Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Samstag, 7. Januar 2017

Neues Jahr, alter Käse

Zur Kenntnis

Angriffe auf Asylbewerber

Im Jahr 2016 wurden bis zum 27. Dezember laut Auskunft des BKA 921 Delikte gegen Asylbewerberunterkünfte verübt, davon mehr als 150 Gewalttaten, wozu 66 Brandstiftunten und 4 Sprengstoffexplosionen gehören. Die Amadeu-Antonio-Stiftung unterhält eine eigene Statistik , in der 1839 Angriffe auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte gezählt werden, davon 104 Brandanschläge und 349 Körperverletzungen. Ein großer Mangel der BKA-Statistik wird hier behoben, nämlich die Zahl der Verletzten nicht zu erheben: Es handelt sich um 458 Verletzte.  Dass es bei den Brandstiftungen nicht zu Todesfällen kam, ist ein glücklicher Zufall. Es wäre zu viel des guten Willens, den Rassisten zu unterstellen, sie hätten Opfer vermeiden wollen. Eher wohl vermute ich, dass sie nach dem siebten und vor dem achten Bier so große Mühe hatten, sich nicht zu bepissen, dass sie es besser nicht mehr hinbekamen.

Abschieben, Abweisen

2016 wurden 20000 Einreisen verweigert, es gab 55000 freiwillige Ausreisen und 25000 Abschiebungen. Wieviele der Abgewiesenen oder Abgeschobenen inzwischen zugrundegegangen sind, ist unbekannt. Bei der Überfahrt nach Europa starben 2016 mindestens 5000 Menschen.(Auf die Verantwortung, die die EU dafür tägt, wurde hier schon hingewiesen.)

Eine Bemerkung

Eine Abschiebung ist staatliche, politisch sanktionierte Gewalt, die sich gegen die Flüchtlinge als Flüchtlinge richtet. Bei den Anschlägen handelt es sich um rassistisch oder politisch motivierte Taten von einzelnen oder Banden gegen Flüchtlinge als Flüchtlinge.

Die rechte Mitte dieser Gesellschaft findet das mitunter wenig empörend und stellt gern die Straftaten dagegen, die von einem gewissen Teil der Flüchtlinge begangen werden.  Dabei werden Beispiele gewöhnlicher Kriminalität in einer Weise angeführt, als rechtfertigten diese politische Gewalt gegen die ganze Gruppe. (Es handelt sich bei Straftaten von Flüchtlingen weit überwiegend um gewöhnliche, unpolitische Kriminalität, die mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt wird. Wieso sollte sie mit anderen Mitteln verfolgt werden?)

Noch jeder Rassismus ließe sich so rechtfertigen: "Weil unter euch einige Kriminelle existieren, können wir euch in eurer Gesamtheit ablehnen."

Es ist  außerdem nicht so klar, wie hoch diese Straffälligkeit im Vergleich zur  Straffälligkeit der sonstigen Bevölkerung ist.  Ein einziger Fall von politisch motivierter Gewalt durch einen Flüchtling wird nun zu einer großen Bedrohung aufgeblasen, einige scheinen nur auf so etwas gewartet zu haben:

Das Attentat/der Amoklauf  vom Breitscheidplatz: 12 Tote, 45 Verletzte.

Man kann nichts verrechnen

Die Nebeneinanderstellung solcher Daten möchte keine Verrechnung suggerieren, keine Rechtfertigung, keine Verhältnismäßigkeit. Sie wendet sich nur gegen die Isolierung eines Faktums, auf dem sich anschließend herumtrommeln lässt.  Es gab 458 durch Rassisten verletzte Flüchtlinge, deren Tod etwa durch Verbrennen in vielen Fällen wohl in Kauf genommen wurde, es gab zigtausend Abschiebungen, es gab 12 Tote und 45 verletzte Besucher auf dem Weihnachtsmarkt vom Breitscheidplatz. All das gab es; wer nur von einem und nicht von anderem spricht, der findet die einen Opfer wohl wichtiger als die anderen.  Wer nur von einem spricht, der macht sich der Verrechnung von Gewaltopfern schuldig. (Der Vorwurf wird ja meist umgekehrt gegen diejenigen vorgebracht, die Opferzahlen gegeneinander halten. Verdient haben ihn nur die, die die einen Opfer durch die anderen rechtfertigen. Noch infamer ist, die einen Opfer gar nicht zu erwähnen.)

Ein Beispiel für derlei Einseitigkeit?

Jasper von Altenbockum kommentiert in der FAZ vom 5.1.2017 die Stellungnahmen der Behörden zu der Tatsache, dass Anis Amri zwar als Gefährder galt, aber es -- im Rahmen rechtsstaatlichen Vorgehens -- nicht für eine Verhaftung reichte:
[...] Es ist schön, in Zeiten, in denen Grenzen etwas Böses sind und Deutschland offen sein soll wie ein Scheunentor, von den Grenzen des Rechtsstaats zu hören. Man fragt sich dann allerdings angesichts all dieser Nachrichten: Setzt sich dieser Rechtsstaat seine Grenzen noch selbst? Beginnt er nicht wenigstens dort, wo sich jemand weigert, seine Herkunft preiszugeben? Wo Sozialbetrug und Asylmissbrauch zur Tagesordnung gehören? Wenn sich der deutsche Rechtsstaat, wie es 2015 und auch 2016 noch geschehen ist, derart auf der Nase herumtanzen lässt, liegt seine Grenze nicht dort, wo Unrecht beginnt, sondern wo er sich für dumm verkaufen lässt.
Wir wären demnach viel zu gut? Dass Flüchtlinge bisweilen ohne Ausweise fliehen müssen, ist eine Sache, dass nicht wenige ihre Ausweise wegwerfen, um nicht abgeschoben zu werden, eine andere. Die Abschiebepraxis ist bei den allermeisten, die das tun, der unmittelbare Grund für das Verschleiern der Herkunft.

Daraus folgt aber keineswegs, dass es sich dabei um Asylmissbrauch handelt. Denn wer nicht in das "sichere" Bürgerkriegsland Afghanistan abgeschoben werden will und seinen afghanischen Pass verbrennt, der wäre ja wohl kein Betrüger, wohl aber triebe ihn unser Staat, der eine Abschiebung nach Afghanistan für rechtens erklärt, in formalen Betrug.

[Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Lagebeschreibungen der afghanischen Armee und ihrer Verbündeten (über 5000 Tote bis September 2016, Taliban auf dem Vormarsch) und die Statistik der terroristischen Anschläge sprechen eine eindeutige Sprache: Nicht der Asylbewerber betrügt, sondern die Abschiebebefürworter in der BRD lügen. Nur zu den Anschlägen, weil es so leicht ist, derlei zu ignorieren: 19. 12., Kundus (1 Toter, 22 Verletzte), 25. November, Jalalbad (6 Tote, 27 Verletzte,), 21. November, Kabul (27 Tote, 35 Verletzte), 16. November, Kabul 4 Tote, 11 Verletzte, 12. November, Provinz Parwan (4 Tote, 18 Verletzte), 10. November, Mazar-e-Sharif (8 Tote, 120 Verletzte), 4. November, Provinz Faryab (12 Tote, 30 Verletzte), 1. November, Provinz Parwan (7 Tote). Der September war ruhiger, aber 5. September, Kabul (24 Tote, 90 Verletzte). Es ist ermüdend, nicht wahr. Nun nur noch die Allergrößten: 23. Juli, Kabul (80 Tote, mind. 231 Verletzte), 30. Juni, Kabul (30 Tote, 40 Verletzte), 19. April, Kabul (64 Tote, 340 Verletzte). (Quelle: Wikipedia , dort auch Belege. Liste vermutlich nicht vollständig.) So sieht ein sicheres Herkunftsland aus. Und das waren nur die Anschläge. Gewalt gegen Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Erpressung und Zwangsrekrutierung ließen sich noch recherchieren. Aber wer möchte das schon, wenn die Bundeswehr "uns" "am Hindukusch verteidigt" hat, und dort jetzt nichts besser ist als vor unserem glorreichen "Einsatz für die Menschenrechte"?]

Anständig bleiben?

Statt auf Reaktionäre vom Schlage Altenbockums zu hören, wäre unsere Gesellschaft gut beraten, anständig zu bleiben. Die Gründe, aus denen das Asylrecht ins Grundgesetz Eingang fand, bestehen weiter. Die meisten Flüchtlinge fliehen nachweislich vor Gewalt (siehe: Anerkennungsquoten). Und diejenigen, die "nur" vor niederschmetternder Armut oder kompletter Chancenlosigkeit in korrupten Diktaturen fliehen, wollen auch nichts weiter, als sich hier ein Leben aufbauen. Ein Satz wie dieser (wieder Altenbockum, 7.1.2017)
Um welche Schwachstelle geht es? Das Asylrecht ist zum Einfallstor für Kriminalität geworden – am Beispiel nordafrikanischer Bewerber wird jetzt deutlich, wie groß das Ausmaß ist und wie groß über Jahre auf der politischen Bühne die Bereitschaft war, das Problem zu ignorieren.
kann nur als Brandstiftung bezeichnet werden. Trotz aller gegenteiligen Kassandra-Rufe hat Deutschland verhältnismäßig wenig Kriminalität, auch unter Flüchtlingen ist sie nicht hoch.

Was nun "tun" gegen politisch (oder rassistisch oder religiös) motivierte Gewalt?

Ideologisch motivierte Gewalttaten gegen Personen sollten  - wie andere auch - durch die Justiz geahndet werden (und dabei handelt es sich hierzulande vor allem um rechtsextreme Taten.)

Gegen die ideologische Vorbereitung (rechtsextrem; islamistisch; was auch immer) von Straftaten ist vermutlich kein einfaches und vor allem kein schnell wirkendes Kraut gewachsen. Es könnte aber schon helfen, sich mit einer Gesellschaft, die niemanden ausschließt, Mühe zu geben und nicht von offizieller Stelle Ressentiments anzuheizen. (Beachten Sie den lautesten Ruf von staatlichen Stellen und Parteien: mehr Geheimdienste! mehr Befugnisse für Polizei und Geheimdienste!  Der ertönte nicht nach Hunderten von Anschlägen auf Asylunterkünfte, sondern nach einem Attentat/Amoklauf. Nicht nur deswegen ist dieser Ruf verworren. Der Attentäter Amri war ja sogar geheimdienstlich erfasst, nur  war die Beurteilung der von ihm ausgehenden Gefahr falsch.  Das Gespenst großer islamistischer Netzwerke, die Anschläge planen, hat sich in Europa bisher nicht verwirklicht, sondern die Taten wurden einigermaßen privat geplant.  Wieviel Geheimdienst soll es denn sein, um Taten vorherzusagen, die Hans oder Ahmed in ihrem Wohnzimmer ausbrüten?)

Und außerdem sollten Kriege und Bürgerkriege in anderen Ländern nach Möglichkeit nicht angeheizt werden. Das Zerbomben Libyens und des Iraks hat IS und an andere radikale Gruppen hervorgebracht. Und die scheinheilige Unterstützung der syrischen Aufständischen bei gleichzeitiger Dämonisierung der syrischen Regierung (und der russischen) mag sich auch einmal rächen, denn auch dort haben "wir" den Krieg befeuert. Kriege ziehen Berufsgewalttäter heran und senken allgemein -- auch an anderen Orten -- die Schwellen der Gewalt, das gilt auch für Kriege, die unter "Freemanmoxy"-Rufen vom Zaun gebrochen werden. Menschenrechtsdiskurse, die auf Völkerrecht verzichten zu können glauben, machen Menschenrechte zum Mittel der Gewaltlegitimation. Damit verkehren sie diese in ihr Gegenteil, denn sie sind entstanden als Normen zur Abwehr staatlicher Gewalt, die sich demokratisch entfalten sollten. Eine künftige demokratische Entwicklung Syriens wird vorweggenommen, indem man die "richtigen" unterstützt, die sich hernach als die Falschen erweisen. Immer wieder der törichte Versuch, ein Resultat ohne die zu ihm hin führende Entwicklung zu bekommen.  Übrigens schießen deutsche Gewehre auf seiten der Islamisten mit. Die mögen sie von den Saudi-Arabien und Qatar, zwei Hauptabnehmern deutscher Waffen bekommen haben.

Gemeinplätze, Altbekanntes... ja doch, warum sollten auf ein altes Problem unbedingt neue Antworten her?

Es kann nicht angehen, dass Deutschland sich als "Opfer" geriert, seinen Ort im Gewaltzusammenhang der Welt verschweigt und sich aus dieser Opferrolle ein Argument bastelt, seinen verfassungsmäßigen und völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachzukommen, bzw. die Verfassung in Richtung auf mehr Überwachungsmöglichkeiten und weniger Hilfsverpflichtungen zu ändern.

Es geht aber an, gelle?

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

In unzähligen Gesprächen fällt auf, daß kaum ein Zehntel aller guten Argumente hier, dafür leider allzu viel aus der Richtung etwa Jasper von Altenbockums in den Köpfen sitzen und wiederholt werden.
Gestern gab es in Hamburg eine Demonstration gegen die Abschiebung nach Afghanistan - Hamburgs rot-grüner Senat gefällt sich als sogenannte "hardliner"-Regierung). Am Rand der Demonstration hörte ich mehrere Leute in der Einkaufsstraße, die in etwa so redeten wie eine Frau aus der oberen Mittelklasse mit ihrem Mann:

"Daß die überhaupt demonstrieren dürfen, das ist eine Frechheit".

Diese Dame hat vergessen, was Grundrechte sind. Sie ist, ob sie nun Zeit, Spiegel, Focus, die Süddeutsche, die FAZ oder welche Blätter immer liest, mit Sicherheit nicht umfassend über die Wirklichkeit um sie herum informiert, sondern bebte vor Zorn. Sie hielt sich mit großer Sicherheit für fein ausgewogen und möchte Demonstrationen verbieten lassen. Die Selbstgerechtigkeit solcher Leute nimmt einem den Atem... "Die da" haben "das in Berlin" getan. Es fängt schon an, daß man abfällig "die Muselmanen" von solchen Damen und Herren aus der "Bildungsbürger"schicht hört...

Zwei stigmatisierte, arme junge Frauen riefen mir "alle ausweisen, alle raus, genauso nach Syrien!" zu. Sie fühlten sich keineswegs als hartherzige Frauen, die Leute abschieben wollen. Sie hassen einfach "diese viel zuvielen Leute aus Afrika", Zitat, und sind vermutlich ein Beispiel dafür, wie in einer unsolidarischen Gesellschaft wie unserer seit nun doch schon mehr als 15 Jahren grade die einander bekämpfen, die zusammenhalten müssten, soll sich etwas verbessern.

Erfreulich war, daß der NDR die Demonstration vom 7.Januar zwar kleiner redete, als sie war (mit Sicherheit mehr als "800", leider sehr wenige deutsche Interessierte unter den vielen afghanischen Männern und Frauen) - aber sonst sehr fair berichtete. Unsere Argumente von verschiedenen Gruppen wurden in einen zwei-minütigen Beitrag auch wirklich gebracht. Das ist nicht alltäglich, die "Tagesschau" danach gefiel sich wie oft in arger Einseitigkeit zu verschiedenen überregionalen Themen.
Sollte es jemand interessieren: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Protest-gegen-Abschiebungen-nach-Afghanistan,hamj52936.html

Das Problem bleibt, daß vielleicht 4 000 Menschen bei Eisregen auf die Straße gingen. Nicht 200 000, die dann das Thema auch weiter verfolgen würden, dem rot-grünen Hamburger Senat ihre Meinung kundtun würden.
Und das Problem bleibt, daß weder talkshows noch die meisten Sendungen allein der öffentlich-rechtlichen Medien darstellen, was Du in diesem Beitrag dargestellt hast. Die Dame, die die Demos ganz verbieten lassen will, kann sich auf dem Sofa bequem toll fühlen, ob sie nun Jasper von Altenbockum liest oder Anne Will, Plasberg oder wen immer schaut. Dabei ist sie gegen banalste Grundrechte, die das Grundgesetz absichert...