"Mitglieder der berüchtigten Mahdi-Miliz..." stand vor einigen Tagen im Berliner Tagesspiegel. Es wurde nicht gesagt, wofür sie denn berüchtigt ist. Deutlich wurde aber, wem sie als berüchtigt gilt.
Versuchsweise angefertigte ähnliche Bildungen:
Mitglieder der berüchtigten Regierungstruppen
Mitglieder der berüchtigten amerikanischen Streitkräfte
Artikel berüchtigter Journalisten
Anschließend kann man - ebenfalls versuchsweise - in allen Fällen "berüchtigt" durch "berühmt" ersetzen. Und gewiss ist die Mahdi-Miliz bei manchen berühmt für ihre Erfolge. Man erfährt durch diese Vokabeln etwas über das Verhältnis der Schreibenden zu ihrem Gegenstand, wenig oder nichts über diesen. "Berüchtigt" sind Feinde, berühmt "Freunde".
Solchen groben stilistischen Unsitten können Journalisten natürlich aus dem Weg gehen, begegnen dem Problem aber sogleich wieder. Wie nennen wir denn die Angehörigen der Mahdi-Miliz? Kämpfer? Widerstandskämpfer? Islamisten? Terroristen? Schiiten? Die Bezeichnungen sind eben nicht in erster Linie informativ, sondern wertend, und irgendwie muss man sie ja nennen. Es ist leider auch keine Lösung, alle möglichen Bezeichnungen hintereinander zu reihen. Und welche Ereignisse werden berichtet? Die, die wir kennen, vielleicht eine einseitige Auswahl, die manche der Akteure in ein schlechteres Licht stellt als andere. Journalisten haben oft kaum eine Wahl, als sich einer bereits etablierten Weise der Berichterstattung anzuschließen. Weder sie noch die Redaktionen riskieren damit viel. Wenn sie irren, waren es wenigstens die Irrtümer vieler. Wer an einer etablierten Beurteilung zweifelt, ist ja noch längst nicht imstande, eine andere Beurteilung gut zu begründen.
Das Problem ist, obwohl ich es an einem Wort festgemacht habe, gerade kein Sprach-, sondern ein Wahrnehmungsproblem. Nach allem, was wir so mitkriegen, hätten die meisten "berüchtigt" auch selbst ergänzen können, wenn da nur "die Mahdi-Armee" gestanden hätte. Deswegen konnte sich der Autor auch sparen, dieses Beiwort zu erklären.
Joris Luyendijk hat in seinem Buch "Wie im echten Leben" (original: "Het zijn net mensen") viele Mechanismen beschrieben, die selbst einen Journalisten, der guten Willens ist, dazu bringen, letztlich nur etablierte Bilder und Wertungen zu reproduzieren und eben nicht, wie er sich's vorher erträumt haben mag, den Dingen auf den Grund zu gehen. Eine Redaktion erfährt durch eine Nachrichtenagentur von einem Ereignis und schickt einen Reporter dorthin, der dann vorbereitete Informationspakete zu diesem Ereignis bekommt. Vielleicht spricht er sogar die Landessprache und kann noch andere Leute, die nicht direkt mit der Verbreitung besagter Information befasst sind, befragen, ohne doch jemals zu "repräsentativem" Material zu kommen.
Was nicht von den Agenturen gemeldet wird, schafft es nicht zur Nachricht. Die Aktionen der amerikanischen Armee im Irak sind großenteils geheim, die Kollateralschäden, für die diese Armee "berüchtigt" sein könnte, werden selten Gegenstand einer Nachricht. Anders die Kämpfe seitens
der Mahdi-Miliz, die folglich für "uns" tatsächlich berüchtigt ist.
In vielen Situationen wird, wie Luyendijk schildert, der Journalist unfreiwillig zur Sprechpuppe. Er sitzt "vor Ort" im Hotel, wartet und darf bei den Nachrichten diese oft merkwürdig inhaltsleeren Zeilen in die Kamera aufsagen. Ein Beispiel aus dem Buch: Das Fernsehen fragt seinen Mann in Amman, was man dort Neues über den amerikanischen Angriff auf den Irak hört. Nun, nichts anderes als irgendwo sonst, wo man Zugang zu den großen Medien hat, der Irak ist ja weit genug weg. Also spricht der Mann über die Stimmung in Amman, für's arabische Lokalkolorit reicht das. Andere Journalisten haben ein Visum für den Irak bekommen und sitzten in Baghdad im Hotel. Dort bekommen sie immerhin mit, wie die Bomben explodieren, wir erinnern uns.
Der Journalist weiß über die großen Nachrichten oft so wenig wie die, für die er schreibt.
Andererseits könnte er vieles erzählen, was die Leser nicht wissen, er könnte das normale Leben der Leute beschreiben. Das Alltägliche ist natürlich keine Nachricht wert, wohl aber brennende Fahnen, Selbstmordattentate, Raketenangriffe. Wer das eine Weile verfolgt, denkt sich, wenn er über den Orient liest, den "berüchigten Orient", das lässt sich gar nicht verhindern. Bei uns spielen Kinder, reden Leute bald Sinnvolles, bald Schwachsinn in den Cafes, regen sich über die Zeitungen auf und backen Kuchen. Im Orient dagegen wird geschossen.
Man kann die durch die Nachrichten verzerrt wiedergegebene Wirklichkeit nicht einfach "entzerren". Es ist daher ratsam, davon auszugehen, dass man nicht viel versteht von der Welt. Solange man sich für diese interessiert, solange aus dem allgemeinen Nichtwissen Gründe für Kriege geschmiedet werden, muss man sich aber immer wieder fragen, was denn richtig ist, und muss immer wieder über die "berüchtigte Mahdi-Miliz" stolpern. Damit ist allerdings wenig getan: kein Grund, sich etwas aufs kritische Lesen einzubilden, wenn man nicht auf jeden Mist reinfällt. Es bleibt genug Mist, den man unbemerkt verinnerlicht.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
1 Kommentar:
Im tagesspiegel wurde am 6.4.08 O. Scholz von der SPD gefragt: "Profitieren jetzt andere Parteien davon, dass die SPD die Reform der Sozialsysteme auf sich genommen hat?"
Und er wurde darauf hingewisen: "Mit der Agenda 2010 hat sich die SPD von den alten Vorstellungen der Verteiungsgerechtigkeit verabschiedet." Wieso ist Verteilungsgerechtigkeit eine "alte" Vorstellung? Alt ist sie ja, hatte sie nicht schon Aristoteles? Aber warum ist sie veraltet? Denn so ist die Aussage ja gemeint. Und warum ist die Agenda 2010 eine "Reform"? Das klingt so modern. Auch diese verzerrte Perspektive scheint inzwischen sehr eingeschliffen zu sein. Aber handelt es hier auch um ein wahrnehmungsproblem? Mag sein, aber wie kommt es zustande? Steht dahinter nicht ganz banal ein Machtproblem, ein herrschaftsverhältnis, durch das die begriffe so besetzt werden? Jeder einzelne Joournalist macht das natürlich freiwillig. Aber warum denkt er so? Weil er es für richtig hält. Warum hält er es für richtig? Vielleicht, weil der Wind aus dier Richtung weht.
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