Blutige Anschläge, begangen von französischen Staatsbürgern in Frankreich, die sich zum IS bekennen. Manuel Valls nennt das Krieg, so wie G. W. Bush nach 9/11 von Krieg sprach. Es war aber ein Anschlag, kein Krieg.
Der Feind im Inneren: Sarkozy schlägt vor, allen Franzosen, die verdächtigt werden, mit Islamisten zu sympathisieren oder in Kontakt zu stehen, elektronische Fußfesseln zu verpassen.
Derselbe Sarkozy hat, als einmal nach einer Polizeiaktion die Vorstädte brannten, deren Jugendliche als 'racaille' bezeichnet, als Abschaum, Gesindel.
Wie kommt es, dass französische Staatsbürger, die in den Genuss der in den letzten Tagen ständig zitierten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gekommen sind, zu einer solchen Tat des Hasses fähig sind? Sarkozys Vorschlag impliziert, man habe sie noch nicht genug kriminalisiert. Andererseits bestätigen französische Soziologen, dass die französische Gesellschaft und der französische Staat es versäumt haben, die 'exclusion' allzu vieler zu überwinden. An vielen wurden die Versprechen von Brüderlichkeit und Gleichheit nicht eingelöst. Die französische Polizei wurde mancherort als feindliche Macht erfahren. Dieses Problem werden Fußfesseln ebensowenig lösen wie Kriege mit anderen Ländern.
Selbstverständlich kann man alles auf die 'Verbreitung einer mörderischen Ideologie reduzieren' und daraus eine Legitimierung für Fußfesseln im Inneren und Luftangriffe im Äußeren basteln. Gewalt in verschiedenen Formen wäre demnach der angemessene Umgang mit einer gewalttätigen Ideologie.
Anders Behring Breivik hat sich bei seinem Anschlag unter anderem bei Argumenten bedient, die in dem bekannt-berüchtigten Blog "Achse des Guten" vorgebracht werden. Wo soll man denn da Luftangriffe fliegen? Dortmund? Berlin? Über die Fußfesseln für Neonazis und Neocons ließe ich gerne mit mir reden, kann aber auch daran nicht glauben.
Psychologen und Soziologen haben sich mit der Entstehung von Gewaltbereitschaft befasst -- ich habe nur wenig davon gelesen; sicher kennen die, die nach Gewalt gegen Gewalt rufen, noch weniger davon. Denn es scheint kaum zu bezweifeln, dass Gewalterfahrungen zu Gewalt prädisponieren.
Und obwohl es sich von selbst versteht: Auch das ist keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung der Taten, auch nichts in der Art. Der vulgäre Kategorienfehler, Erklärungsversuche als Entschuldigung zu beschimpfen, ist eigentlich nur ein rhetorischer Trick der Scharfmacher. Geschieht etwas Schlimmes, ist eine ursächliche Erklärung allemal hilfreicher als moralisches Geseier. Ansonsten hat sich das Strafrecht mit den Tätern, soweit sie noch leben, zu befassen. Das ist die Reaktion eines Rechtsstaats auf Verbrechen. Oder wünschen viele sich gar keinen Rechtsstaat, sondern würden lieber von den Fesseln des Rechts befreit draufschlagen, wo angeblich das Übel wächst? Das Übel, das ja gerade darin besteht, von den Fesseln des Rechts befreit draufzuschlagen.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
2 Kommentare:
part one
Viele dieser Studien stammen aus einer Zeit vor dem "postmodern turn" der z.B. Soziologie. Die vielen Studien wurden in unseren meisten Medien nach etwa 1990 nicht widerlegt, sondern außerhalb der Uni gerne im Nebensatz lächerlich gemacht.
Ein Standardwerk für mich war "the anatomy of human destructiveness" von Erich Fromm (1973), einem Autor, der wegen seiner Millionenauflagen besonders beliebtes Ziel hämischer, recht argumentarmer Hassattacken auch z.B. von titanic, Zuendfunk im konservativen BR usw. wurde. Er war einer der letzten Wissenschaftler, die in progressiven Zeiten 1965-85 viele Millionen LeserInnen erreichten.
Fromm versuchte gegen die Aggressionstheorie von Konrad Lorenz,wie gegen die gegenteilige Haltung der Behavioristen um den damals berühmten Skinner, der auf Watson aufbaute, zu argumentieren. Er deutete auch die berühmten Milgram-Experimente ("gehorsam auf Befehl sadistisch sein") neu.
Als marxistischer Sozialpsychologe argumentierte Fromm auch gegen Freud, auf dessen Werk er aufbaute. Das Buch ist, anders als die übliche bizarr-plumpe Häme von Coolen und Postmodernen um 1990-2000 vermuten läßt, komplex. Fromm ist sich grauenhafter Destruktion selbstverständlich bewußt. Wie auch nicht nach den Nazis, er mußte ja wie so viele vor ihnen in die USA fliehen.
Eine Schwäche der Fromm-Studie aus heutiger Sicht ist vielleicht, daß sie sich auch auf Margaret Mead stützte. In der "Freeman-Mead"-Debatte warf Freeman ihr, Jahrzehnte später, als er emeritiert war, vor, die Ethnologin hätte ihre These, daß Sozialverhalten, also auch Aggression, kulturell formbar wäre, aus Wunschdenken aufgebaut. Heute wird beiden vorgeworfen, ideologisch vereinseitigt gewesen zu sein. Fromm versuchte u.a. mit Mead zu zeigen, daß es Völker gäbe, die ohne unsere entfremdende Gesellschaft ohne destruktive Gewalt leben könnten.
Ich werd das Buch nun wiederlesen, es scheint mir trotz sicher einiger Fehler lesenswert.
Fromms Werk enthält viele Ideen zu Gewaltbereitschaft und wie man eine nicht entfremdete Gesellschaft möglicherweise doch noch zu erreichen sein könnte.
Seine Bücher wurden z.B. 1970-85 enorm oft zur Grundlage von Diskussionen genommen, überall. Allein das macht es lesenswert. Diskussionen dieser Art finden seit mindestens 15 Jahren nicht statt, wie man an jeder "talk"show, alle im Wochenhype jeweils über ein Thema, jederzeit nachprüfen kann. Alles ist vorgestanzt, und das wirkt, unreflektiert. Wir sind die Guten. Wir sind die "kosmopolitische Generation", die "das Böse", mit dem wir "im Weltkrieg" sind. Der monströse, abscheuliche Terror wie in Paris wird von solchen Leuten wie in der Bild-Zeitung oder von Berthold Kohler, aber auch von Zeitungen wie "Libération" leider instrumentalisiert, indem man sich einfach als "das Gute" setzt, und die Anderen als "das Böse". Was die Terroristen und Mörder unbestreitbar sind. Nur fallen sie nicht vom Himmel... Und nur bomben wir seit 14 Jahren, und zählen die Toten nicht mal, das alles interessiert unsere "kosmopolitische" Welt kaum oder eher nicht. Uns interessieren nur Morde in Europa und USA. Das aber erfaßt die Gewalt, die wir selbst durch war on terror verbreiten, nie...
Part two
Man vergißt, daß die elenden Terroristen ja selbst denken, sie wären "gut", trotz ihrer bestialischen Morde. Und daß die eigene kulturwissenschaftliche Sicht auf uns selbst - ach wie sind wir die tolle "generation (jeweils was einsetzen)", dieses Kommunikations-DesignerInnen-Gerede - ach sind wir so lieb und edel und kosmopolitisch und vielfältig - so gar nicht mit dem "Weltkrieg ist!"-Geschrei, das andere Massaker, auch von unseren Armeen oder von uns unterstützten Gruppen begangen, gar nicht wahrnimmt, zusammenpassen will...
Es gab auch Theorien, die untersuchen, wie der Konsum von gewaltverherrlichenden Spielen die Hemmschwelle für eigene Gewalt senken. Zum Einfluß von Gewaltexzessen in Spielen hörte ich vor rund 15 Jahren im Radio einen postmodernen Wissenschaftler; es gab kaum andere in den Kultursendungen. Sein Name ist mir entfallen. Er ging höhnisch gegen zwei SchauspielerInnen an. Claudia Amm und ihr Mann Günter Lamprecht waren 1999 von einem 16jährigen angeschossen und schwer verletzt worden. In der Radiodiskussion kritisierten beide danach Videospiele, möglicherweise war das dem Mann nicht wissenschaftlich genug. Der Forscher kritisierte beide sogleich als naiv im üblichem Näselton. Es war keine Diskussion, es war Selbstdarstellung und Geraune. Aus Millionen solcher Fehler kommt, daß zuwenig gedacht und zuviel "inszeniert" wird. Das ist keine freie, kosmopolitische Gesellschaft, das ist das Gegenteil. Danach ging es um "Vielfalt". Irgendwann schaltete ich aus, es war widerlich, man lernte nichts.
"Durch big brother und Killerspiele geht die Welt nicht unter, wie die 80er meinen" wurde Tenor in diversen Kultursendungen. Nachgefragt wird später nie. Dabei sind es ja offene Fragen...Die Sozialwissenschaften, auch mit AutorInnen, die viel gelesen wurden, waren immer eine Minderheit im gesamten Medienrauschen. Daß man sich selbst überflüssig machte, indem man ernsthafte Diskussionen im cool-Stil abwürgte, vereinseitigte die Welt aber noch mehr, und macht es schlechten Medien wie KriegstreiberInnen noch einfacher, sich selbst als edel darzustellen, wie es etwa Joachim Gauck oder Sarkozy tun. Das ist gut-böse-Schema, und es ist falsch.
Das Massaker von Odessa mit grauenhaften Morden (waren es 46 Ermordete? Oder über hundert, die verbrannt wurden oder aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, wo der faschistische Mob in der Ukraine sie dann umbrachte?) wurde bei uns so nebenbei, und ohne auf die TäterInnen zu verweisen, berichtet. Da war den Medien kein "Weltkrieg". Nach den Morden in Odessa. So kommt es auch dazu, daß Medien ohne das Grauen von Paris niemals von den IS-Morden in Beirut berichtet hätten. Oder wenn wir selbst, der edle Westen, Krankenhäuser von Ärzte ohne Grenzen bombardieren. Das sind dann kaum berichtete "Kollateralschäden". Da redet keine Libération von irgendeiner "generation", oder Kohler und Bild vom Weltkrieg. Zum Verbrechen gegen das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan: http://www.nachdenkseiten.de/?p=28785#more-28785
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