Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Samstag, 27. Dezember 2008

Pinter ist tot

Harold Pinter ist tot. Seine Theaterstücke waren alles andere als indoktrinierend oder thesenlastig. Der Bürger Pinter bildete sich hingegen, wie es von jedem eigentlich erwartet werden kann, Urteile und vertrat sie auch. Die These ist nunmal die Gestalt des vertretenen Urteils, und die Kategorien, mit denen wir menschliches Handeln beurteilen, sind zwangsläufig auch moralisch. Die schicke Literaturkritik, die nun schon seit bald zwanzig Jahren alles verreißt, das sie im Verdacht hat, moralisch aufzutreten, schickt dem Toten einen Verriss nach, siehe unten.

Wen meinen wir mit "der Kritik"? Sie möchten Namen? Bitte: Ina Hartwig, Thomas Steinfeld, Ijoma Mangold und viele andere. Das Beklagen des "erhobenen Zeigefingers", die Behauptung, jemand sei "moralinsauer", "besserwisserisch", "rechthaberisch" ist inzwischen ein fester Topos des Feuilletons. Wer moralisiert, habe nicht den rechten Formwillen. Und umgekehrt sei, wer ironisiere, künstlerisch wertvoller, komplexer. Das Theorem ist zu dumm, um offen zugegeben zu werden, erklärt aber eine Urteilspraxis, die Schlingensief, wenn er nur verblasen genug redet, gut wegkommen lässt, bei Pinter aber ständig ein Gesicht zieht, als wäre er ein ungelüftetes Zimmer.

Dabei treten ja alle, wenn man ihnen unrecht tut, moralisch auf. Schlagen Sie mal einen dieser Kritiker oder stehlen Sie ihm den (Kaschmir-)Mantel, dann werden Sie ja sehen, ob "hilflose Moralappelle" (Luhmann, nach Titanic) kommen. Dass man von den Toten nur Gutes sagen solle, ist sicher falsch, aber wenn man das schon zu Lebzeiten bloß unterstellte Schlechte im Tode wiederholt, nun ja, das ist nicht sehr fein, aber es wird schön sein, darauf hinzuweisen, wenn die Geschichte einmal ih Urteil gefällt haben wird.

Wir erinnern uns: Pinter brandmarkte etwa anlässlich der Nobelpreis-Rede den anglo-amerikanischen Krieg im Irak und den in Afghanistan, zwei völkerrechtswidrige Kriege, die die Chancen friedlicher Konfliktbewältigung für die Zukunft verkleinert haben. Keiner kann sich auf das Recht verlassen, also müssen gerade die Kleinen sich bis zu den Zähnen bewaffnen. Selbst wenn der Iran nur ein ziviles Atomprogramm verfolgt, wird ihm das keiner von unseren Realpolitikern glauben, weil sie selbst an Stelle des Iran nach einer Lebensversicherung in Gestalt der Abschreckendsten aller Waffen trachten würden. Die Folgen dieser beiden Kriege lassen sich noch gar nicht absehen; ganz konkret aber sind die vielen Toten, die sich nicht als Kollateralschäden verniedlichen lassen. Pinter hat völlig zurecht vom Blut an den Händen Bushs und Blairs gesprochen. Igitt, was für ein schlechter Geschmack, Literaten sollen doch keine Aussagen treffen. Einen vollkommenen Verriss wollte zwar niemand als Nachruf schreiben, aber die Nachrufe müssen mit Distanzierung und Verriss anfangen, um sich dann zum eigentlichen Werk vorzukämpfen.


Itzo die kleine Presseschau:


Thomas Kielinger in der "Welt":

Manche waren nicht von ihm überzeugt, um es vorsichtig auszudrücken. Christopher Hitchens sprach in einer Rundum-Polemik gegen den gerade mit dem Nobelpreis Geehrten von dessen „finsterer Mittelmäßigkeit“. Als wolle er ein solches Urteil bestätigen, ließ der Laureat am 10. Dezember 2005 auf die in Stockholm versammelte Festgemeinde eine aufgezeichnete Hasstirade niederprasseln, gegen Amerika und das mit ihm im Irak verbündete Großbritannien, die jeder Seriosität Hohn sprach.

„Lieber Präsident Bush“, so ließ sich die Video-Stimme vernehmen, „gewiss wird es eine nette Tea-Party geben zwischen Ihnen und Ihrem Kriegsverbrecher-Kollegen Tony Blair. Bitte spülen Sie dabei doch Ihr Gurken-Sandwich mit einem Glas Blut herunter, mit meinen besten Empfehlungen“.

Jetzt ist Harold Pinter im Alter von 78 Jahren von der Bühne gegangen und damit hoffentlich einen Schritt näher gekommen an die Auflösung seiner quälenden Lebensfrage, warum es zwischen „wahr“ und „falsch“, zwischen „wirklich“ und „unwirklich“ nur fließende Grenzen gebe in der Kunst – eine Aporie, die ihn nach eigenem Bekunden „als Bürger“, als engagierten, nie bekümmert hatte. Im Gegenteil: Das Bekenntnis war ihm kostbar, die Sündenböcke dieser Welt mussten scharf markiert werden, keine schwebende Undeutlichkeit der Zeichnung – das Markenzeichen seiner Bühnenkunst – war erlaubt. Auch darüber, auch über diese Eindeutigkeit, wird ihm nun Aufklärung zuteil.


Es ist ein Jammer, dass der Extremismus seines politischen Urteils in dieser Spätphase den Blick auf Pinter, den Bühnenautor, verstellen konnte.


Anschließend honoriert Kielinger dass "eigentlich schon immer politische" Werk und sagt am Schluss voraus, das Zeitlose daran werde bleiben. Immerhin legt Kielinger seine politischen Karten auf den Tisch: "die jeder Seriosität Hohn sprachen". Wenn die Geschichte einmal geurteilt haben wird, wird man diesen Parteigeist hoffentlich mit beurteilen. Stracks rechts und aus Prinzip auch in zweifelhaften Fällen proamerikanisch kann sich die "Welt" doch eine Bejahung der ehemaligen Avantgarde leisten. Kielinger kennt aber zumindest einige Stücke Pinters und schreibt darüber.

Was schreibt Gina Thomas in der FAZ?

Als Harold Pinter vor nicht allzu langer Zeit verkündete, dass er keine Stücke mehr schreiben werde, wollte ihm kaum jemand glauben. Man hielt die Aussage für Koketterie und machte sich über seine Eitelkeit lustig, schließlich hatte es schon früher Perioden gegeben, in denen er große Mühe hatte, fürs Theater zu schreiben. Aber die Skeptiker müssen jetzt Abbitte leisten. Pinter hat Wort gehalten, womöglich weil er immer schon überaus rechthaberisch war. Und das nicht nur in politischen Fragen, sondern auch auf dem Tennisplatz und dem Cricket-Feld, wo er, wie seine Spielpartner bezeugen, stets mit äußerster Verbissenheit auftrat. Er, der ein großer Poet der Ungewissheit war und als einzige Gewissheit den Tod anerkannte, hat jetzt sozusagen mit der Nachricht von seinem Ableben zum letzten Mal recht behalten.

Im Grunde war seine ganze Rechthaberei ein Versuch, den Zweifeln und Unsicherheiten der menschlichen Existenz eine Antwort abzupressen. Dieser Zweifel sitzt im Kern aller seiner Stücke. Er lag auch seinem stacheligen Wesen zugrunde.


Auch hier muss der Text mit einer Distanzierung von allem Rechthaberischen beginnen. Glaubt die Thomas denn nicht, sie habe recht, wenn sie etwas veröffentlicht? Wir hingegen glauben, sie habe unrecht mit ihrer Einschätzung oder would-be-english-irony, Pinter habe am Ende aus Rechthaberei das Zeitliche gesegnet. Anders als Kielinger hat Thomas kein eigenes Urteil über Politisches. Die Rechthaberei störte, auch wenn Pinter womöglich recht hatte. Aber das spielt keine Rolle, eine Rolle spielt allein das Werk. Darüber schreibt sie dann meines Erachtens gar nicht so falsch, wenn auch so vage, dass anders als bei Kielinger unklar bleibt, ob sie sich an ein konkretes Stück erinnert. Ärgerlich finde ich vor allem die Überleitung, die den Zorn psychologisch aus Zweifel und den Ängsten verfolgten Judentums ableitet. Das ist ebenso einfach wie wenig schlüssig. Es gibt Gründe für Zorn und Gründe für Zweifel. Auch der theoretische Skeptiker urteilt in der Lebenspraxis. Braucht man Psychologie, um den Zorn über krasses Unrecht und das allgemeine behäbige Schweigen dazu zu verstehen? In Wahrheit bräuchte man wohl psychologische Erklärungen, um dieses Schweigen zu verstehen. Amerika bricht das Völkerrecht, beginnt Krieg aus Gründen, die sich als falsch herausstellen (WMD), schiebt andere Gründe nach (Demokratisierung) und wird am Ende nicht einmal diesen gerecht. Dennoch aber ist, wer schimpft, ein antiamerikanischer Hasser. Ja, man braucht Psychologie.

In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung immerhin ein Nachruf von Hans-Jürgen Jakobs, der nicht dem Zwang verfällt, den Lesern doch ja die eigene Distanz zu Pinters Positionen begreiflich zu machen. Jakobs schreibt darüber, was Pinter getan und geschrieben hat und nimmt ein eventuelles Urteil des Lesers nicht vorweg.

Jörg Sundermeier in der TAZ macht es andersrum als die Nachrufer von Welt und FAZ. Er distanziert sich am Schluss von Pinters Zornausbrüchen mit den Sätzen

Großbritannien sah er vom "Idioten" Blair moralisch diskreditiert. Wie alle Mahner und Warner wurde er rechthaberisch und verbissen, schließlich zog er sogar noch seine Kunst in seine Kämpfe hinein und schrieb einige ziemlich plumpe politische Gedichte.

Nicht jeder Autor ist zum politischen Denker geboren. Unter seinen Ausfällen litt sein literarisches Ansehen, gleichwohl aber war und ist Pinters dramatische Kunst eine Bereicherung für das Theater der Welt. Sie wird bleiben. Denn das, was bleibt, stiften nicht die engagierten Mitbürger, sondern die Dichter.


Wie alle Mahner und Warner wurde er also rechthaberisch und verbissen (die Vokabeln, die auch Gina Thomas benutzt), soso. Das gilt übrigens auch für Warner und Mahner, die recht haben. Was bleibt, stiften nicht die engagierten Mitbürger, sondern die Dichter. Bleibet nicht auch manchmal das Engagement, und zwar nicht durchs immer-wieder-aufgesagt werden, sondern durch seinen Beitrag zur Veränderung der Welt? Natürlich bleibt eine situationsgebundene Äußerung nicht im selben Sinne wie ein Text, der das nicht ist. Es ist ganz überflüssig, so etwas zu sagen, außer man wollte mal wieder klar machen, wo man selbst, i. e. Sundermeier steht.

Da mir allmählich die Lust an der Presseschau vergeht, komme ich zum Schluss.

Das Stück "Landscape" habe ich in meiner Jugend gelesen und glaube, dass es in dem Maße, wie Literatur das überhaupt vermag, Spuren hinterlassen hat. Es scheint mir überflüssig, an dieser Stelle eine Analyse nachzuschieben. Dass Pinter eine engagierte Nobelpreisrede hielt statt die üblicherweise erwarteten poetologischen Bemerkungen zu machen, fand ich erfreulich, obwohl ich zuzeiten auch solche Poetologie gerne gelesen habe. Aber es muss doch um Himmels willen nicht alles gleich sein. Und was er sagte, halte ich nach wie vor für richtig, glaube sogar, dass diejenigen, die sich bei ihren Nachrufen distanzieren mussten, später einmal vor Scham erröten werden, falls ihr Teint das zulässt. Dear Mr. Pinter, I hope you are all right, up there, in nothingness. I would have liked to meet you.