Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Sonntag, 16. März 2008

Kausalität 1

Da immer wieder von Verantwortung die Rede sein muss, werden wir uns über den Begriff der Folge klar werden müssen oder, anders gesagt, über Kausalität.

Irgendwelche Kämpfer im Irak verstecken sich in einem Haus, in den Nachbarhäusern wohnen Zivilisten. Die amerikanischen Truppen greifen an und sprengen beide in die Luft. Ursachen sind ohne die Umstände, unter denen sie die Folge nach sich ziehen, unvollständig charakterisiert. Wenn wir uns bei diesem Problem nicht weiter aufhalten und von einzelnen Ursachen reden und Ketten von Ursachen, wird es kaum einfacher. Zwei Analysen des obigen in Form von Kausalketten:

1) Kämpfer verstecken sich => Angriff der US Army => Tod der Zivilisten
2) Angriff der US Army => Tod der Zivilisten

Beide, Iraker und Amerikaner, nehmen wir an, hätten auch anders gekonnt. Demnach wären sie für die Folgen ihrer Handlungen verantwortlich. In der ersten Analyse sieht es jedoch so aus, als hätte die US Army eben doch nicht anders gekonnt.

Eine beliebte Figur in dem Spiel, dessen Ziel darin besteht, den anderen die Verantwortung für alles Schlimme zuzuschustern ("Milosevic ist verantwortlich für alles, was geschieht.") ist die Verlängerung der Kausalketten. Der andere hat angefangen und ist insbesondere auch für die Folgen meiner Taten verantwortlich, die ja eine Reaktion auf die seinen sind. Man beliebt, die Reaktion als unvermeidlich, gewissermaßen mechanisch zu beschreiben, gegeben die eigenen guten Absichten.

Die Guten müssen in dieser Situation schießen, um das Gute zu bewirken, auch wenn es unvermeidlich zu "Kollateralschäden" kommt. Den Bösen werden keine Gründe zugestanden, d. h. man setzt sie als böse. Im obigen Beispiel lassen sich auch viel längere Kausalketten angeben, bis zur Invasion durch die USA, oder bis zu den Verbrechen Saddam Husseins, oder bis zur Aufrüstung des Irak als Bollwerk gegen den Iran durch die USA und andere Staaten, darunter Deutschland.

Die Verlängerung der Kausalkette über ein Verbrechen der Gegenseite hinaus zu verweigern heißt mit zweierlei Maß messen. Es ist nämlich prinzipiell kein Ende mit solcherlei Ketten, und auch wenn jeder nur eine endliche Beschreibung geben kann, so hat doch niemand einen Grund, ausgerechnet bei dieser Beschreibung stehenzubleiben. Deswegen gebraucht die Ungerechtigkeit ein "moralisches Argument": Wer die teuflischen Verbrechen der anderen als Folgen ansehe, entschuldige diese, und das sei böse.

Nun ist eine Erklärung zwar keine Entschuldigung, doch ist es mit diesem Hinweis nicht getan. Niemand kann leugnen, dass eine Erklärung ein entschuldigendes Moment hat, wenigstens in der Form des mildernden Umstands, und so bleibt der Vorwurf der Entschuldigung an jedem hängen, der Geschehnisse, die als sehr böse beurteilt werden, erklärt.

Um das "moralische Argument" auszuhebeln muss man den Mut besitzen, sich zur dieser Art von Entschuldigung auch noch des niederträchtigsten Verbrechens zu bekennen. Ja, auch die übelsten Verbrechen geschehen unter Bedingungen, die die Verbrecher nicht geschaffen haben. Ja, von vielen Verbrechen, die wir verdammen, sollten wir uns vorstellen können, sie selbst begehen zu können, gegeben solche Umstände. Nein, 9/11
ist kein absoluter Anfang. Verbrechen werden übrigens nicht weniger gemein, wenn man sich in den Täter versetzen kann, gemein sind sie nämlich aus der Perspektive der Opfer. In Wahrheit ist das "moralische Argument" nur die Forderung, an einem bestimmt Punkt die Vernunft zum Stehen zu bringen.

Wer in Notwehr gegen einen, der ihn bedroht, hundert erschießt, hat zwar in Notwehr gehandelt, aber doch hundert erschossen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oft basieren Medienberichte lediglich auf Pressemitteilungen, die 1:1 übernommen werden, und nicht auf gründlicher Recherche.

"Medien ermöglichen uns Einblicke in Entferntes und strukturieren gleichzeitig unsere Sicht auf diese Dinge".

Auch Journalisten wenden häufig zweierlei Maß an. Wie "konstruierte Wahrheiten und Zerrbilder", die bei der Darstellung des Islams in den Medien verwendet werden, unsere Sicht auf die Dinge beeinflussen, zeigen zahlreiche lesenswerte Artikel und Analysen der Erlanger Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer.