Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Dienstag, 8. Dezember 2009

Die 'Klimaskeptiker' sind keine Skeptiker, sondern Dogmatiker

Skepsis ist eine schöne Praxis der Urteilsenthaltung, die aber wohl niemand je durchgehalten hat.

Diejenigen, die sich im Hinblick auf den anthropogenen Klimawandel 'Skeptiker' nennen, gehen meist mit starken Gegenthesen hausieren und sind darin eben keine Skeptiker. Echte Skepsis beschränkt sich darauf, diejenigen, die so viel behaupten, in Widersprüche zu verstricken, und wendet sich gegen Theorien überhaupt.

Wenn sich dagegen einer, der etwas in den Wissenschaften vielfältig Belegtes leugnet, Skeptiker nennt, so möchte er bloß vom feinen Klang der Bezeichnung profitieren. In Wahrheit kann er aber nur sagen: "Ich glaube nicht an die nach dem Stand der Wissenschaften plausibelste Behauptung und bin resistent gegen die wissenschaftlichen Argumente." Sie picken sich isolierte Statements aus der Wissenschaft, die sich nur als Ganze der Wahrheit annähern kann. Sie erkennen 'im Prinzip' Wissenschaft an, verhalten sich aber unwissenschaftlich zu deren Ergebnissen. (Es gibt dagegen wissenschaftsintern nicht wenige, die an bestimmten Aussagen, die die Mehrheit der übrigen vertritt, zweifeln und ihre Zweifel wissenschaftlich begründen. Sie ziehen allerdings nicht unter dem feinen Etikett durch die Medien, sondern veröffentlichen interessante Artikel mit langweiligen Titeln in Fachzeitschriften.)

Die, die sich als Skeptiker bezeichnen, wollen Avantgarde sein. In Wahrheit vertreten sie aber ein altes Modell gegen das durch neue Forschung belegte neue Modell. Sie nennen sich 'Kugelskeptiker', weil sie daran festhalten, die Erde sei eine Scheibe.

Um die Mehrheit der Daten ignorieren zu könne, unterstellen sie, je nachdem, Absprachen, Verschwörungen oder das finanzielle und soziale Interesse der Beteiligten. Diese Art von Unterstellung kann aber nun genau so gut auf die selbst ernannten Skeptiker zurückschlagen. Das 'corporate interest' an der Leugnung des anthropogenen Klimawandels ist gewaltig (gemessen am Umsatz etwa der Mineralölkonzerne). Die finanzielle Unterstützung von 'Skepsis'-Kampagnen wurde immer mal wieder nachgewiesen. Unter den Multiplikatoren der Nachricht vom 'Climategate' können auch Söldner sein. So etwas ist aber eine Unterstellung und kein Argument. Argumente müssen sich auf die Sache beziehen, das tun sie aber selten, allein schon weil 'die Sache' zu kompliziert ist. Welcher unter den so genannten Skeptikern hat überhaupt einen Begriff vom statistischen Problem, die Oberflächentemperaturen auf der Erde zu verschiedenen Zeiten zu schätzen?

Sie nennen ihre Gegner 'Dogmatiker', wie es sich für Skeptiker gehören würde. Nur sind sie eben selbst Dogmatiker, denn sie stützen andere Behauptungen. Und man kann sagen: Wer Behauptungen gegen besonders viel Evidenz stützt, ist ein besonders großer Dogmatiker. Da die Wissenschaft sich irren kann, können solche Dogmatiker manchmal gegen die Wissenschaft Recht behalten. Das macht deren Verhalten allerdings nicht zu einem vernünftigen.

Es scheint aber so zu sein, dass dieses Mal kaum ein seriöses Medium auf diese Skepsis-Masche hereinfällt. Und vielleicht klappt ja irgendwas in Kopenhagen.

Donnerstag, 26. November 2009

Bildung, Integration und so weiter

Es soll um einen Fall gehen, der daran erinnert, wie verbesserungswürdig unsere Institutionen und Gesetze sind. Zunächst aber eine

Vorrede

Unser Fall weist auf einen bestimmten Mangel des Berliner Schulgesetzes hin, der im Widerspruch zu den vielen hochtrabenden Reden über "Bildung" steht. Mit "Integration" hat unser Fall eigentlich nichts zu tun, auch wenn eine Deutsch-Türkin betroffen ist. Dieses Merkmal allein wäre dennoch ausreichend, um eine öffentliche Debatte über den Fall früher oder später auf das Thema "Integration" zu lenken. Da die Mängel des Bildungssystems sich gerade in Berlin so manifestieren, dass besonders viele 'Migranten' 'Bildungsverlierer' sind, bleibt es nicht aus, dass die Debatten immerzu beide Themen ("Bildung" und "Migration/Integration") verschränken, auch wenn sie jeweils das Thema verfehlen: Es wird zu wenig über Systemmängel geredet und zu oft Gruppen eine Schuld zugeschustert.

Bekanntlich ging man mit verblüffender Realitätsferne lange davon aus, dass die "Gastarbeiter nach Hause gehen", wenn man sie hier nicht mehr braucht, "Integration" war geradezu unerwünscht, debattiert wurde über Maßnahmen zur Förderung der Rückkehrbereitschaft. Erst in den 90ern dämmerte es der Politik, dass die meisten von denen, die ihr Arbeitsleben hier verbracht hatten, auch hier bleiben würden, und dass deren Kinder und Enkel ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft Deutsche wären.

Auf einmal ging es also um "Integration", bzw. wurde deren Mangel beklagt. Die nicht "integrierten" Migranten/Ausländer/Gastarbeiter wurden als "Problem" geschildert. Was bei einem "Deutschen" ein individuelles Problem ist (Kriminalität, kein Schulabschluss), wird bei "Migranten" als Migrantenproblem dargestellt. Das pflegt man mehr oder minder schlecht mit Statistiken zu begründen.

Derartige Probleme häufen sich aber auch bei "deutschen" Arbeiterkindern, die am falschen Ort geboren sind. Das spiegelt sich seit kürzerem in den Debatten, in denen nicht nur Ausländer ihr Fett kriegen, sondern auch deutsche "Unterschichten". Gemeinsam werden sie oft als "bildungsferne Schichten", die dieses Land nicht in dem Maße brauche, dargestellt - so viele Klos gibt's auch nicht zu putzen.

Das deutsche Schulsystem ist wiederholt kritisiert worden, sowohl von Innen, als auch von internationalen Einrichtungen (OSZE). Es ist bekannt, dass es schlecht abschneidet, wenn es um die Chancen von Arbeiterkindern oder Migranten geht. Das Gymnasium war Distinktionsmerkmal des Bürgertums, und das ist trotz Verbreiterung der Schicht so geblieben. Ein Bildungssystem sollte es sich nicht leisten können, jemanden verloren zu geben. Unseres tut dies regelmäßig mit einem großen Teil derjenigen, die von der allgemeinen Schulpflicht erfasst werden.

Gerne wird abgewinkt: Das Problem seien nicht unsere Institutionen, sondern DIE. Seltsam, dass es in anderen Ländern anders aussieht, und zwar bei Einwanderern aus denselben Ländern. Voreingenommen sagen viele, es sei schon alles recht "bei uns", nur dass DIE ihre Bringschuld nicht bringen. Die wollen sich nicht integrieren, wollen nicht lernen, ist irgendwie deren Kultur. Manche, wie Regina Mönch von der FAZ, halten mit ihren Ressentiments nicht hinterm Berg. Jetzt kommen sie wieder mit der Hauptschule, dabei ist doch klar, dass die Türken und Araber ein Problem sind. Oder in der Art Sarrazins: Deutsche und türkische Unterschichten sind wirtschaftlicher Ballast, die kann man nur zwingen. OSZE, was kümmert das uns. Mia saan mia.

Diese Feistigkeit lässt sich zwar auch gelegentlich mit Statistiken bzw. der Kritik schlechten Gebrauchs von Statistiken erschüttern. Aber vielleicht noch wichtiger ist, an Einzelfällen zu sehen, was "bei uns" systematisch nicht stimmt, welche Bringschuld das deutsche Gemeinwesen verweigert.

Ein Fall

Es geht um D., 24 Jahre, deutsche Staatsbürgerin und in Berlin als Tochter von Einwanderern aus der Türkei geboren. - Was haben diese Eigenschaften mit D. zu tun? Was kümmert's mich, ob sie Deutsch-Türkin, türkisch-deutsch, türkischstämmige Deutsche, Migrantenkind ist? Keines dieser Wörter ist neutral, denn sie werden verwendet, weil 'Herkunft' als ein so wichtiges Merkmal angesehen wird. "Mein Zahnarzt ist auf Inlays spezialisiert. Er ist Jude." Ist ein bisschen merkwürdig, nicht? "Mein Zahnarzt ist auf Inlays spezialisiert. Er ist Türke." klingt ganz normal. Hat Deutschland wirklich seine antirassistische Lektion aus den Greueln der Nazi-Zeit gelernt? Teils-teils, möchte man sagen. Warum stört bei deutschen Straftätern die Straftat, bei 'ausländischen' Straftätern das Faktum der Herkunft? Weil DIE eigentlich nicht her gehören und dafür, dass man sie hier duldet, besonderes Wohlverhalten und besonderen Assimilationswillen an den Tag legen sollen. Als 'ethnisch Deutscher' darf ich gottlob die Assimilation verweigern und mich in Berlin weiter wie in meinem Dorf benehmen. D. ist also, um es kurz zu machen, eine normale junge Berlinerin. Der Vater war Facharbeiter, die Mutter hatte zeitweise ein Blumengeschäft. Beide waren von Anfang an auch in Vereinen engagiert und sprechen gut deutsch.

Zurück zu D.'s Geschichte:
D. ist überdurchschnittlich intelligent, will aber nach dem Erwerb der mittleren Reife nicht mehr zur Schule gehen. Sie hält sich mit Minijobs über Wasser, besucht vorübergehend eine freies Gymnasium, in dem sie sich allerdings unwohl fühlt. Sie wäre nicht die erst und nicht die letzte Heranwachsende, die vorübergehend orientierungslos ist. Auch in den Jahren des Sich-Durchwurstelns lernt sie viel. Mit ihrem Freund verbringt sie ein halbes Jahr in Syrien, lernt dort Arabisch und macht ein Praktikum beim UNHCR-flüchtlingsprogramm.

Schliesslich wird ihr klarer, was sie tun will. Sie will eine Ausbildung als Erzieherin machen, wobei sie gerade in Berlin mit ihren beiden Muttersprachen, sowie dem Arabischen viel anfangen könnte. Für eine solche Ausbildung wird ein Abitur oder mindestens drei Jahre regelmäßiger Berufstätigkeit verlangt. Aus diesem Grund und weil sie die Option auf ein späteres Studium haben möchte, will sie nun doch die allgemeine Hochschulreife erwerben. In Berlin ist das Abitur im zweiten Bildungsweg aber nur denen zugänglich, die entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder aber drei Jahre regelmäßiger Berufstätigkeit nachweisen können. Erklärt ihr der Schuldirektor und steht auch im Berliner Schulgesetz. Und wie leid's ihm täte, wenn er in ihre schönen dunklen Augen schaue. Glibber, danke. Ohne Ausbildung kein Abitur, ohne Abitur keine Ausbildung? Erst kommt die Wanze und dann die Wanzenordnung, denkste. Und auf der Arbeitsagentur sagte man über eine mögliche Förderung des Abiturs: "Sie hatten ja ihre Chance und haben Sie nicht genutzt." Ja, wenn Geld dahinter wäre, wär's kein Problem, eine Privatschule zu finden. Der verlorene Sohn gutbürgerlicher Eltern kann's immer noch schaffen, D. aber bekommt erst mal eine Bildungshürde vorgesetzt. Wenn du nach drei Jahren Brötchen verkaufen immer noch Abitur machen willst und kannst, sind wir für dich da.


Eine Nachrede


Was haben wir nicht alles gehört in den letzten Jahren: Bildungsoffensive, lebenslanges Lernen, die Wissensgesellschaft. Der mangelnde Bildungswille der bildungsfernen Schichten, das war der Kern vieler Diagnosen unserer Probleme. Wir haben aber kein allgemeines bildungsförderndes System. Sondern noch immer ein Abitur, das für die (erweiterte) Bürgerschicht gedacht ist. Abitur machen mit vom Standard abweichenden Lebensläufen ist ein Luxus, den wir grosszügigerweise unter gewissen Umständen fördern, unter anderen nicht.

Man braucht, um eine Lehrstelle als Schreiner zu finden, in Berlin inzwischen einen guten Realschulabschluss oder ein Abitur. Die achtbaren und anständig bezahlten Berufe für Nicht-Abiturienten werden immer weniger. Ein Hautpschulabschluss in Berlin ist eine Option auf Arbeitslosigkeit. Es kann nicht sein, dass, wer kein Abitur schafft, aussortiert und allenfalls alimentiert wird. Die Würde des Menschen darf ja nicht von Bedingungen an Intelligenz oder den Schulabschlusses abhängig gemacht werden. Es kann aber auch nicht sein, dass man es in einer solchen Lage irgendjemandem erschwert, ein Abitur zu machen. Hurra! und Willkommen! müsste es heißen.

Wie immer es D. ergeht, sie wird ihren Teil zu den entsprechenden Statistiken beitragen. Irgendwer wird sich auf solche Statistiken stürzen und etwas über die Bildung und Erwerbsbiographien von jungen Berlinern oder Menschen mit Migrationshintergrund oder Arbeiterkindern sagen. Was hätte das mit einer jungen Frau zu tun, die als Heranwachsende mit der Schule nicht gut zurechtkam, dann aber wieder etwas werden möchte, und der man es dabei denkbar schwer macht? Wenn man diese Statistken in Einzelfälle aufdröseln könnte, wie oft wohl fände man klare Spuren eines Versagens des Staates und der Gesellschaft? Und der OSZE-Vergleich gibt Grund zur Annahme, dass unser Staat und unsere Gesellschaft in diesen Dingen öfter versagt als Staat und Gesellschaft in Skandinavien. Fürs Protokoll: Unser Staat ist verbesserungswürdig.

Mittwoch, 25. November 2009

Die Sonne dreht sich um die Erde: Störsignale vor Kopenhagen

GALILEI: Ich dachte mir, Sie schauen einfach durch das Fernrohr und überzeugen sich?

DER MATHEMATIKER: Gewiß, gewiß. - Es ist Ihnen natürlich bekannt, dass nach Ansicht der Alten Sterne nicht möglich sind, die um einen anderen Mittelpunkt als die Erde kreisen, noch solche Sterne, die im Himmel keine Stütze haben.

GALILEI: Wie, wenn Eure Hoheit die sowohl unmöglichen als auch unnötigen Sterne nun durch dieses Fernrohr wahrnehmen würden?

DER MATHEMATIKER: Man könnte versucht sein zu antworten, dass ihr Rohr, etwas zeigend, was nicht sein kann, ein nicht sehr verlässliches Rohr sein müsste, nicht?

(Brecht, Leben des Galilei; In der Szene wehrt sich ein tapferer geozentrischer Dissident gegen die heliozentrische Mafia, indem er sich weigert, durch das Fernrohr einen Mond des Jupiter anzuschauen, denn das geozentrische Weltbild duldet keine Jupitermonde. Ähnlich können sich Priester einer automobilen Wirtschaftswachstumsgesellschaft der These eines anthropogenen Klimawandels verweigern, indem sie einfach nicht durch das Rohr schauen. )



Rechtzeitig vor Kopenhagen haben Hacker gestohlene Emails von Klimaforschern veröffentlicht, um zu insinuieren, das von der Wissenschaft vertretene Klimaszenario beruhe auf einer Verschwörung von Fälschern.

Genau das belegen die Emails, deren Echtheit übrigens noch zu bestätigen bleibt, nicht. Sie würden schlimmstenfalls das Fehlverhalten Einzelner belegen und nicht die ganze Klimaforschung diskreditieren.


Die am häufigsten zitierte Formulierung aus einer Email von Phil Jones

I’ve just completed Mike’s Nature trick of adding in the real temps to each series for the last 20 years (ie from 1981 onwards) and from 1961 for Keith’s to hide the decline


enthält womöglich nichts, das nicht bekannt und veröffentlicht wäre, allerdings irritiert die Vokabel "hide". Es ging angeblich um die Verwendung verschiedener Schätzer für die Temperatur und darum, ab 1960 ein Schätzverfahren aus der Breite von Jahresringen nach Keith Briffa, das die Temperatur ab diesem Zeitpunkt gegenüber anderen Schätzern unterschätzt, nicht zu verwenden. Eine sehr lesbare Erklärung (mit Quellenangaben) findet sich hier. Was aber soll man mit "hide" anfangen? Auch bei Wissenschaftlern, noch dazu anhand von gestohlenen und nicht beglaubigten Emails, sollte die Unschuldsvermutung gelten. Harmlose Interpretationen sind wenigstens denkbar. (Natürlich sind solche Interpretationen, wie alle anderen auch, konstruiert, aber es sei eine als Beispiel erwähnt: In einer Situation, in der sich die "Klimawandel-Leugner" auf jedes isolierte Datum stürzen, das ihnen in den Kram passt, will man die vermutlich fehlerhaften Jahresring-Daten möglichst gar nicht verwenden und "verstecken". Es wäre nämlich voraussehbar, dass sie jemand trotz der erläuterten Fehler, gerade diese Daten zum Beleg für eine andere Klimaprognose erheben würde, obwohl isolierte Daten gerade das niemals sein können. So ein Verhalten wäre keine besonders gute wissenschaftliche Praxis, aber eben auch keine schwerer Betrug.)


Andere der veröffentlichten Fetzen zeigen Wissenschaftler, die zugleich in einer politischen Polemik stecken, ob sie wollen oder nicht, und die selbst schon etwas zu sehr Politiker geworden sind, um bei ihren Publikationen nicht schon an deren Rezeption durch 'Freunde' und 'Feinde' zu denken. So kann es dann auch zu Selbstzensur gekommen sein, um den 'Feinden' kein Futter zu geben, kleinen Akten wissenschaftlicher Unredlichkeit. Derlei ist nicht fein, macht aber keineswegs das Werk von Tausenden von Wissenschaftlern zur Fälschung (und bedeutet insbesondere kein "Watergate der Klimaforschung", wie Maxeiner schreibt, s.u.) Es ist aber auch schwer, ganz rein zu bleiben in so einer Schlammschlacht, in der einer immer wieder beliebige, auch längst widerlegte Thesen mit dem Gestus des Dissidenten in die Runde werfen kann, und wo interessierte Kreise jeden im Einzelnen begangenen Fehler sogleich zur Diskreditierung des Ganzen heranziehen UND daraus ableiten, dass kein politischer Handlungsbedarf bestehe und man weiter große Motoren bauen solle. Ein Wissenschaftler, der - aufgrund der Forschungslage - die Menschheit vor einem großen Problem sieht, fühlt sich als Weltbürger auch in der Verantwortung, zur allgemeinen Anerkennung dieser Forschung beizutragen. Das kann man verstehen, auch wenn's eine fehlerträchtige Haltung ist, die die Wissenschaft behindern kann.

Vielleicht zeigen andere Fetzen, die ich nicht gelesen habe, gröberes Fehlverhalten etwa von Phil Jones. Damit wäre, wie gesagt, nicht die Arbeit der anderen diskreditiert.

Übrigens muss sich eh noch zeigen, wieviele der Emails, die gerade durchs Netz kursieren, gefälscht sind. Unter den Reaktionen auf die Emails finden sich mancherlei ganz hirnrissige Verschwörungstheorien, etwa ein Link auf eine angebliche Mail von George Soros mit dem Titel "Socialist plan to take over the World", wo er stolz die eigenen Pläne als "climatofascism" bezeichne. Wenn's 'ne dümmere Fälschung gibt, schicke man sie mir.

In einem früheren Post habe ich eine kleine Lanze fürs Zweifeln gebrochen: Nicht jeder Zweifel an etwas, das breit berichtet wird, ist schon eine Verschwörungstheorie. Der Unterschied zwischen beiden ist nicht ganz streng, aber ungefähr zu fassen durch den Umfang der unbegründeten Hypothesen, die man benötigt. Nun sind diejenigen, die den Klimawissenschaftlern "climatofascism" unterstellen, nach diesem Kriterium selbstverständlich ganz üble Verschwörungstheoretiker, denn sie postulieren, dass Tausende von Individuen sich die ganze Zeit auf Lügen verständigen.

Es ist dagegen keine Verschwörungstheorie, sondern eine ganz einfache Hypothese, dass jemand, der es den Kopenhagener Verhandlungen noch schwerer machen möchte, als es eh schon ist, hier echte und falsche Email ins Netz wirft, um Zweifel zu produzieren. Die nervöse Blogosphäre wird's endlos vervielfältigen.

It’s obvious that the noise-generating components of the blogosphere will generate a lot of noise about this


An deutschen Blogs (Achse des Guten), wo es merkwürdigerweise als "liberal" gilt, sowohl für Amerikas Kriege als auch gegen die These vom anthropogenen Klimawandel zu sein, kann man das bereits sehen. Zwar schreibt Maxeiner dort immerhin unter "Echtheitsvorbehalt", trägt aber doch gern zur Verbreitung der Emails und seiner Urteile bei (Semper aliquid haeret?). Er sieht in den Mails - wenn sie echt sind - "das Ende der Glaubwürdigkeit der gegenwärtigen Klimaforschung". Komisch, dass einer, der in seinen Werken über die Klimadebatte lauter nachgewiesene Fehler gemacht hat, Leuten, die ab und an Fehler machen, mangelnde Glaubwürdigkeit (sc: interessegeleitetes Handeln) vorwirft.

Es wäre im übrigen gut, die widerliche Praxis, private Emails zu stehlen, breitete sich nicht aus. Wenn es aber unbedingt noch einmal geschehen muss, wären Maxeiners Emails interessant. Man sähe dann besser, was solche Menschen treibt. Das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit kann's jedenfalls kaum sein, sonst hätte M. ja Wissenschaftler werden können.


p.s. Vor wenigen Tagen stand in der FAZ ein Leserbrief von einem Dr. Soundso, der auch als Klima-Dissident auftrat. Er behauptete, der Meeresspiegel steige im Widerspruch zu den Voraussagen nicht. Leider aber ist er im 20. Jahrhundert um 18 Zentimeter gestiegen, in den zwei Jahrtausenden vor der industriellen Revolution (~ 1800) dagegen höchstens um 2 cm pro Jahrhundert. Das schnellere Abschmelzung der Eisschilde und Gletscher ist auch hinlänglich bestätigt. An der bisherigen Erwärmung beißt die Maus keinen Faden ab, und am Einfluss des Kohlendioxids im Strahlungsgleichgewicht der Atmosphäre ebensowenig. Unklar ist allerdings noch vieles: Weder kann man die lokalen Folgen gut voraussagen, noch weiß man, wie sich die Meeresströmungen und die Niederschlagsverteilung verändern, noch versteht man geologische Prozesse, die Gase freisetzen und binden, gut genug. Da so vieles unbekannt ist, lässt sich jede Prognose nur im Modus der Wahrscheinlichkeit vortragen: Es ist wahrscheinlich, dass sich das Klima, je nach menschlichem Verhalten, so oder so entwickelt. Und so ist es für die allermeisten Prognosen, nach denen man sich richtet. Wie auch immer, es kann doch eh nichts schaden, sparsamer mit fossilen Rohstoffen umzugehen und den Regenwald stehen zu lassen, auch aus ganz anderen Gründen. Wenn die Wissenschaft sich geirrt hätte und das, was sie für wahrscheinlich hält, nicht einträfe, hätte die Menschheit mit solcher Sparsamkeit trotzdem etwas gewonnen. Sie hätte vermutlich einen vorübergehenden Preis an verlorenem "Wirtschaftswachstum" gezahlt, aber wiegt das so schwer, dass man lieber ein großes Risiko einginge? Welcher einzelne Entscheider, der zwischen zwei Politikvarianten wählen kann, würde gerne riskieren, dass (mit "hoher" Wahrscheinlichkeit) die Erwärmung im nächsten Jahrhundert größer wird als mit einer anderen Politik, und im Zweifel die Verantwortung dafür tragen, dass Bengalen ersäuft? Ob Maxeiner et al. auf ihre alten Tage noch als tapfere Dissidenten oder vielmehr als auf Kosten anderer das wissenschaftlich leidlich gut Belegte leugnende Zyniker erscheinen werden, wird sich zeigen.

p.p.s. Etwas Gutes hat der kleine "Skandal" aber doch, wenn er hilft, einen Mangel zu beheben: Alle wissenschaftlichen Primärdaten sollten öffentlich verfügbar sein, damit jeder sie analysieren kann oder mit anderen Messungen nachprüfen kann, ob sie reproduzierbar sind. In dieser Allgemeinheit wird die Forderung nie durchgesetzt werden, da sowohl wissenschaftlicher Ehrgeiz als auch ökonomische Interessen auf Geheimhaltung von Daten aus sind. Aber bei Fragen von allgemeiner politischer Relevanz - wie dem Klimawandel - sollte so viel Transparenz demnächst möglich sein. Diese nötigt außerdem allen Arbeitsgruppen eine saubere Dokumentation der eigenen Daten auf und vermindert so Fehler. (Jeder, der schon mit großen Mengen empirischer Daten gearbeitet hat, weiß, wie leicht man sich mit privaten Datenformaten die Festplatte zumüllt. Und wie aussichtslos es schon nach einem Jahr sein kann, genau zu rekonstruieren was man getan hat. Außer man nötigt sich zu genauen Protokollen und nachvollziehbaren Konventionen...)

Dienstag, 24. November 2009

Good governance under bad conditions?

oder: Wie man Verantwortung verschleiert.

1. Spätfolgen des Kolonialismus

Eine der Modevokabeln im Diskurs über die dritte Welt, besonders Afrika, ist "good governance". Sie hat für uns etwas angenehm entlastendes. Kolonialismus, Imperialismus, unfaire Verträge über Rohstofförderung, niedrige Weltmarktpreise für Afrikas Produkte, schön und gut: Denen ginge es ja viel besser, wenn nicht die Regierungen so korrupt wären, wenn es nicht so viele Kriege gäbe etc.


Mit dem Hinweis auf die fehlende "good governance" können Vertreter ehemaliger Kolonialstaaten, während sie vergangenes Unrecht zugeben, für die Gegenwart ihre Hände in Unschuld waschen. Es klingt dann so wie in Nicolas Sarkozys berüchtigter Rede, gehalten an der Universität von Dakar am 26.7.2007: Die Verbrechen der Vergangenheit (und damit nicht unsere Verbrechen) sind bedauerlich, falsch der Sklavenhandel, falsch die Eroberung Afrikas. Die Kolonialherren haben Verbrechen begangen, aber sie haben auch manches gebracht. Lasst uns nicht über die Vergangenheit reden, sondern über die Zukunft. Ein Ausschnitt im Wortlaut

Le colonisateur est venu, il a pris, il s’est servi, il a exploité, il a pillé des ressources, des richesses qui ne lui appartenaient pas. Il a dépouillé le colonisé de sa personnalité, de sa liberté, de sa terre, du fruit de son travail.

Il a pris mais je veux dire avec respect qu’il a aussi donné. Il a construit des ponts, des routes, des hôpitaux, des dispensaires, des écoles. Il a rendu féconde des terres vierges, il a donné sa peine, son travail, son savoir. Je veux le dire ici, tous les colons n’étaient pas des voleurs, tous les colons n’étaient pas des exploiteurs.

Il y avait parmi eux des hommes mauvais mais il y avait aussi des hommes de bonne volonté, des hommes qui croyaient remplir une mission civilisatrice, des hommes qui croyaient faire le bien. Ils se trompaient mais certains étaient sincères. Ils croyaient donner la liberté, ils créaient l’aliénation. Ils croyaient briser les chaînes de l’obscurantisme, de la superstition, de la servitude. Ils forgeaient des chaînes bien plus lourdes, ils imposaient une servitude plus pesante, car c’étaient les esprits, c’étaient les âmes qui étaient asservis. Ils croyaient donner l’amour sans voir qu’ils semaient la révolte et la haine.

La colonisation n’est pas responsable de toutes les difficultés actuelles de l’Afrique. Elle n’est pas responsable des guerres sanglantes que se font les Africains entre eux. Elle n’est pas responsable des génocides. Elle n’est pas responsable des dictateurs. Elle n’est pas responsable du fanatisme. Elle n’est pas responsable de la corruption, de la prévarication. Elle n’est pas responsable des gaspillages et de la pollution.

Die Kolonisierung ist nicht für alle gegenwärtigen Probleme Afrikas veranwortlich. Sie ist nicht verantwortlich für die blutigen Kriege, die die Afrikaner miteinander kämpfen. Sie ist nicht verantwortlich für die Genozide. Sie ist nicht verantwortlich für die Dikatoren. Sie ist nicht verantwortlich für den Fanatismus. Sie ist nicht verantwortlich für die die Korruption, den Amtsmissbrauch. Sie ist nicht verantwortlich für die Verschwendung und die Umweltverschmutzung.



Mais la colonisation fut une grande faute qui fut payée par l’amertume et la souffrance de ceux qui avaient cru tout donner et qui ne comprenaient pas pourquoi on leur en voulait autant.

La colonisation fut une grande faute qui détruisit chez le colonisé l’estime de soi et fit naître dans son cœur cette haine de soi qui débouche toujours sur la haine des autres.


Dass der Kolonialismus nicht allein veranwortlich für irgendwelche Missstände ist, geschenkt, niemand behauptet das. Aber mit verantortlich ist er gerade für die Dikatoren, die Kriege, die Genozide, die Umweltverschmutzung und die Korruption. Beispiele für diese Mitschuld sind wohlbekannt...

Die Hutu und die Tutsi wurden durch europäische Kolionalherren, die etwa (die Belgier) in den Tutsi eine "überlegene Rasse" sehen wollten und mit ihrer Hilfe eine indirekte Herrschaft ausübten, langfristig regelrecht aufeinandergehetzt. Ob es "sowieso passiert" wäre, ist eine in der Geschichtsschreibung meist nicht zu beantwortende Frage. Im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi haben die Europäer (Belgier und Franzosen) eine ethnische Entgegensetzung ideologisch, ökonomisch und politisch verstärkt, das sollte für eine Mitschuld reichen. Vor Gericht in den Haag stehen nur Personen, denen eine Einzelverantwortung zugerechnet werden kann. Jene historische Verantwortung wird zwar nur von Historikern, nicht von Gerichten untersucht, Verantwortung ist es dennoch.

Und es geht nicht nur um Spätfolgen des Kolonialismus,auch nach der Unabhängigkeit der Kolonien gab es politische und ökonomische Einmischung. Bei wie vielen durch Militärputsch an die Macht gekommenen Diktatoren hatten ehemalige Kolonialherren die Finger drin? Wie viele große Konzerne haben Politiker bestochen? (Man lese sich etwa in der deutschen Wikipedia den Abschnitt Elf Aquitaine und die Politik durch.)
Ja sehen sie, wir müssen Politiker bestechen, um Geschäfte machen zu können. Das machen alle.


2. Folgen gegenwärtiger Kilmaveränderungen


Mit dem Hinweis auf "bad governance" lässt sich aber noch eine ganz andere Dimension der Verantwortung zu Brei reden. Wenn große Gebiete Afrikas durch klimatische Veränderungen weniger Menschen ernähren können, wird es zu Verteilungskämpfen und konfliktträchtigen Bevölkerungswanderungen kommen. Man muss kein Prophet für solche Aussagen sein, denn ein Zusammhang zwischen Temperaturen und blutigen Konflikten ist für die Subsahara im Zeitraum 1980-2002 belegt (s. die Meldung der BBC über die in den Proceedings of the National Academy of Sciences (US) erschienene Untersuchung). Die Klimaprognosen lassen nun für die Zukunft immer mehr solcher heißen Jahre erwarten, und die Gesamtheit der uns verfügbaren Modelle besagt leider, dass die menschliche Aktivität eine Hauptursache dieses Klimawandels ist. Aus bequemen Sesseln und Klimazonen hört man immer wieder Stimmen, die aus den möglichen Mängeln der Modelle den Schluss ziehen, alles sei ganz anders, und wenn sich das Klima schon wandele, seien wir nicht verantwortlich. Dafür mögen sie einzelne Belege aus dem das Gegenteil suggerierenden Zusammenhang reißen, über's Niveau der Flat-Earth-Society kommen sie nicht hinaus. Dieses bequeme Sitzen-in-Sesseln beruht auch darauf, dass es die gemäßigten Breiten nicht so furchtbar trifft. Gefahr ist im Verzuge, aber weniger für uns als eben für Afrikaner. Wieviel "good governance" gäbe es wohl hier, wenn's Fressen knapp würde? Na, jedenfalls ist unser Interesse an Autoproduktion noch größer als unsere Angst vor dem Klimawandel. Im Vorfeld der Kopenhagener Konferenz findet denn auch ein großes Tauziehen um wirtschaftliche Interessen statt. Eine Vereinbarung wird nur dann möglich, wenn sie dem jeweiligen Wachstumscredo nicht widerspricht. Wie aber weitergewachsen werden soll, ohne die Kohlendioxidemissionen zu erhöhen, weiß bisher niemand.

Wenn das nächste besonders heiße Jahr in Darfur von größeren Gemetzeln begleitet wird, können wir wieder nur unsere weißen Hände ringen. Bad governance, fanatischer Islam. Und zuwenig Wasser.

Dienstag, 17. November 2009

Der kalte Krieg ist (nicht) vorbei

PRIMO

Der kalte Krieg, einige erinnern sich an die Schulbücher: Blaue, irgendwie beruhigende Soldaten auf der linken, viel mehr rote bedrohliche Soldaten auf der rechten Seite. Zur Vernichtung eines großen Teils der Menschheit waren beide Blöcke in der Lage. Dass der kalte Krieg nur in der dritten Welt gelegentlich heiß wurde, sonst aber kalt blieb, ist, äh, erfreulich. Dennoch muss man auch im Rückblick nicht schönlügen, wie NATO und Warschauer Pakt jeweils Weltvernichtungsmaschinen gebaut und damit die Welt aufs Spiel gesetzt haben. Si vis pacem, para bellum, schon gut. Aber was, wenn's schief gegangen wäre? Und es kann ja immer noch, Doktor Seltsam.

Beide Seiten haben aufgerüstet, immer wieder. Und beide Seiten haben behauptet, nur nachzurüsten, um die Abschreckungslücke zu stopfen. Wann sie das selbst glaubten, wann nur vorgaben, scheint noch immer unklar. Es ist recht komisch, wenn ausgerechnet in der alten Tante taz (4.11.2009) Bettina Gauss schreibt, dass manche Deutsche früher den USA die Nachrüstung übel genommen haben. Das Faktum heißet aber Aufrüstung , die Vokabel Nachrüstung ist jedoch nur eine Rechtfertigung dieses Faktums, eventuell spin. Und wer die Pershings nicht mochte, der mochte keine Aufrüstung mit furchtbaren Waffen, egal ob Nach- oder Vor-.


SECUNDO

Der Kultur-Staatsminister Bernd Neumann hat, wie die ZEIT berichtete, in einer Ausstellung über Fremde einen Text, der die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge erwähnt durch einen Satz über die Bemühungen der Bundesbehörden um "Integration" ersetzt:

Der ursprünglich vorgesehene Text hatte mit den Sätzen geendet: »Neue Gesetze über Staatsangehörigkeit und Zuwanderung schufen erst seit der Jahrtausendwende die neuen Rechtsgrundlagen. Während innerhalb Europas die Grenzen verschwinden, schottet sich die Gemeinschaft der EU zunehmend nach außen ab. Die ›Festung Europa‹ soll Flüchtlingen verschlossen bleiben.« In der nun ausgestellten Version fehlen die letzten beiden Sätze. Stattdessen steht da nun die staatliche Bekanntmachung: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fördert seitdem staatlicherseits die Integration von Zuwanderern in Deutschland.«


Der selbe Bernd Neumann hat sich in einer Rede im Mai 2009 gegen die "Verharmlosung" des DDR-Unrechts vewahrt, die in der Weigerung liege, die DDR als "totalen Unrechtsstaat zu verdammen". (Das bezog sich auf die Äusserung eines Ministerpräsidenten.) Was bedeutet: Weil es in der DDR systematisches Unrecht gab, muss man sie als TOTALEN UNRECHTSSTAAT verdammen. Die merkwürdige Auffassung von der Vokabel "total" zieht leider nach sich, dass auch die BRD, wenn sich in ihr systematisches Unrecht fände, als totaler Unrechtsstaat gelten müsste; es findet sich, gewiss. Aber an das z.B. Flüchtlingen in Kettenduldung oder durch Abschiebung angetane Unrecht dachte Neumann selbstverständlich nicht, auch andere sollten nicht daran denken. Wir sind die Guten, böse aber war die DDR. Dazu nochmal die ZEIT


Besonders skandalös ist der politische Eingriff in die Arbeit des Deutschen Historischen Museums (DHM) vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Hauses. Das zu DDR-Zeiten im Zeughaus angesiedelte Museum für Deutsche Geschichte unterstand direkt dem ZK der SED. In der Gründungsphase des bundesrepublikanischen DHM hatten sich die beratenden Historiker – darunter Lothar Gall, Jürgen Kocka, Michael Stürmer und Richard Löwenthal – die Unabhängigkeit des neuen Nationalmuseums von den Einflüssen der Politik ausbedungen. Bisher hatte sich das Museum, soweit bekannt, diese Unabhängigkeit bewahren können. Nun scheint der Druck aus der Regierung zu stark gewesen zu sein. Das Bundesministerium hat mit dem Akt der Zensur nicht nur das Grundgesetz missachtet, es hat auch dem Museum geschadet. Ein Museum, dem ein Ministerium die Sicht auf die Dinge vorschreibt, kann man nicht ernst nehmen. Für Staatspropaganda, wenn man sie haben wollte, gibt es in dieser Republik das Bundespresseamt.


Die Dementis, die folgten, dementierten übrigens nicht den Vorgang, sondern seine Benennung. Es habe keine Zensur stattgefunden, sondern es seien lediglich "Anregungen dankbar aufgenommen worden." Stimmt, wo man sich kennt und sich hilft, wo Anerkennung ein wichtiges Kapital ist, braucht man gar keine Zensur.

Die Änderung war übrigens auch leicht dümmlich. Der neue Text passt nicht an diese Stelle, was schon, Wochen bevor diese kleine Zensur/Einflussnahme bekannt wurde, einer Freundin auffiel, die sich fragte, was wohl in den Erstellern dieser Tafeln vorging und welchen Vorgaben sie folgten. Jetzt wissen wir's


TERTIO

Wollte die UDSSR nicht gewaltsam in Afghanistan ein ihr genehmes Regime aufrechterhalten, das, wenngleich kommunistisch, auch in unserem Sinne moderner gewesen wäre als die Herrschaft reaktionärer Stammesführer? Es misslang, auch weil die USA die Mujaheddin mit Waffen unterstützte. Damit diese "für ihre Freiheit" kämpfen konnten. Damit kämpften sie gleichzeitig u. a. für die Scharia und ihre jeweilige Machtinteressen.

Der Erfolg des westlichen Versuchs, eine ihm genehme Regierung an der Macht zu halten, ist ebenfalls zweifelhaft.

Acht Jahre nach Beginn des internationalen Engagements in Afghanistan zog Guttenberg in Kabul eine gemischte Bilanz.


Das Zentralkomitee der KPdSU zog ebenfalls eine gemischte Bilanz. Damals, im kalten Krieg, war jedoch die UN de facto blockiert, so dass es eben keinen die Invasion nachträglich rechtfertigenden Sicherheitsratsbeschluss geben konnte. Jetzt gibt es einen (recht fahlen) Schein des Rechts.

Der eine Krieg wird aber mit dem anderen nur von "notorischen Radikalen" verglichen, ansonsten herrscht die Sprachregelung des kalten Kriegs. Der UDSSR ging es nur um Macht, uns nur um Werte. Den Gegnern der UDSSR ging's nur um die Freiheit, unseren (teilweise just denselben) nur um böses und rückständiges Zeug.

Wie ähnlich oder unähnlich sich die beiden Kriege sind, wird man erst viel später beurteilen können, wenn überhaupt. Jetzt herrscht Propaganda, immerhin hier mit einem teilweise anderen Vokabular als weiland in der Sowjetunion. Guttenberg spricht von "Benchmarks" für die Ziele des Kriegs, der nicht so genannt werden darf. Benchmarks, Controlling, Quality Management. Wow. Wird aber geschossen, werden Ärmchen abgerissen und Beinchen. Benchmark, mon cul.

Samstag, 7. November 2009

Literaturkritikritik. Warum Felicitas von Lovenberg Claudio Magris den Friedenspreis nicht gegeben hätte.

Claudio Magris erhielt im Oktober 2009 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Felicitas von Lovenberg (FAZ) passt das nicht. Magris sei ein so verdienstvoller Autor und habe schon so lange für den Preis nahe gelegen, dass die jetzige Entscheidung für Magris "in ihrer Einfallslosigkeit schon wieder kühn anmute".

Mal geschenkt, dass diese pseudodialektischen Formulierungen à la "Die Suppe schmecke so schlecht, dass sie schon wieder gut schmecke" ganz und gar einfallslos sind, und dass mir jemand, der sich so äußert, eher einfallslos und abgeschmackt, nicht aber kühn vorkommt. Welchen Preisträger hätte sich FvL denn gewünscht? Einen "zeitgemäßeren" anscheinend, wobei die drängenden Fragen der Zeit etwa mit Iran, Israel, der Weltwirtschaftskrise zu tun hätten.

Ihre kleine Liste der Bedrohungen und Katastrophen ist aufschlussreich durch Abwesenheiten: Westliche Staaten führen Krieg in Afghanistan und dem Irak. Eine Art Kulturkampf findet statt, der Verunglimpfungen von Türken, Arabern, Muslimen salonfähig macht. Im Durchschnitt ertrinken täglich drei afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer, und diejenigen, die es lebendig nach Europa schaffen, haben kaum eine Chance, als Flüchtlinge anerkannt und aufgenommen zu werden, so dass ihnen nur die Klandestinität bleibt, in der sie erpresst und ausgebeutet werden: In der ganzen EU putzen sie Klos und ernten sie Gemüse.

Jeder macht bekanntlich andere Listen, weil nun mal jedem anderes wichtig ist. Die Lovenbergsche Liste enthält aber kein einziges Problem, das der deutschen (europäischen, westlichen) Gesellschaft ein schlechtes Gewissen bereiten müsste, die zweite dagegen ausschließlich solche Probleme. Der Stiftungsrat habe "die Chance vertan, den Friedenspreis wieder zu einer Auszeichnung zu machen, mit deren Träger sich die Leser wirklich beschäftigen", so FvL. Hätte es also ein Autor sein sollen, der dadurch Aufmerksamkeit verdient, dass er sich mit einem Thema befasst, das gerade in Mode ist und das uns in kein schlechtes Licht setzt?

Nun ist Magris kein besonders politischer Autor, aber auch nicht ganz unpolitisch. Wenn man so etwas wie ein "Thema" ausmachen würde, dann wäre es ein Leben in kultureller und sprachlicher Vielfalt, mit Toleranz und Neugierde, und eben auch dessen Bedingung, der Friede. Magris hat in seiner Dankesrede vor teilweise verkrampften Gesichtern von den vielen Kriegstoten seit dem zweiten Weltkrieg ("der dritte Weltkrieg hat stattgefunden"), von der Abwehr von Flüchtlingen, der Ausgrenzung von Einwanderern und in einer Anekdote vom neuen Antiislamismus gesprochen. Von der zweiten Liste also, nicht von der Lovenbergschen. Es war, wie nicht anders zu erwarten, eine gelehrte, zitatenreiche und teilweise langweilige, dennoch gute Rede. Dieselben Eigenschaften schätze ich an seinen Büchern, ja, auch die Langeweile, ich lese hin und wieder darin, aber nie viel auf einmal. Sicherlich wird so ein Werk nicht eine große "Aufmerksamkeit, die zur Diskussion einlädt" erhalten, aber wieso ist das ein Mangel? Die Diskussion im Talkshow-Format, die ein Thema im Zeitfenster der höchsten Aufmerksamkeit durchhechelt und danach vergisst, trägt kaum zur Humanisierung bei. Ob bei solchen Diskussionen auch literarische Werke zitiert werden, spielt keine Rolle. FvL überschätzt offenbar die Literatur, wenn sie ihr eine solche Wirkung auf Diskussionen zutraut. Andererseits unterschätzt sie die so gar nicht spektakuläre Möglichkeit, dass humane Bücher den einen oder anderen stillen Leser etwas humaner machen.

Vielleicht ist es ganz anders: FvL kann Magris Bücher nicht leiden und gönnt ihm deshalb den Preis nicht. Das wäre recht, ein mögliches Urteil. Stattdessen aber (schleimiges) Lob "Es ist besonders bitter, diese Entscheidung kritisieren zu müssen, da sie einen allseits geschätzten Autor ehrt. Claudio Magris, dieser elegante, mit seinem historischen, geographischen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Wissen spielende Assoziationsakrobat von der adriatischen Küste...." Was sie da lobt, ist aber gerade das bei Magris Problematische, denn so überbordende Gelehrsamkeit lässt sich nur von wenigen in großer Dosis ertragen. Mir scheint, man muss sich nicht vor so viel Wissensautorität verbeugen, um schätzen zu können, dass es auch solche Literatur gibt, die man nicht immer, aber ad ore incerte lesen mag. Die Hypothese, dass FvL Magris' Bücher eigentlich nicht leiden kann, ist noch nicht verworfen - "... eine von alteuropäischem Habitus getragene Detail- und Beobachtungsfülle, die beeindruckt, aber auch ermüdet".

Beinahe könnte man die Entscheidung des Stiftungsrats "kühn" nennen, weil nämlich die Reaktion eines mode- und eventorientierten Feuilletons "voraussehbar" war. Eine Literaturkritik, die nach zeitgemäßen Themen ruft, ist leider nur ein Wurmfortsatz des Spektakels, das die Literatur zwar immer begleitet hat, aber "vergeht wie die Spreu im Wind." Wirklich kühn ist jedoch ein Preis für einen Autor, den Bildungshuber aus Prinzip nicht ablehnen können, auch wenn sie ihn nicht lesen, nicht. Verdient hat er ihn nicht weniger als die anderen Preisträger und mehr als manche.

Donnerstag, 5. November 2009

Menschenrechte einerseits und andererseits

Einerseits wurde der Kosovo-Krieg als humanitäre Intervention deklariert. Die Dringlichkeit der Intervention wurde durch (mindestens) zwei Lügen gestützt, nämlich das Massaker von Racak und den Hufeisenplan, die es beide nicht gegeben hat. Es wurden erfundene Opferzahlen durch die Medien gejagt, um jeden Gegner des Kriegs als einen zynischen Appeaser dastehen zu lassen. Die meisten Todesfälle, auch bei den Albanern, gab es aber erst nach Beginn der Luftangriffe. Die "humanitäre Notlage" begründete nicht etwa einen humanitären Einsatz, sondern einen militärischen, das behauptete man aus Bosnien gelernt zu haben. Wie man Menschen im Kosovo hilft und die Lage deeskaliert, indem man Luftangriffe auf Belgrad fliegt, bleibt ein Rätsel. Trotz aller Ungereimtheiten gilt den neuen bellizistischen Grünen, der SPD, der CDU, Blairs Labour Party und der NATO der Einsatz als Musterbeispiel eines aus humanitären Gründen geführten Krieges, der die "Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft" bezeugt.

Nehmen wir das einmal an, versuchen wir, zu glauben, dass das Gebot "zu helfen" zivile "Kollateralschäden", den Bruch des Völkerrechts und die Eroberung eines Gebiets als Protektorat rechtfertigt. Dann müsste aber noch viel zwingender sein, bedrohte Menschen als Flüchtlinge aufzunehmen. Den Verfolgten zu helfen, ohne Kollateralschäden in Kauf zu nehmen und irgendwas kaputtzubomben, das sollte von denen, die den Krieg gerechtfertigt haben, selbstverständlich anerkannt werden.

Andererseits...

Tja, als der Krieg vorbei war, begann man mit der Abschiebung der Kosovo-Albaner. Freilich, man verlängerte Duldungen und setzte die Abschiebung aus, aber abgeschoben wurde letztendlich doch, obwohl die Kosovo-Albaner nicht viel haben, in das sie zurückkehren könnten. Ein kaputtes Haus vielleicht in einem maroden Land. Für die Albaner Bomben werfen, das ist anscheinend recht, aber sie willkommen heissen, never ever.


Die Roma aus dem Kosovo hat man bisher "geduldet", mehr nicht. Dazu eine Mitteilung des Flüchtlingsrats Niedersachsen
In Folge des Krieges leben die Minderheiten in klar
abgegrenzten Gebieten oder Enklaven. Armut
und Diskriminierung gehören nach wie vor zum
Alltag. Die Arbeitslosigkeit für Roma liegt bei über
90 Prozent. Hinzu kommt der Ausschluss vom
sozialen Sicherungssystem und von ärztlicher
Behandlung. Von einem "Leben in Sicherheit und
Würde" – dieser Terminus wurde in den ersten
internationalen Abkommen zur Befriedung des
Kosovo verankert – kann keine Rede sein, und es
gibt keine Anzeichen, dass sich die Lage der
Roma in naher Zukunft verbessern wird. Im März
2004 wurden erneut mehrere Tausend Roma zur
Flucht gezwungen, als im Kosovo eine neue
Welle ethnischer Gewalt ausbrach. Bis heute
werden Roma im Kosovo ausgegrenzt und
diskriminiert (siehe hierzu u.a. den Bericht des
Menschenrechts-beauftragten der Europäischen
Kommission, Thomas Hammarberg, aus März
2009). Erst vor wenigen Wochen kam es im
Osten Kosovos erneut zu Ausschreitungen, bei
denen mehrere Roma verletzt wurden.
Etwa 23.000 der geflüchteten Roma leben
heute in Deutschland – nur mit einer Duldung.
Bis November 2008 hat die UN-Verwaltung in
Kosovo (UNMIK) Abschiebungen von Roma und
Serben in den Kosovo verhindert. Nun hat sich die
neue kosovarische Regierung unter politischem
Druck aus Deutschland und anderen europäischen
Staaten in einem "Rücknahme-Abkommen"
bereit erklärt, auch Roma-Flüchtlinge wieder
aufzunehmen.
Es ist zu befürchten, dass diese Zusage von
deutscher Seite genutzt werden wird, um alle
geduldeten Roma zu deportieren.
Das Abschiebungsabkommen betrifft auch
Menschen, die mehr als zehn Jahre in
Deutschland leben, darunter Kinder, die hier
geboren sind, und die außer Romanes nur
deutsch sprechen.

Freitag, 18. September 2009

Wie man Zweifel abtut

Ein harmloses Beispiel: Ich wundere mich, dass die Illegitimität des Wahlergebnisses im Iran von fast allen westlichen Medien noch vor der Auszählung behauptet wurde (und die Legitimität des afghanischen Wahlergbnisses sogar gegen die Berichte der Wahlbeobachter so lange wie möglich behauptet wird.) Und ich beschränke mich nicht aufs "Wundern", sondern spekuliere auch ein bisschen, dass interessierte Akteure die Berichterstattung manipulieren. Man kann Nachrichtenagenturen Meldungen unterjubeln, man kann Journalisten "briefen", für die Jugoslawienkriege gibt es sogar ein Buch über diese Methoden (Jörg Becker & Mira Beham: Operation Balkan). Dennoch könnte man mich auch als "Verschwörungstheoretiker" abtun, und da schwingt mit: irrational und faschistoid.

Nun haben "Verschwörungstheoretiker" zwar den absurdesten Schwachsinn ersonnen, aber andererseits auch immer mal wieder rechtbehalten. Die Jugoslawienkriege sind so ein Fall. Der so genannte "Hufeisenplan" der Serben, der den völkerrechtswidrigen Einsatz der NATO im Kosovo rechtfertigte, war eine Fälschung. An den Akteuren des Kriegers, die die Fälschung glauben wollten oder anfertigen ließen, ist kein Makel hängengeblieben. Damals wurden die Gegner des Einsatzes als Komplizen von Menschenrechtsverletzungen geschmäht, gegen Zweifel an der Echtheit des Hufeisenplans wurde unter anderem auch der Vorwurf der "Verschwörungstheorie" erhoben. Vielleicht ist an den Zweiflern ebensowenig ein Makel hängengeblieben, aber eine Entschuldigung und Richtigstellung derer, die aus Unwahrheiten Kriegsgründe machten, wäre fällig gewesen, es gab sie aber nie.

Und so will ich eine kleine Lanze brechen für Zweifler. Es gibt Situationen, in der das Interesse mancher an Lügen und Manipulation sehr groß ist. Man darf misstrauisch sein und auch gelegentlich über Unsichtbares Hypothesen aufstellen, ohne deshalb gleich als "Verschwörungstheoretiker" zu gelten.


Nach diesem selbst erteilten Freibrief will ich auch gleich noch ein bisschen spekulieren: Wenn vor den Wahlen arg viele Aufschwungsmeldungen in die Zeitungen lanciert werden, will es mir scheinen, dass jemand die CDU unterstützen möchte. (Die positiven Meldungen kommen unter anderem vom IfO.)

p.s. Man kann zwar keine scharfe Grenze ziehen zwischen Spinnerei und vernünftiger Hypothese, aber das ist ja bei fast allen Unterscheidungen so. Wenn die Hypothesen des Zweiflers plausibler sind als die der Nachricht, kann was dran sein. Die "klassischen" Verschwörungstheorien machen dagegen so viele Annahmen über geheime Absprachen ("jüdische Weltverschwörung", "überall Freimaurer", "Mondlandung ein Medienkomplott"), dass auch das weiche Kriterium sie leicht als Lüge entlarvt. Der Haken an einer Unterscheidung anhand von "Plausibilität" ist natürlich, dass der Antisemit die jüdische Verschwörung immer für plausibel hält, oder der salonfähigere Anti-Islamist supergefährliche weltumspannende Terrornetzwerke unbedingt glaubt, auch wenn man dann Leute vor Gericht bringt, die den dümmstmöglichen Sprengstoff in der Badewanne herstellen.

Donnerstag, 17. September 2009

Was stört an Verbrechern?

Man möchte doch meinen, das Verbrechen.

Wenn wir die Berichte über die zwei jungen Männer, die vor zwei Jahren in der Münchner U-Bahn einen Rentner schwer verletzten, mit den Berichten über den jetzigen Mord in der Münchner S-Bahn vergleichen, fällt aber auf, dass im ersten Fall die Entrüstung oft darauf herumritt, dass es sich um Ausländer handelte, im zweiten Fall ging es dagegen um soziologische und psychologische Beurteilung der Täter, die ja "Deutsche ohne Migrationshintergrund" waren. Wann immer eine Kriminalstatistik veröffentlicht wird, die eigens die Ausländerkriminalität ausweist, wird das entsprechend kommentiert und - etwa von Regina Mönch in der FAZ die Berliner Kriminalstatistik 2007- zum Anlass genommen, die Ausländer als Problem zu beschreiben. An dieser Kriminialität scheint nicht sie selbst, sondern die Herkunft der Täter der Skandal zu sein. Bei deutschen Kriminellen ist das nicht so. Im Fall von 2007 liessen sich die Boulevardpresse, aber auch CSU-Politiker und Roland Koch breit über ausländische Straftäter, verschärfte Strafen, Abschiebung etc. aus.

In der seriösen Presse wird nicht ganz so gegeifert, aber man findet zum Beispiel Schirrmacher in der FAZ vom 18. Januar 2008


Die türkisch- und libanesischstämmigen Jugendlichen, die am vergangenen Donnerstag in Berlin einen Busfahrer mit dem Satz „Alles nur Scheiß-Deutsche überall!“ ohne Vorwarnung angriffen und verletzten, können sich aussuchen, was sie sind. Wir selber wissen noch nicht einmal, wie wir sie nennen sollen: Deutsche, Migranten, Deutsche mit Mitgrationshintergrund? Die radikalisierten Täter in München und Berlin wollen in dem Augenblick der Tat und vielleicht sogar überwiegend Nicht-Deutsche sein.

Die Gründe liegen so erkennbar auf der Hand, dass die Debatte darüber geradezu grotesk ist: Den jungen, ganz überwiegend muslimischen Männern verhilft die Ausgrenzung der „Deutschen“, ebenso übrigens wie die der Frauen, zu einem Gefühl der Überlegenheit. Die Deutschen, die sie an der Bushaltestelle sahen, entsprachen erkennbar dem, was sie sich unter normalen Deutschen vorstellen. Der Polizist aber, der das Trio verhaftete und der auf seine türkischstämmige Herkunft hinwies, wurde ebenfalls als „Scheiß-Deutscher“ beschimpft. In diesem Fall aber sollte die Bezeichnung gleichsam die Verachtung für den kulturellen Identitäts-Verrat markieren.


oder Berthold Kohler am 11. Januar 2008:

Ausgangspunkt für die Debatte war ein brutaler Überfall, bei dem sich Opfer und Täter nicht an die von den Ideologen des Multikulturalismus festgelegte Rollenverteilung hielten. Es liegt – nach den üblichen Kriterien – kein Akt von Ausländerfeindlichkeit vor, sondern einer von Deutschenfeindlichkeit.

Und beileibe kein Einzelfall, wie die Statistik zeigt. Nach den berüchtigten „No-go-areas“, über deren Existenz in Ostdeutschland gestritten wurde, muss man in den Großstädten des Westens nicht lange suchen: Unbescholtene Bürger überlegen sich, wann sie noch die U-Bahn benutzen; Schüler, welcher Teil des Pausenhofes noch sicher ist. Daran sind nicht nur die überproportionale Gewalttätigkeit und der Hass junger Männer ausländischer Herkunft schuld.


Schuld daran tragen auch all jene, die mehr Verständnis für Täter als für Opfer zeigen, die vom Versagen aller möglichen Systeme faseln und insgesamt Schlägern und Messerstechern jedweder Herkunft den Eindruck vermitteln, der deutsche Staat komme seiner Pflicht zum Schutz von Leben und Freiheit seiner Bürger bestenfalls zaghaft nach.

Koch hat dieses Zurückweichen zum Thema gemacht, und das ist gut so. Die Parteien könnten das Problem der Ausländerkriminalität weiter verschweigen und kleinreden. Doch damit brächten sie es nicht zum Verschwinden; sie verschafften nur den Extremisten mehr Zulauf, rechts wie links. Denn auch für den Fall, dass Struck wirklich nicht weiß, was in Deutschland vorgeht: Die Deutschen wissen es.


Der Versuch, zu verstehen, wie es zu der Gewalt kommt, wird im einen Fall von Mönch, Koch et al. als "Multi-Kult-Kuschelkurs" abgetan. Jetzt, wo die Täter Deutsche "de souche" sind, bleibt gar nichts anderes übrig, als die Täter genauer zu betrachten. Und siehe da, sie haben noch mehr Eigenschaften, als Deutsche zu sein.

Es gibt in der Kriminalstatistik auch komplexe Modelle, die viele Faktoren berücksichtigen. (siehe etwa Pfeiffer u. Wetzels: The structure and development of juvenile violence in Germany, KFN, Hannover 1999.) Welcher Anteil der Kriminalität wird durch den jeweiligen Faktor erklärt? Solche Analysen sind schwierig, aber unumgänglich, wenn sich überhaupt etwas aus Statistik lernen lassen soll, da Korrelation eben keine Kausalität ist.

Diese statistische Banalität muss leider immer wieder gesagt werden, so oft wird ihr zuwider eine Statistik ausgebeutet: Frauen sind kleiner. Frauen leben länger. Es ergibt sich die Korrelation "Kleine Menschen leben länger". Sollten wir uns also besondere medizinische Programme für grosse Menschen ausdenken? Wie dumm.

Die Bereitschaft, ohne grosse Bedenken, die Grösse "Herkunft" für eine Problemursache zu halten, ist der Xenophobie näher verwandt, als ihr lieb sein kann.

Manche Argumentationsfehler lassen sich im Rahmen komplexerer Modelle aufdecken, aber der Sprung von Korrelation zur Kausalität kann grundsätzlich nur mit Hilfe anderweitiger gegenstandsbezogener Theorien stattfinden. Psychologen sagen uns, dass eigene Gewalterfahrungen als Opfer auch die Gewaltbereitschaft erhöhen. Das scheint auf alle diese Täter zuzutreffen. Ein Zusammhang zwischen sozialer Misere und häuslicher Gewalt ist ebenfalls belegt. In einem umfassenden kausalen Modell könnte man unter den Ursachen womöglich die Kräfte der Politik und der Wirtschaft finden, die Armut und Billiglohn verbreiten, von denen Ausländer übrigens besonders betroffen sind. (In den statistischen Modellen wird ein Teil der Unterschiede in der Delinquenz auf diese Weise erklärt. Es gibt einen Rest, der nicht auf diese Weise 'sozial' erklärbar ist, sondern auf kulturelle Besonderheiten, etwa 'Männlichkeitsvorstellungen' zurückführbar scheint. Die Unterschiede sind aber nicht so dramatisch, dass ein großes Wehgeschrei angemessen scheint. Es gibt sicher viele Probleme, aber keinen Grund, auf bestimmte Gruppen zu zeigen und von diesen zu behaupten, sie seien unser Unglück.) Die Analyse der Ursachen ist eine intellektuelle Pflicht, nichts Schwurbeliges. Was sich mit "man wird doch mal sagen dürfen" zu Wort meldet, ist oft nur Ressentiment. Machen Sie doch mal das Experiment, in solchen Texten "Ausländer" durch "Jude" zu ersetzen, und es wird Ihnen nicht sehr wohl dabei werden. Was glauben Sie wohl, hätte der "Stürmer" aus dieser Meldung gemacht:

Der 23-Jährige habe zugegeben, am vergangenen Sonntag einen 43- jährigen Fernmeldemonteur an einem Münchner U-Bahnhof zusammengeschlagen zu haben, teilten die Beamten mit. Der Auszubildende hatte nach eigenen Angaben auf dem Oktoberfest fünf bis sechs Maß Bier getrunken, bevor er in die U-Bahn stieg. In der Bahn zündete er sich eine Zigarette an, Fahrgäste protestierten. An der Schwabinger Station Giselastraße schoben ihn Fahrgäste, unter ihnen der 43-Jährige, aus der Bahn. Der Raucher spuckte dem Fernmeldemonteur daraufhin ins Gesicht und beschimpfte ihn. Als der 43-Jährige ihm folgte, schlug er ihn nieder und trat ihm gegen den Kopf. Der Mann erlitt eine Gehirnerschütterung, Gesichtsverletzungen, eine Schulter- und Hüftfraktur. [...]Der 23-Jährige, der einen deutschen und einen israelischen Pass besitzt, war wegen Nötigung und Beleidigung aktenkundig.


Immer wieder höre ich in letzter Zeit Sätze in Kohlers Art, man solle "endlich mehr Verständnis für die Opfer als für die Täter zeigen", geäussert von Akademikern oder Künstlern mit Beispielen von türkischen oder arabischen Tätern. Das Bedürfnis nach Verdammung ist offenbar grösser als der Wunsch, etwas zu verstehen, und solange die Gruppen, über die man schwadroniert, keine Juden sind, ist man halt kein Nazi. Wünsche, wohl zu ruhen.

Donnerstag, 10. September 2009

Frau Teflon

"Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror. Er ist von dort gekommen und nicht umgekehrt."

erklärte Frau Merkel. Und deshalb sind die seit Anfang des Jahres durch Luftangriffe der NATO getöteten ca. 800 Zivilisten irgendwie auch Opfer der Terroristen vom 11. September. Dass Zivilisten bei den Tanklastzügen standen, scheint inzwischen zwar klar, aber Merkel wendet sich gegen "Vorverurteilungen". Das klingt vorsichtig, sachlich, ist aber nach Sachlage einfach nur ein Verzögern des Eingeständnisses, dass sehr wohl Zivilisten dran glauben mussten. Wichtig ist, die erste Empörung auszusitzen, später ist es dann keine Nachricht mehr.
"Wir trauern um jeden Menschen, der in Afghanistan unschuldig zu Tode kommt."

Ja, fein. Es kommen aber jede Wochen Zivilisten auch durch Nato-Einsätze um. Wir trauern demnach um die Leute, die wir umgebracht haben. Und deswegen sind unsere Soldaten zwar Töter, aber nie Mörder, gell? Die Erregbarkeitsschwelle ist aber inzwischen sehr hoch. Die Hohlheit von Merkels Worten wirft ihr niemand vor, gefährlich wäre es dagegen, etwas zu sagen. Dass sich Profillosigkeit auszahlt, liegt unter anderem an einem merkwürdig zahmen Journalismus. Na ja, einige der Phrasen werden's in die "Briefe an die Leser" der Zeitschrift "Titanic" schaffen. Soweit die kritische Öffentlichkeit.
Einen Tag später, als die zivilen Opfer noch weniger bezweifelt werden können, verspricht Merkel noch mehr Aufklärung und sagt wieder so einen typisch merkelschen Satz
„Mir ist es sehr wichtig, dass die Soldaten wissen, dass wir hinter ihnen stehen und sie unsere politische Unterstützung haben.“

Das ist ja aber auch das mindeste, wenn man sie hinschickt in einen Krieg, den man so zu nennen sich weigert. Ob die Soldaten auch bemerken, dass Merkel ihnen,indem sie ihnen "Rückendeckung" gibt, die Verantwortung zuweist? Wir, die Regierung haben keine Fehler gemacht, allenfalls habt ihr Fehler gemacht, ABER wir stehen hinter euch als eure Regierung. Verantwortlich seid natürlich ihr, nicht wir. Diese Teflon-Sätze sind ein wahres Wunder an Abwälzung und Nicht-Festlegung. Wie wär's denn mal so:
Wenn Zivilisten verbrutzelt wurden, ist in erster Linie die Regierung verantwortlich und nicht die Soldaten, die sie schickt. Wo gehobelt wird, fallen natürlich Späne, und aus der Luft lässt sich ein Zivilist nun mal schlecht von einem Kämpfer unterscheiden, das ist uns klar. Wir trauern natürlich nicht um diese ganzen wildfremden Toten, das sag ich nur so.

Binders Haupt

The first images of alleged al-Qaeda mastermind Khalid Sheikh Mohammed at Guantanamo Bay have appeared on the internet.

meldet die BBC und lässt anschließend Jarret Brachman zu Wort kommen:
But the images have appeared in recent days on extremist websites, according to Jarret Brachman, former research director at the Combating Terrorism Center of the West Point US Military Academy. He said the images - which emerge on the eve of the eighth anniversary of the 9/11 attacks - could inspire extremists.
"What's problematic for me is it really humanises the guy," Mr Brachman told AP news agency.

Ja, man soll demnach seine Feinde dehumanisieren? Wenn das der Geist ist, in dem der so genannte "war on terror" geführt wird, ist er ja ganz so, wie sich die Karikatur die Terroristen vorstellt. Einen Verbrecher als Menschen zu bezeichnen und zu zeigen entschuldigt ja nicht sein Verbrechen. Hegel wählt in seiner polemischen Schrift "Wer denkt abstrakt?" eben dies Beispiel eines Mörders, der für ein abstraktes und schlechtes Denken nur ein Mörder ist. Die Hinrichtung des Mörders ist die Strafe für den Mord, sie bezieht sich auf den Mörder als Mörder. Ein nicht so armes und abstraktes Denken kann den Mörder zugleich noch als etwas anderes sehen.
Ich brauche für meinen Satz nur Beispiele anzuführen, von denen Jedermann zugestehen wird, daß sie ihn enthalten. Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? wie kann [man] so schlechtdenkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid auch wohl etwas nicht viel Besseres! Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt.

Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte. – Es kann wohl Leute geben, die, wenn sie solches hören, sagen werden: der will diesen Mörder entschuldigen! Erinnere ich mich doch, in meiner Jugend einen Bürgermeister klagen gehört [zu haben], daß es die Bücherschreiber zu weit treiben und Christentum und Rechtschaffenheit ganz auszurotten suchen; es habe einer eine Verteidigung des Selbstmordes geschrieben; schrecklich, gar zu schrecklich! – Es ergab sich aus weiterer Nachfrage, daß Werthers Leiden verstanden waren.

Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen. Ganz anders eine feine, empfindsame Leipziger Welt. Sie bestreute und beband das Rad und den Verbrecher, der darauf geflochten war, mit Blumenkränzen. – Dies ist aber wieder die entgegengesetzte Abstraktion. Die Christen mögen wohl Rosenkreuzerei oder vielmehr Kreuzroserei treiben, das Kreuz mit Rosen umwinden. Das Kreuz ist der längst geheiligte Galgen und Rad. Es hat seine einseitige Bedeutung, das Werkzeug entehrender Strafe zu sein, verloren und kennt im Gegenteil die Vorstellung des höchsten Schmerzes und der tiefsten Verwerfung, zusammen mit der freudigsten Wonne und göttlicher Ehre. Hingegen das Leipziger [Kreuz], mit Veilchen und Klatschrosen eingebunden, ist eine Kotzebuesche Versöhnung, eine Art liederlicher Verträglichkeit der Empfindsamkeit mit dem Schlechten.

Ganz anders hörte ich einst eine gemeine alte Frau, ein Spitalweib, die Abstraktion des Mörders töten und ihn zur Ehre lebendig machen. Das abgeschlagene Haupt war aufs Schaffot gelegt, und es war Sonnenschein; wie doch so schön, sagte sie, Gottes Gnadensonne Binders Haupt beglänzt! – Du bist nicht wert, daß dich die Sonne bescheint, sagt man zu einem Wicht, über den man sich erzürnt. Jene Frau sah, daß der Mörderkopf von der Sonne beschienen wurde und es also auch noch wert war. Sie erhob ihn von der Strafe des Schaffots in die Sonnengnade Gottes, brachte nicht durch ihre Veilchen und ihre empfindsame Eitelkeit die Versöhnung zustande, sondern sah in der höheren Sonne ihn zu Gnaden aufgenommen.

Alte, ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, entgegnet diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Eiern sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im Spital gestorben, – schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemd an; man weiß wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere nicht wären, war jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße manche im Stockhause, – flick sie sich nur die Löcher in den Strümpfen! – Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt und subsumiert sie nach Halstuch, Mütze, Hemd usf. wie nach den Fingern und anderen Partien, auch nach [dem] Vater und der ganzen Sippschaft, ganz allein unter das Verbrechen, daß sie die Eier faul gefunden hat; alles an ihr ist durch und durch mit diesen faulen Eiern gefärbt, dahingegen jene Offiziere, von denen die Hökersfrau sprach – wenn anders, wie sehr zu zweifeln, etwas daran ist –, ganz andere Dinge an ihr zu sehen bekommen mögen. [zitiert nach zeno.org]


Khalid Sheikh Mohammed sitzt in Guantanamo für seine Beteiligung an dem Anschlag, ein Mörder, in dem auch noch etwas anderes zu sehen nach Brachman gefährlich ist. George W. Bush muss, je nach Rechnung, Hunderttausende oder über eine Million Tote im Irak und Afghanistan verantworten, er ist nach der umgekehrten Abstraktion aber nur demokratisch gewählter Präsident. Geht's noch?

Warum heißen sie Wasserleute?

Weil sie die Kutschentüren aufmachen.


Dieses Beispiel für unbefriedigende Erklärungen aus dem Roman "Peter Simple" von Captain Marryat, den ich in meiner Jugend gern gelesen habe, fällt mir jedesmal ein, wenn ich eines der Schilder sehe:

Weil Arbeit faire Löhne braucht: SPD.

Warum eigentlich SPD, wenn gerade unter der SPD Billiglohn sich dermaßen verbreitet hat?

Montag, 31. August 2009

Wahlkampf - Zeit der Vergesslichkeit III

Können Sie sich noch erinnern, wie nach der Veröffentlichung des Armutsberichts der Bundesregierung vor einem Jahr das Thema „Armut“ etwa drei Wochen durch die Talkshows geschleift wurde? Dort wurde dann immer eine „ausgewogene Runde“ eingeladen. Einerseits durfte der Politologe Christoph Butterwegge, der viel von Armut weiß, den relativen Armutsbegriff und die Wirklichkeit von in reichen Ländern Armen erläutern, andererseits saß da meist auch einer wie Hans-Werner Sinn, der von Armut wenig weiß, und durfte verbreiten, man „jammere auf hohem Niveau“,

Man schaue sich doch zum Vergleich die dritte Welt an! Soviel Pluralität rettet den guten Schlaf derjenigen, die sich erlauben können, Armut zu ignorieren. Alles halb so schlimm, relative Armut, haha!, bei uns gibt's ja keine Arme. Ja, früher hätt man die zum Mittelstand gezählt. (Etwas in dieser Richtung sagte leider auch Helmut Schmidt.)

Das Unbehagen über den Bericht konnte ausgesessen werden. Warum ist Armut jetzt kein Wahlkampfthema? Weil die Armen kaum noch wählen gehen, vielleicht, und weil es schon politischen Mut erfordert, gegen Spott a la Sinn den wohlhabenden Leuten die Beseitigung relativer Armut vorschlagen und ihnen zuzumuten, derlei durch ihre Steuern zu finanzieren.

Wahlkampf - Zeit der Vergesslichkeit II

Die SPD macht einen bizarr verlogenen Wahlkampf, sie stellt demnächst Vollbeschäftigung in Aussicht. Die Arbeitslosigkeit ist schon lange hoch, daneben gibt es immer mehr Billiglohn und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die so beschönigend wie unklar „der zweite Arbeitsmarkt“ genannte werden. Soll die Verheißung so gedeutet werden, dass zur Not auch alle Arbeitslosen in Ein-Euro-Jobs aus der Statistik verschwinden? Oder, gutwillig, als Bluff?

Wolfgang Engler schreibt im Freitag vom 20. August 2009

„Seit der [Peter Hartz] vor Gericht stand und als Lügenbaron galt, den das falsche Versprechen eingeholt hatte, die Arbeitslosenzahlen binnen zweier Jahre zu halbieren, verlor er seinen Platz in der sozialdemokratischen Ehrengalerie. Nicht so die große Wende, die er mehr als nur einfädeln half: die Unterwerfung der Masse der Arbeiter und Angestellten unter eine rein angebotsorientierte Beschäftigungspolitik. Mit seinen „Reformen“ senkte Hartz die Schwellen zumutbarer Arbeit so weit, dass die Ablehnung selbst unwürdiger Formen der Lohnarbeit die nackte Existenz in Frage stellte, und er tat dies zum ausdrücklichen Wohlgefallen der Parteiführung. Eine wahrhaft verrückte Partnerschaft für eine um die Arbeitnehmerschaft herum gebaute Volkspartei; offenes Geheimnis ihres Ansehensverlustes; Startsignal für eine gesamtdeutsche Linkspartei.

Hier müsste die Fehlersuche ansetzen, um zu der Ansicht vorzudringen, dass nichts von dem, was seinerzeit erdacht und beschlossen wurde, alternativlos war. Stattdessen beglückte der Kanzlerkandidat der SPD mit dem verzweifelten Versprechen, die Arbeitslosigkeit im Verlauf der nächsten Dekade zu besiegen; eine Neuauflage der Vollbeschäftigungslüge statt der dringend notwendigen Revision des geistigen Inventars. Dem Kandidaten vorzuwerfen, dass er dem Wahlvolk eine Langzeitperspektive präsentiert, hieße den Kleinmut, der Politiker nur allzuoft befällt, wenn von der Zukunft die Rede ist, zur Norm erheben. Der Vorwurf zielt allein aufs Konkrete der „Vision“. Sie erhebt Erwerbsarbeit zur einzigen Garantie gesellschaftlicher Teilhabe. Die Rede von der Vollbeschäftigung dient als Alibi, um von den Alternativen, einem Grundeinkommen beispielsweise, schweigen zu können [...]“


Diese Ausführungen wären um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen. Gerade unter der rot-grünen Koalition und durch ihre Reformen ist der Anteil „prekärer Arbeit“ enorm gestiegen. Es gibt Millionen, die zwar in Lohnarbeit stehen, aber dennoch von einer wahrhaften „gesellschaftlichen Teilhabe“ weit entfernt sind. An anderer Stelle redet die SPD zwar von Mindestlöhnen und davon, dass man von seiner Arbeit solle leben können, aber das kann man nach ihren Handlungen in den letzten Regierungen auch alles nicht mehr ernst nehmen. Trauen könnte man ihr allenfalls dann wieder, wenn sie reinen Tisch machen würde und zugeben, dass ihre Politik die Lohnabhängigen verraten hat. So aber signalisiert alles: weiter wie bisher.

Wahlkampf - Zeit der Vergesslichkeit I

Die Sprüche auf den Plakaten stehen in so großem Widerspruch zu dem, was man weiß, dass man über die Dreistigkeit der Politiker verwundert wäre, wüsste man nicht, dass sie den Wahlkampf Werbeagenturen überlassen.

Frau Schavan etwa schaut mit einem an ein Lächeln gemahnenden Gesichtsausdruck von Plakaten, auf denen steht „Wir haben die Kraft für Bildung“. Merkwürdig sowieso die Formulierung von der „Kraft“ (und der Herrlichkeit, in Ewigkeit?), wo man doch einen guten Willen, gewisse Überzeugungen, Kenntnisse, Fähigkeiten, die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren als politische Tugenden wünschen würde, nicht aber „Kraft“. Wie steht es aber mit der Bildungsbilanz der Ministerin Schavan, dem „Hochschulpaket“, den „Reformen“?

Dazu schrieb am 23 Juli 2009 Bernhard Kempen (Präs. d. dt. Hochschulverbands, Staats- und Völkerrechtler in Köln) in der FAZ:

"Licht und Schatten liegen bei all dem eng beieinander. Die beiden Hochschulpakte schreiben die Unterfinanzierung der Hochschulen lediglich fort. 5500 oder 6500 Euro, die in den Hochschulpakten jährlich für einen Studienplatz veranschlagt werden, bleiben unter den bisherigen Ausgaben der Hochschulen, die im Jahre 2005 immerhin 7180 Euro pro Studienplatz betrugen. Der vom Wissenschaftsrat auf über 30 Milliarden geschätzte Sanierungsstau ist so immens, dass die Baumittel aus dem Konjunkturpaket weitgehend verpuffen werden. Die Vorgabe des Dresdner Bildungsgipfels vom Oktober 2008, vom Jahr 2015 an zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren, erscheint auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Es bleibt zwiespältig: Einerseits ist am Kernübel des deutschen Bildungssystems, seiner Unterfinanzierung, wenig geändert worden. Andererseits muss es hoffnungsvoll stimmen, dass Schavan nicht ohne berechtigten Stolz darauf verweisen kann, keine Bundesregierung habe in der Geschichte dieser Republik so viel Mittel in Forschung und Lehre investiert wie die noch amtierende. [...]

Schavans Augenmerk galt primär der außeruniversitären Forschung. Zwar pries die Bundesministerin in Interviews den Eigenwert von Bildung. Konkrete Bedeutung für ihre Handlungsweise hatten solche Aussagen aber nicht. Im Gegenteil: Oberste Richtschnur blieb die ökonomische Verwertbarkeit des Wissens. So wurde ein "Hightech-Strategie" ins Leben gerufen und die Forschungsförderung auf anwendungsorientierte, marktgängige und zukunftsweisende Bereiche konzentriert.

Bei Studienanfänger- wie Studienabschlussquoten blieb die Ministerin auf die Arithmetik der OECD-Statistiken fixiert. Qualitätabstriche an der universitären Ausbildung nahm sie zur Kenntnis. Als der Deutsche Hochschulverband nachweisen konnte, dass in der Dekade von 1995 bis 2005 rund 1500 Universitätsprofessuren ersatzlos gestrichen worden waren, verwies sie auf die vermeintliche Kompensation durch den Aufbau von Fachhochschulprofessuren. Hinweise, dass nur die Universitäten eine sich aus der Forschung ständig erneuernde Lehre bieten können, beeindruckten die Ministerin kaum. [...]

Viel zu weit ließ sie schließlich den Bologna-Zug in eine Sackgasse fahren. Während die Studienabbruchquoten stiegen und die Studienmobilität sank, kamen aus Berlin nur Jubelmeldungen und Durchhalteparolen. Schavan, die ehemalige Leiterin des Cusanus-Werkes, fand zunächst kein offenes Ohr für den Frust der Studierenden über das Bulimie-Lernen. Stattdessen folgte sie ihren politischen Reflexen und zeigte den Betroffenen fast bis zum Schluss die kalte Schulter. Es gab kein reflektierendes Wort über die Vereinbarkeit des christlichen Menschenbildes mit der zunehmenden ökonomischen Verzweckung des Studiums, keine Auseinandersetzung der studierten Philosophin mit der Sinnhaftigkeit von studentischen "workloads" mit 40-Stunden-Woche, keine Mahnung, den Bildungsauftrag der Universitäten nicht ihrem Ausbildungsauftrag (gänzlich) zu opfern.

[...]

... die eine gute Forschungsministerin, aber keine Bildungsministerin war."


Immerhin hat das frühere, freiere Studium auch unreflektierte Philosophie-Absolventinnen wie die Schavan hervorgebracht, war demnach so gut auch nicht. Andererseits sollte man die Begabung für ideologische Verblendung, die sich manchal, aber nicht immer, im Theologiestudium zeigt, nicht der damaligen Hochschule, sondern allein ihr, Schavan anrechnen.

Friedemann Vogel (Doktorand in Sprachwissenschaft, Heidelberg) schrieb in derselben Ausgabe der FAZ:

"Wer aus einem "bildungsfernen" Haushalt stammt, wagt immer seltener ein Studium: Zu groß sind die Ängste vor Überschuldung durch Studiengebühren bei einem "sozialen", bei 6,5 Prozent liegenden KfW-Kreditzins und den Risiken auf dem unsicheren Arbeitsmarkt.

[...]

Die Geförderten [Stipendien] kommen dem neuesten Bericht des Hochschul-Information-Systems (HIS) zufolge "überdurchschnittlich häufig aus hochschulnahen" und besserverdienenden Familien. [...]

Doch aus der chronischen unterfinanzierung der Bildungseinrichtungen entstehen noch schwerwiegende Probleme. Deutschlands Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtsausgaben des Staates beträgt laut OECD-Bericht 2008 knapp 10 Prozent (OECD-Durchschnitt: 13 Prozent), die Gesamtbildungsausgaben, gemessen an ihrem Anteil am Bruttoinlandsprodukt, sind sogar zurückgegangen (Bildungsfinanzbericht 2008).[...]

Die Studienpläne sind nicht einmal innerhalb eines Bundeslands kompatibel, was die Mobilität der Studierenden massiv beeinträchtigt. [...]

Die Bildungspolitiker bemerken davon nichts, verweisen stattdessen auf ihre Leuchttürme: Die Mittel der Exzellenzinitiative jedoch sind nicht nur befristet, sie kommen ausschließlich der Forschung zugute. Die Lernenden sehen durch die kurzlebige Finanzspritze keine Verbesserung ihrer Situation, eher eine Verschlechterung. Denn die Drittmittelanträge müssen von den bereits ausgelasteten Lehrenden geschrieben werden. Das kostet Zeit, die ihnen in der Lehre fehlt."



Es ist gut, sich in der Kritik nicht auf den Argumentationsstil der Bildungspolitiker einzulassen. Demnach wäre Bildung eine Invesition, deren Rendite ökonomisch zu messen wäre. Und trotzdem kann man "in diesen Zeiten" nicht (also nie) darauf verzichten, auf die wirtschaftliche Abhängigkeit eines hochentwickelten Landes von seinem Bildungssystem hinzuweisen. Das ist aber nicht alles, eine möglichst für alle Teile der Bevölkerung zugängliche übers Ausbilden hinausgehende Bildung wäre ein WERT, den der Wohlstand dieser Gesellschaft zu realisieren erlaubt. Tut sie es nicht, ist sie wohl barbarisch. Schavan ist faktisch eine Barbarin, es ist nicht gut, das unter schleimig-umständlichen Formulierungen zu verbergen. Sie ist damit in guter Gesellschaft. Das gefährliche an einer Argumentation a la Bildungsökonomen ist auch, dass diese auf ihrem Feld, selbst wenn sie unrecht haben, schwer zu schlagen sind. Es findet sich immer eine Studie, die beweisen wird, dass uns der Bachelor fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts macht o. ä. „Wir sind Barbaren und haben die Kraft...“, einen gehaltvollen und für eine Demokratie wichtigen Bildungsbegriff zu verraten und das Bildungssystem für eine wieder verstärkt so benannte Unterschicht abzuschotten.

Nachtrag zu "Sarkozy kann es nicht hinnehmen": Die Burka

Mohammed Hanif beschreibt (Der Freitag, 20. August 2009) seine Rückkehr nach Pakistan, nachdem er viele Jahre in England als Journalist gearbeitet hatte.

„In altmodischer britischer Manier möchte ich um Besonnenheit bitten, Die Nachrichten vom unmittelbar bevorstehenden Niedergang Pakistans sind vorschnell.“


In den westlichen Berichten über Pakistan wird das Land zur Karikatur, obwohl diese Berichte zutreffend von wirklichen Problemen dieses Landes sprechen. Der Fehler liegt eher in allem, über das nicht gesprochen wird, dem normalen Leben, das ja grundsätzlich keine Nachricht wert ist. Sobald ein Aspekt als bedrohlich wahrgenommen wird, überstrahlt dessen Beschreibung alles andere, ähnlich ist es ja mit dem Iran oder Syrien. In Aleppo war ich über die vielen bis auf einen Seeschlitz verschleierten Frauen erstaunt, ähnlich ging es Hanife in Karaschi. Und ähnlich bei ihm wie bei mir die Entdeckung, dass das nicht einfach als Resultat einer Unterwerfung verdammt werden kann, als ob sich die verschleierten Frauen nicht auch hätten entscheiden können. Es ist sehr leicht, zu behaupten, für derlei können man sich bei gesundem Verstand gar nicht entscheiden. Jakob Arjouni lässt seinen deutsch-türkischen Privatdetektiv Kayankaya an einer Stelle bemerken, dass Menschen, die von außerhalb Europas kommen, nie „Gründe“ haben, sondern eine „Kultur“. Ja, das ist wohl deren Kultur.

„So schien mir zum Beispiel bei meiner Rückkehr, als ob ein beträchtlicher Teil des Landes beschlossen hätte, sich unter schwarze Hijabs und Burkas zu flüchten. Sie scheuten nicht vor mir zurück, sondern hatten lediglich beschlossen, dass es cool sei, sich zu kleiden wie die Frauen aus der arabischen Wüste.

Die Burkafizierung der pakistanischen Frauen hatte schon Jahre zuvor begonnen. Als Besucher hatte ich immer angenommen, es handle sich um einen Anfall saisonaler Frömmigkeit. Ich bin in einem pakistanischen Dorf aufgewachsen, in dem die erste Burka in den Achtzigern als Zeichen von Unzüchtigkeit betrachtet wurde. Wer sich entschieden hatte, sein Gesicht zu verhüllen, war doch wohl ganz bestimmt abartig oder verbarg irgendeine neue Perversion, die aus irgendeiner großen Stadt gekommen war. Auch meine verstorbene Mutter dachte so.

Wenn ich nach meiner Rückkehr aus London am Strand von Karatschi spazieren ging, steigerte ich mich in selbstgerechten Zorn über diese jungen Frauen, die in schwarzen Burkas am Strand herumhingen, wo sie doch eigentlich in der Schule sein oder in irgendeiner Moschee für unser aller Seelenheil beten sollten. Dann aber sah ich genauer hin und stellte fest, dass viele mit einer Verabredung da waren. Einige knutschten sogar bei helligtem Tage mit bärtigen Männern herum. Wenn man von Kopf bis Fuß mit einer schwarzen Robe verhüllt ist, ist das schon ein Spektakel – eines, das die gerade richtige Mischung von Chance und Herausforderung bietet. Als meine Frau und ich vor ein paar Tagen am Strand spazieren gingen, entdeckten wir ein Paar, das sämtliche Möglichkeiten der Burka erkundete. Er lehnte sich an ein Motorrad, das arabische Meer umfloss ihre Füße.“


Wer, aus dem Westen kommend, keine Phase er Selbstgerechtigkeit durchmacht, ist vielleicht nicht ganz aufrichtig, wer aber in der Selbstgerechtigkeit verharrt, ist recht eigentlich dumm. Denn man muss bloß schauen, fragen und zuhören, um etwas weit Komplizierteres zu sehen als „von Patriarchat und religiösem Fundamentalismus unterdrückte Frauen“. In Syrien habe ich Männer und Frauen nach diesen Verschleierungen gefragt und erhielt übereinstimmend die Antwort, dass es sich unter anderem um eine Mode handelt, die sich ähnlich wie in Pakistan erst seit den 80er oder 90er Jahren verbreitet hat. Mir mag die Mode gerne bizarr vorkommen, das ermächtigt mich doch nicht, zu glauben, sie könnten gar keine Gründe haben. Die hiesigen Moden kommen mir ja oft nicht weniger bizarr vor, nur hatte ich mehr Zeit, mich nolens-volens dran zu gewöhnen.

Hanife bemerkt weiter, dass sich das Leben der meisten um praktische Fragen dreht, um die häufigen Stromausfälle in Karatschi, und lustigerweise um dasselbe auch in Aleppo. Die Bereitschaft, Vorurteile aufzugeben, sollte selbstverständlich sein für einen Journalisten. Aber es gibt so etwas wie Moral-Kartelle in Presse und „Blogosphäre“, die schnell bereit sind, mit Vorwürfen zu kommen, einer sei auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, entschuldige Unrecht und Unterdrückung, und sei gerade dadurch hochmütig und kein Humanist, dass er in fremden Ländern auf die hiesigen Maßstäbe verzichte. Der Vorwurf enthält aber oft eine petitio principii. Prämisse: Die Burka ist nicht das Ergebnis von Freiheit, sondern von Zwang und Unterdrückung. Folgerung: Jegliches Verständnis für die Burka rechtfertigt demnach Zwang und Unterdrückung. Nur ist es eben nicht so einfach; die Rechthaber wird's nicht kümmern, dass ihre Prämisse nicht stimmt. Wer die Prämisse nicht teilt, ist halt nur auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, etc.

(Hagen Rether: "Ja natürlich Kuschelkurs, was denn sonst?")

Freitag, 7. August 2009

Sarkozy kann es nicht hinnehmen

Die Burka ist auf dem Territorium der französischen Republik nicht willkommen. [...] In unserem Land können wir es nicht hinnehmen, dass Frauen hinter einem Maschengitter gefangen sind, abgeschnitten von jedem sozialen Leben, jeder Identität beraubt.


sagte Nicolas Sarkozy im Juni. Dass Frankreich von Burkas überschwemmt würde, kann niemand behaupten. Mit solchen markigen Sätzen, die das Feindbild "Islam" betreffen, kann ein Politiker dennoch punkten, wie unsachlich er dabei auch wird ("Jeder Identität beraubt"?), und wieviel er auch verschweigt.

Wir können es nämlich hinnehmen, dass in "unserem Land" (Frankreich oder auch irgendein ein anderes europäisches Land) Hunderttausende bis Millionen von Migranten und Migrantinnen klandestin von schlecht bezahlter Arbeit leben, abgeschnitten vom sozialen Leben, weil "wir" ihnen die Legalisierung verweigern. Ist ja auch "notre pays" und nicht "le leur". Wir können es auch hinnehmen, dass unsere Kleidung von Asiatinnen für zwanzig Cent pro Stunde, achtzig Stunden pro Woche, genäht wird, die "jedes sozialen Lebens beraubt sind" vor lauter ungerecht bezahlter Arbeit. Aber das ist ja Öknomie, gelt, die Näherinnen sind zwar unterdrückte Frauen, aber nur als Näherin, nicht als Frau unterdrückt, gelt?

Der aufgeklärte Säkularismus, der "jeden nach seiner Facon" selig werden lässt, wird von den Sarkozys zugunsten eines Kulturkampfs fallen gelassen: Der Staat als Erzieher derjenigen, die die falschen Werte haben. Und das sind natürlich die Moslems, nicht Christen, Juden oder Buddhisten. Ob die jeweilige Trägerin einer Burka sich dazu entschieden hätte oder solches nur unter dem Druck patriarchaler Strukturen getan hätte, wäre für die Frage, ob eine Einmischung rechtens wäre, wichtig. "Niemand würde sich aber für eine Burka entscheiden" sagt der gesunde Menschenverstand, der flugs das eigene Urteil extrapoliert. Kürzlich sprach ich mit einer Professorin in Aleppo, gerade weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine sich in der Hitze freiwillig komplett bedeckt. (In Aleppo sieht man neben westlich gekleideten und sogar besonders aufgebrezelten Frauen alle Grade der Verschleierung bis hin zur totalen, die nur den Augenschlitz freilässt und noch die Haut der Hände mit schwarzen Handschuhen bedeckt.) Sie teilte mir nun mit, dass, während sie ihr Haar frei trägt und a la francaise gekleidet ist, ihre Schwestern sich für je verschiedene Grade der Verschleierung entschieden haben, dass es ihrem Urteil nach oft eine individuelle Entscheidung wäre. Außerdem teilte sie mir mit, dass vor dreißig Jahren praktisch keine total Verschleierten in Aleppo zu sehen waren, es sich um eine neue Entwicklung handle. Über deren Gründe stellte sie keine Mutmaßungen an. Es sind also nicht "noch" "rückständige" Familienstrukturen, sondern - zum Teil wenigstens - bewusste Rückwendungen auch der Frauen selbst.

Aber das kann doch nicht! Sie entschuldigen es auch noch! Schrecklich!

Aber man muss ja, um etwas als legitime Selbstbestimmung anzuerkennen, keineswegs die Motive nachvollziehen können. Mir ist ja vieles ein Rätsel, was meine Mitmenschen tun. Werde ich FKK verbieten wollen, weilich eher schamhaft bin? Verbieten wir doch nicht nur Habit von Nonnen und Mönchen, sondern die ganzen Orden. Kann man sich denn vorstellen, dass sich einer oder eine freiwillig für komplette sexuelle Enthaltsamkeit, Unterordnung unter eine strenge Hierarchie oder gar lebenslanges fast komplettes Schweigen entscheidet? Tun aber Leute. Es gibt Spielarten des Christentums und des Judentums, die Frauen ganz bestimmte Rollen zuweisen. Verbieten? Dagegen polemisieren? Wir können es nicht hinnehmen, dass Frauen und Männer sich Metalldinger durch die Haut schieben, so dass die intolerante Mehrheit gar nicht umhin kann, sich mit Schaudern abzuwenden und die solchermaßen gezeichneten zu isolieren. Oder?

Sarkozy ist natürlich gar kein Kämpfer für irgendwelche Werte, sondern ein Opportunist, der den dumpf seine Ressentiments bebrütenden Teil Frankreichs, dem entsprechenden Deutschlands nicht unähnlich, bedient. Durch Bevormundung und das Beschwören von Werten, die man gleichzeitig bricht, durch zweierlei Maß also, tut er den Werten nichts Gutes. Sie riechen dann immer mehr nach Imperialismus, nach Herrschaft, Ausbeutung und Krieg, und das haben sie nicht verdient.