen deutsche Gewehre auf seiten der Islamisten mit. Die mögen sie von den Saudi-Arabien und Qatar, zwei Hauptabnehmern deutscher Waffen bekommen haben.

Gemeinplätze, Altbekanntes... ja doch, warum sollten auf ein altes Problem unbedingt neue Antworten her?

Es kann nicht angehen, dass Deutschland sich als "Opfer" geriert, seinen Ort im Gewaltzusammenhang der Welt verschweigt und sich aus dieser Opferrolle ein Argument bastelt, seinen verfassungsmäßigen und völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachzukommen, bzw. die Verfassung in Richtung auf mehr Überwachungsmöglichkeiten und weniger Hilfsverpflichtungen zu ändern.

Es geht aber an, gelle?