Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Samstag, 21. Juni 2008

P. wie Papagei

Horst Köhler, der Bundesp., hat am 17. Juni in Berlin eine fast schon schmerzhaft beschränkte Rede gehalten, in der manches Richtige über die Wirtschaft, viel Falsches dagegen von der sozialen Wirklichkeit zu lesen ist. Deutschland sei auf dem richtigen Weg, die Agenda 2010 sei ein guter Anfang, nun müsse es eine Agenda 2020 geben. Ein guter Anfang wofür? Köhler redet von Arbeit, Bildung und Integration.

Arbeit, Bildung, Integration - warum sind gerade die Ziele so wichtig? Weil sie schöpferisch sind und Freiheit sichern. Arbeit schafft Einkommen und sichert materielle Freiheit. Bildung schafft Selbstbewusstsein und sichert innere Freiheit. Integration schafft Zusammenhalt und sichert politische Freiheit. Wenn eins der drei fehlt, leiden auch die andern. Umgekehrt: Je mehr wir für Arbeit, für Bildung, für Integration erreichen, desto näher kommen wir allen dreien und desto mehr kann unser Land die ganze Kraft entfalten, die in ihm steckt. Das lohnt die Anstrengung.


Dass Arbeit Einkommen und materielle Freiheit schafft, ist ein Satz, der das Deutschland des Wirtschaftswunders widerspiegelt. Wie sieht es mit der materiellen Freiheit der Billigarbeiter aus? Deren Arbeit schafft aber durchaus materielle Freiheit für die, denen sie dienen.

Arbeit: Da gibt es erste Erfolge. In den vergangenen drei Jahren haben über 1,6 Millionen Menschen zusätzlich einen Arbeitsplatz gefunden. Dabei sind besonders viele Ältere, die es bisher auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hatten, und dabei sind auch besonders viele Menschen, die lange Zeit arbeitslos waren.

Diese Fortschritte tun dem Land unendlich gut. Am meisten helfen sie denen, die wieder in Arbeit sind, und ihren Angehörigen. Wenn zum Beispiel in einer Familie mit Kindern der Vater oder die Mutter wieder eine Vollzeitbeschäftigung aufnehmen, dann ist für diese Familie die Gefahr zu verarmen in fünf von sechs Fällen gebannt. Arbeit haben bringt aber nicht nur Geld ins Haus. Arbeit macht auch zufriedener, denn die meisten von uns wollen aus eigener Kraft für sich und die ihren sorgen. Arbeit gibt Anregung, sie gibt dem Familienalltag Ordnung, sie erweitert den Gesichtskreis um die Bekanntschaft mit Kunden und Kollegen. Arbeit haben bedeutet oft saure Wochen, das stimmt schon, aber sie bedeutet vor allem: gebraucht werden und auf eigenen Füßen stehen.

Selbst wer dabei zunächst wenig verdient, hat Fuß gefasst, um sich weiter hoch zu arbeiten. Selbst wer trotz Arbeit auf Hilfe angewiesen bleibt, tut doch das ihm Mögliche und muss nicht mehr Solidarität in Anspruch nehmen als nötig. Das ist fair und verdient Achtung. Alle sollen eine anständige Grundabsicherung haben und durch eigene Erwerbstätigkeit mindestens dazu beitragen können. Zugleich sollen aus dem Bereich niedriger Löhne und einfacher Arbeiten viele Türen und Treppen weiterführen, hin zu beruflicher Fortbildung und zu besser bezahlter Beschäftigung.


Auch die Billigarbeit adelt? Fuß fassen? Sich hocharbeiten? Jüngste Studien belegen, dass das für Leute in Maßnahmen und Billigjobs kaum je geschieht.


(Quelle: Tagesschau) Der Niedriglohnsektor bietet in Deutschland nur geringe Chancen für einen späteren Aufstieg in höhere Lohn- und Gehaltsgruppen. Einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge schafft lediglich jeder achte Geringverdiener den Sprung aus dem Niedriglohnsektor in ein besser bezahltes Arbeitsverhältnis.

Die von Wissenschaftlern der Universität Erlangen-Nürnberg unterstützten Forscher hatten die Erwerbsbiografien von Männern und Frauen begleitet, die 1998 und 1999 zur Gruppe der Geringverdiener zählten. Jeder Dritte arbeitete auch 2005 als Vollzeitbeschäftigter im Niedriglohnbereich. 13,3 Prozent gelang der Sprung über die sogenannte Niedriglohnschwelle von 1779 Euro im Westen und 1323 Euro im Osten. Sie bekamen nach sechs Jahren einen höheren Lohn. 13,5 Prozent der betrachteten Männer und Frauen waren teilzeitbeschäftigt und 10,1 Prozent arbeitslos. Von knapp einem Drittel lagen keine Informationen vor. Sie waren entweder ganz aus dem Erwerbsleben ausgeschieden oder hatten sich selbstständig gemacht, vermuten die Arbeitsmarktforscher.


Köhler spricht auch von Grundsicherung, sozialer Marktwirtschaft und dergleichen, hat sich aber verbissen in das Paradigma der Vollbeschäftigung. Ein sich ausweiternder Billiglohnsektor ist allein schon deshalb kein Sprungbrett, weil ganze Branchen davon erfasst werden. Einem, der zu den "arbeitenden Armen" zählt, ist der Satz kaum zumutbar: Selbst wer dabei zunächst wenig verdient, hat Fuß gefasst, um sich weiter hoch zu arbeiten. Selbst wer trotz Arbeit auf Hilfe angewiesen bleibt, tut doch das ihm Mögliche und muss nicht mehr Solidarität in Anspruch nehmen als nötig. Das ist fair und verdient Achtung.

Achtung, mon cul. Symbolische Anerkennung bei gleichzeitiger Verweigerung der Anerkennung, die in einer fairen Bezahlung besteht? Was ist fair? La vue n'est pas tres bonne a Bellevue.

Und wohlgemerkt, es ist ansonsten nicht alles falsch an dieser Rede. Dass unser Schulsystem Einwanderern zu wenig Chancen bietet, bemerkt und beklagt er richtig. Und dass die deutsche prosperierende Wirtschaft auf qualifizierte Arbeitskräfte, Bildung und Forschung angewiesen ist, stimmt ebenfalls. Und doch ist seine Antwort auf ein brennendes Problem der Gegenwart merkwürdig dumm. Die hohe Produktivität moderner Produktion macht viel Arbeit überflüssig. Andererseits ist vielerlei nützliche Arbeit nicht als Lohnarbeit, die "Einkommen und materielle Freiheit" schafft, zu haben. Die handelt er unter "bürgerschaftlichem Engagement" ab. Und auch wenn er sich gegen die Ersetzung des Sozialstaates durch freiwillige Arbeit verwehrt...

Die Bürgergesellschaft ist auch kein Ersatz und kein Reparaturbetrieb für das nötige staatliche Handeln. Niemand sollte auf die Idee kommen, unseren Sozialstaat zurückzubauen mit dem freundlichen Hinweis, das Fehlende könne ja dann von der Bürgergesellschaft geleistet werden. Oft wird eher umgekehrt ein Schuh draus, das zeigt der internationale Vergleich: Wo der demokratische Staat sich umfassend für das Wohl des Gemeinwesens verantwortlich fühlt, da ist vielfach auch die Bürgergesellschaft besonders vital. Bei uns in Deutschland ist dies schon recht gut gelungen. Wir sollten aber mit Nachdruck weiter daran arbeiten, die bestmögliche Mischung zu finden, und wir sollten dabei die kleinen Lebenskreise und ihre Fähigkeit zur Initiative stärken. "Gebt den Leuten Freiraum und lasst sie machen" - der Grundsatz kann noch viel stärker beachtet werden.


...ist auch darin noch ein Lob für die bereits jetzt teilweise prekären Verhältnisse und den Sozialabbau der letzten Jahre. Die würdig bezahlte Arbeit für Alle wird es im freien Spiel der Marktkräfte nicht geben. Es gibt verschiedene Ideen, wie dem beizukommen wäre, etwa die eines Grundeinkommens für alle oder aber ein stärkerere öffentlicher Sektor. Nichts davon ist in der Rede des Bundesp.

Die Studie des IAB und der Satz des P. vom "Fuß fassen und hoch arbeiten" widersprechen sich, und es sei erlaubt, einer mühsam erstellten Studie mehr zu trauen als dem Satz eines Redenschreibers. Der Satz ist FALSCH. Und nur weil es erlaubt ist, die soziale Wirklichkeit zu ignorieren, kann man es vermeiden, von einer Lüge zu sprechen. Es gibt anscheinend keine "soziale Fakten", an die man sich bei einer Rede zu halten hat. Und so kann man, ohne "es böse zu meinen", im Namen von
Chancen und Freiheit usw. Verhältnisse propagieren, in denen dauerhaft erhebliche Armut geben wird. Keine gelbe Karte für falsche Aussagen wird je gezogen.

Warum gibt es keine "sozialen Fakten" mit einiger Autorität? Es gibt bloß Studien, und die muss man "bezweifeln", vor allem, wenn man ihnen die falsche Couleur unterstellt. Bezweifeln ist eine ganz billige Operation, es ist schnelle getan, selbst wenn in der Studie Tausende von Arbeitsstunden stecken. In den Naturwissenschaften ist es anders. Wenn einer behauptet, Beten sei besser als Operieren bei Blinddarmentzündung, so macht er sich lächerlich. Köhler ist sich dieses Mangels übrigens teilweise bewusst. Er fordert unter anderem mehr wissenschaftliche Beurteilung der Wirksamkeit und der Kosten von Politik. Diese wissenschaftlichen Resultate lassen sich aber jetzt schon ignorieren.

Nach der Rede viel Lobhudelei. Wie kann das sein? Nun ja, die, die in dem hier ausgeblendeten Bereich der Welt gefangen sind, kommen nicht zu Wort, so einfach ist das. Und wenn einige von
diesen die Linkspartei wählen, redet man von ihnen als verirrten Schafen, statt darin eine berechtigte Entscheidung zu sehen. Es handelt sich also nicht nur um eine sich entwickelnde ökonomische Zweidrittelgesellschaft, sondern auch um eine Zweidritteldemokratie, die deren notwendiges Korrelat ist. Das dann bloß unter dem Titel der Demokratieverdrossenheit abzuhandeln, genügt nicht.

Dienstag, 10. Juni 2008

Waffenhandel, Rüstung, Entwicklungshilfe

Im letzten Jahr wurden nach Berechnung des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI weltweit 1339 Milliarden Dollar für Militärausgaben ausgegeben.

Davon entfallen 45 Prozent oder 547 Milliarden Dollar auf die USA, es folgen Großbritannien, China, Frankreich und Japan mit ca. fünf Prozent. Auf dem sechsten Platz, knapp vor Russland, stand Deutschland mit ca. drei Prozent oder 36,9 Milliarden Dollar.

Bei den Waffenexporten stehen die USA mit 31 Prozent an erster Stelle, gefoglt von Russland mit 25 Prozent und Deutschland mit 10 Prozent.

Das weltweite Entwicklungshilfevolumen betrug dagegen 2005 laut OECD 106,5 Milliarden Dollar. Noch immer fast eine Milliarde Menschen sind unterernährt. Erhebliche Teile der Menschheit haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, etc.


Die Armutsberichte sogar der entwickelten Länder sind alarmierend.

45 Millionen US-Amerikaner sind nicht krankenversichert, je nach Maßstab leben 10 bis 20 Prozent unter der Armutsgrenze. Die Säuglingssterblichkeit in afro-amerikanische US-Familien ist fast dreimal so hoch wie in weißen (und damit etwas auf dem Niveau des indischen Teilstaats Kerbala).
(Quelle: Human Development Report 2005, herausgegeben vom UNDP)

Der jüngste Armutsbericht der deutschen Bundesregierung zeigt, dass 13 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sind, und noch einmal genauso viele von Armut bedroht sind.

Natürlich lassen sich nicht alle Problem durch Geldausgeben lösen. Aber 1339 Milliarden, das ist frivol, bzw. zum Kotzen. Schweden hat kürzlich seinen Militärhaushalt drastisch gekürzt, um angemessene Sozialausgaben finanzieren zu können. Die Opposition meint, Schweden habe de facto seine Armee abgeschafft. Es geht doch.

Ach ja, eines noch: Warum das hier steht. Über Birma/Burma/Myanmar hieß es doch, wie verwerflich die Trägheit des Regimes angesichts der jüngsten Naturkatastrophe sei. Unterlassene Hilfeleistungen stört uns sehr an Regierungen, die wir ohnehin & wohl mit Recht nicht leiden können. Tja. 1339 Milliarden unterlassene Hilfeleistung. Die Zahl der Menschen, die allein in Afrika jedes Jahr bei besserer medizinischer Versorgung nicht sterben würde, geht in die Millionen. Wir können Myanmar unsere wundervoll weißen Hände zeigen.