Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 11. August 2008

Georgien hat angefangen

Ein Nachtrag (14. August) vorweg: Einerseits spielt es für die Einschätzung eines Krieges eine Rolle, wer angefangen hat. Andererseits muss eine Seite nur lange genug schießen, um sich so ins Unrecht zu setzen, dass es eben doch keine Rolle mehr spielt, wer angefangen hat. Was unten abgehandelt wird, ist eine Einseitigkeit der westlichen Medien in der Anwendung des ersten Satzes.
Es geht nicht um eine Rechtfertigung Russlands (die im Licht des zweiten Satzes vielleicht schlecht möglich ist) sondern um eine unreflektierte Haltung, die apriori schon den Bösen und den Guten kennt.


Im Kosovo und anderswo sollte der faktische Friede respektiert werden, wie auch immer der völkerrechtliche Status sein mag. Serbien würde, wenn es sich den Kosovo militärisch wieder einverleiben wollte, mit Recht zum "Bösewicht" erklärt. Das sollte billigerweise nun von Georgien gelten, denn Georgien hat den unfreundlichen Frieden durch einen blutigen Militärschlag gebrochen. Und ähnlich wie die NATO als Schutzmacht für ein überfallenes Kosovo auftreten würden, betätigt sich Russland als Schutzmacht für Süd-Ossetien. Georgiens Präsident wollte von Anfang an die "territoriale Integrität Georgiens" wiederherstellen, d.h. Krieg führen. Die NATO hat Georgien mit dem Aufrüsten geholfen, Saakashvili hat der westlichen Presse in gutem Englisch demokratische Brocken hingeworfen, im übrigen aber nicht sehr demokratisch regiert. Dass diesen Krieg tatsächlich Georgien angefangen hat, bestätigen laut FAZ (13. August) inzwischen auch Quellen der NATO. Dieselbe FAZ schreibt allerdings seitenlang vom russischen Aggressor. In der vermutlich leider repräsentativen Presseschau der FAZ wird unter anderem Jyllands Posten zitiert, die die Aktion der russischen Armee gar mit Deutschlands Annektion der Tschechoslowakei im Namen der Hilfe für die Sudetendeutschen vergleicht. Die Grundlage für diesen Vergleich ist sehr sehr dünn, er ignoriert den Separationskrieg und dessen Gründe in den Neunzigern und, nun ja, die Tatsache, dass nun einmal Georgien angefangen hat. Der georgische Präsident ist mit seinem "Georgien den Georgiern" und anderen nationalistischen oder sogar rassistischen Äußerungen, die den Barbarentopos ausbeuten, um über die Russen zu sprechen, ein sehr viel besserer Kandidat im beliebten Spiel "Wer-ist-der-Hitler", ein dummes Spiel übrigens.

Eine mit Sanktionsdrohung versehene Aufforderung an Georgien, sich wieder zurückzuziehen, hat es nicht gegeben. Stattdessen allenfalls eine symmetrische Aufforderung "an beide Seiten", mit den Kampfhandlungen aufzuhören oder gar die einseitige Aufforderung an Russland. Und auch diese Aufforderung hätte ihr Gutes, käme sie nicht von selbst Krieg führenden Bellizisten.


Es ist merkwürdig, dass die Muster des kalten Krieges weiter die Wahrnehmung strukturieren. In der FAZ schrieb Georg Paul Hefty etwas von der "russischen Psyche", die die Anreiner Russlands aus leidvollen Erfahrungen kennen. Also nochmal: Georgien hat einen Krieg angefangen, den es gerade verliert. Beim georgischen Überfall kamen unter anderem russische Soldaten (unter UN-Mandat) und zahkreiche Zivilisten ums Leben. In vielen Redaktionen wurde aber schon lange beschlossen, wer in diesem Konflikt die Guten sind. Das Muster ist etwa: Russland betreibt immer nur Machtpolitik, die USA und ihre Freunde immer nur Menschenrechtspolitik, Georgien aber ist ein Freund der USA.

Nun haben aber die USA in den letzten Jahren eine weit aggressivere und blutigere Politik betrieben als Russland, ohne dass Hefty deshalb über die amerikanische Psyche zu sinnieren anfinge. Es ist überhaupt so eine Sache mit der Psyche von Völkern oder Staaten. Der Barbarentopos wurde von den Nationalisten und Rassisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gerne auch auf die Slaven angewandt. Der Russe: versteht nur die Gewalt, roh, mitleidslos, "asiatisch". Es braucht nur einen Interessenkonflikt, um die Schablonen auszupacken. Unsere Zeit ist keineswegs für Rassismus sensibilisiert, sondern nur für bestimmten Rassismus. Hefty und die vielen anderen würden sich dagegen verwehren, wenn sie über den Russen schwadronieren, etwa im Kern Rassisten zu sein. Im Falle Russlands haben solche Etikettierungen eine alte und üble Tradition. (Dennoch sei erinnert daran, dass Frankreich Russland überfallen hat und Deutschland Russland überfallen hat, nicht umgekehrt. Andererseits hat Russland zusammen mit Deutschland und Österreich die Polen in den Sack gesteckt und damit dieselbe niederträchtige Machtpolitik betrieben, dieselbe!, nicht etwas eine besonders finstere russische Abart. Trotzdem schwadronieren die Heftys "Russland hat schon immer", ganz geschichtsvergessen und dafür verblüffend selbstbewusst. ) Man braucht natürlich nicht einen wie im Falle Russlands lang geübten Rassismus, es geht unter Umständen auch sehr schnell. Ein paar Jahre einseitige (unter anderem von Werbeagenturen eingefädelte, s. Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan ) Propaganda über das explodierende Jugoslawien, schon ist der Reflex trainiert, dass immer die Serben die Bösen sein müssen. Zögerlich nur tröpfelt das Ausmaß des Nationalismus und der Verbrechen auch der anderen Gruppen ins Bewusstsein.




Das alles ist so einseitig, dass es ein unsichtbares Propagandaministerium nicht besser machen könnte, s. auch diesen amerikanischen
Blog-Artikel.


Es gibt offenbar keine Maßstäbe, und deshalb zählt allein die Macht, ungestraft tun zu können, was man tut. Einseitige Verwendung moralischer Kategorien macht diese stumpf. Wer sollte sich schon von George Bush zum Frieden ermahnen lassen? Anders sähe die Welt aus, wenn nicht nur Karadzic, sondern auch Bush in den Haag säße, wenn Saakashvili angeklagt würde und man dennoch die Russen auffordert, doch gefälligst mit dem Schießen aufzuhören. In der etwas älteren Geschichte sehen alle mit Leichtigkeit durch die dünne Firnis der Rechtfertigung auf die interessegeleiteten Politik, in der Gegenwart dagegen lässt man immer wieder die Kriege der eigenen Seite als gerecht durchgehen. Aus Bosnien hätten wir gelernt, wie wir immer wieder lesen, dass Kriegführen human ist, und von Kriegseinsätzen abraten inhuman. Zu welchem Ende betreiben wir Geschichte?

"Wir brauchen eine allgemeine Abrüstung." Das wäre mal ein schöner Satz. Stattdessen haben "wir" Georgen aufgerüstet und kannten die dortigen Konflikte. So dass die etlichen tausend Opfer des georgischen Überfalls vielleicht ja auch in den Genuss unserer hervorragenden Technik kamen. Pfui also nicht nur über Saakashvili und unsere Presse, Pfui auch über die Waffenhändler und uns alle.

Den Splitter im Auge der anderen sieht die deutsche Presse immerhin. Michael Ludwig analysiert die Berichterstattung über diesen Krieg in den russischen Medien, in denen Georgien nur Aggressor und Russland nur humanität "zur Rettung der süd-ossetischen Brüder" agiert, von anderen Motiven sei nicht die Rede. Ansonsten beschuldigen die meisten Medien wohl die USA, da diese die georgische Armee trainiert und ausgerüstet haben. Und damit wären die russischen Medien gerade so teilweise gerecht, teilweise ungerecht, und überaus einseitig wie die westlichen. Das Russland nur edle Motive habe, klingt fishy, aber die Darstellung z. B. in der FAZ, in der es nur unedle hat, nun ja: kalter Krieg.

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Super, dass du das alles aufführst und beim Namen nennst! Der Wahrheit wegen, so steht es wenigstens iregendwo geschrieben. Vielen Dank! Werde deinen Blog weiterempfehlen!

Anonym hat gesagt…

Zwei Lichtblicke aus den Mainstreammedien: Die Propaganda ist nocht nicht, wenn auch fast, total:


* Hermann Krause vom ARD-Hörfunkstudio Moskau kommentiert auf tagesschau.de unter dem Titel »Belohnung für einen Eroberungskrieg?« den Georgien-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel:

(...) Kriege zwischen Georgien und Osseten hat es immer wieder gegeben: Der jüngste Konflikt paßt in eine lange Reihe von Auseinandersetzungen. Dennoch wäre es ratsam, sich mit den Ursachen dieses Krieges zu beschäftigen. Die Augen davor zu verschließen, wer wen überfiel, ist falsch. Leider weigert sich auch die Bundeskanzlerin nachzuforschen, von wem die Aggression ausging: trotz aller Provokationen der russischen Seite – letztendlich von Georgien. Dies ist mittlerweile erhärtet, Beweise gibt es ausreichend.

Über sechs Jahre lang haben die USA Georgien aufgerüstet und mit jenen Waffen versorgt, die eingesetzt wurden, um gegen das wehrlose Ossetien zuzuschlagen. Georgien führte einen Eroberungskrieg, allein aus ethnischen Gründen. Moskau spricht von einem Genozid, dies mag übertrieben sein. Aber es kann doch nicht angehen, daß die Bundeskanzlerin so tut, als wäre nichts geschehen – und weiterhin Georgien die Aufnahme in die NATO zusichert.

Überfallen NATO-Mitglieder mit brutalster Waffengewalt ihre Nachbarn, nur, weil diese nach Unabhängigkeit streben? Und welches Georgien will die Kanzlerin in die NATO aufnehmen? Das Kern-Georgien, bestehend aus Tiflis und Umgebung? Auch von der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice wurde gebetsmühlenartig die »territoriale Integrität« Georgiens beschwört. Wie aber soll diese hergestellt werden? Will man die Abchasen oder Südosseten zwingen, unter georgischer Herrschaft zu leben? Vielleicht mit Waffengewalt, wie es jetzt Saakaschwili versuchte?

Seine Bekundungen, er sei ein Demokrat, sind mehr als absurd. Genauso wie in Rußland wurden die Wähler bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Druck gesetzt, genauso wurde am Ergebnis manipuliert. Die Wahlbeobachter der OSZE haben dies bekundet, im übrigen die Deutschen deutlicher als die Amerikaner. Vergessen anscheinend, daß Saakaschwili im Dezember des letzten Jahres brutal die Opposition hat niederschlagen lassen, daß die Presse zum Teil unterdrückt wird. Seit Beginn seiner Amtszeit hat Saakaschwili nicht den Dialog mit Abchasen oder Osseten gesucht, sondern die Konfrontation. Daß er dafür vom Westen nun belohnt wird, ist mehr als unverständlich. (...)



* Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder erklärt im Interview im aktuellen Spiegel zum Kaukasus-Krieg:

(...) Schröder: Stellen Sie sich vor, wir wären heute zu einem militärischen Eingreifen an der Seite eines NATO-Landes Georgien gezwungen, an der Seite eines offenkundigen Hasardeurs, als den man Saakaschwili ja wohl bezeichnen muß. Georgien und die Ukraine müssen erst ihre innenpolitischen Probleme lösen – und davon sind sie weit entfernt. Ich sehe die Chancen auf einen georgischen Beitritt durch die jüngsten Ereignisse im Kaukasus in noch weitere Ferne gerückt und habe in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten, den doch recht vollmundigen Versprechungen des NATO-Generalsekretärs vor einigen Tagen zu folgen.

Spiegel: »Heute sind wir alle Georgier«, hat dann der republikanische Präsidentschaftsbewerber McCain gefordert.

Schröder: Ich bin es nicht. (...)

Anonym hat gesagt…

Erklärung des Georgischen Friedenskomitees zum Krieg im Kaukasus

Erneut wurde Georgien in ein blutiges Chaos gestürzt und ist Schauplatz eines Bruderkrieges!

Zu unserem großen Bedauern wurden Warnungen des Georgischen Friedenskomitees und fortschrittlicher Menschen in Georgien vor der unheilvollen Militarisierung des Landes und vor den Gefahren einer nationalistischen und faschistoiden Politik nicht gehört.

Die Regierenden in Georgien haben erneut, unterstützt von einigen westlichen Ländern sowie von internationalen und regionalen Organisationen, einen blutigen Krieg vorbereitet und begonnen. Die Schande, die die gegenwärtigen Machthaber mit diesem Krieg über die Menschen in Georgien gebracht haben, wird nur durch jahrzehntelange Bemühungen wieder gutzumachen sein.

Die georgische Armee, die von den USA ausgerüstet und trainiert wird, richtete in Zchinwali grausame Zerstörungen an. Opfer der Bombenangriffe wurden friedliche Bewohner Süd-Ossetiens - unsere Brüder und Schwestern. Die Opfer waren Kinder, Frauen und ältere Menschen. Mehr als 2000 Menschen starben in Zchinwali und Umgebung. Unter den Opfern waren auch hunderte Georgier, die in der Kampfzone und überall in Georgien starben. Das Georgische Friedenskomitee drückt allen Verwandten und Freunden der Opfer sein tief empfundenes Mitgefühl aus.

Die alleinige Verantwortung für diesen Bruderkrieg und für den Tod so vieler unschuldiger Opfer, Einwohner Südossetiens und Georgiens, trägt der derzeitige Präsident, das Parlament und die georgische Regierung. Die Verantwortungslosigkeit und das Abenteurertum der Regierung Saakaschwili kennt keine Grenzen. Das Verhalten des georgischen Präsidenten und seiner Regierung ist ohne Zweifel kriminell. Der Präsident und die georgische Regierung und müssen dafür zur Verantwortung gezogen werden.

Das georgische Friedenskomitee wird gemeinsam mit fortschrittlichen Parteien und sozialen Bewegungen in Georgien dafür eintreten, dass die Organisatoren dieses verbrecherischen Krieges bestraft werden. Das Georgische Friedenskomitee erklärt, dass die gegenwärtige Regierung mit ihren Handlungen nicht das Einverständnis der Menschen in Georgien hat und es bittet darum, die Menschen in Georgien und die georgische Nation nicht mit der Regierung gleichzusetzen. Es ruft dazu auf, die Menschen in Georgien bei ihrem Kampf gegen das kriminelle Saakischwili Regime zu unterstützen.

Es appelliert an die politischen Kräfte und an die sozialen Bewegungen in Georgien dafür einzutreten, dass das gegen die Menschen gerichtete, russlandfeindliche und nationalistische Regime von Saakaschwili beendet wird!



Georgisches Friedenskomitee Tiflis, 11. August 2008

Anonym hat gesagt…

26. August 2008, FAZ Bundeskanzlerin Merkel hat während ihres Besuches in Estland die Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens durch die russische Duma und dann durch den Präsidenten als völkerrechtswidrig kritisiert. Eine politische Lösung werde dadurch sehr erschwert.
Der Akt widerspreche den Prinzipien der territorialen Integrität und sei „absolut nicht akzeptabel“

Anonym hat gesagt…

26. August 2008 Führende Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien haben sich am Dienstag empört darüber gegeben, dass Russland die abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien als unabhängig anerkannt hat. Unmittelbar nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Verhalten Moskaus als „nicht akzeptabel“ bezeichnet hatte, sprach auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) von einem Bruch des Völkerrechts. In der CDU wird eine grundsätzlich kühlere deutsche Russland-Politik gefordert; in der SPD werden ebenfalls „Konsequenzen“ für Russland verlangt. Auch FDP und Grüne nannten die russische Entscheidung falsch.
Der Koordinator der Bundesregierung für deutsch-russische Beziehungen, Schockenhoff (CDU), warf Russland „völkerrechtswidriges Verhalten“ vor. „Das bedeutet international einen ernsthaften Verlust an Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit Russlands“, sagte Schockenhoff.
Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Gysi, sagte dagegen: „Alles, was jetzt geschieht, ist die Folge der Verletzung des Waffenstillstandsabkommens durch den kriegerischen Überfall Georgiens auf Südossetien.“ Die Anerkennung durch Russland sei „ebenso“ eine Völkerrechtsverletzung wie die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovos durch Amerika und weitere Staaten.