Die Perspektive, aus der etwas beschrieben oder erzählt wird, ist bereits Partei. Man kann nicht ohne Perspektive erzählen, also müsste man aus vielen Perspektiven erzählen, um unparteiisch zu sein, das aber taugt kaum für die Zeitung. Dieses Problem zeigt sich für den Journalisten und dessen Leser schon bei der Wortwahl. Der im letzten Post zitierte Joris Leuyendijk ("Wie im echten Leben", Berlin 2007) hat über seine Zeit als Nahostkorrespondent geschrieben:
Das Heilige Land war eine neue Welt, und ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein und immer unparteiisch zu bleiben [...] -Aber ging das überhaupt, unparteiisch sein? Anfangs war ich blauäugig, denn wie hieß es so schön beim amerikanischen Nachrichtensender Fox News "We report, you decide"? [...] War das nicht der erste Grundsatz des Qualitätsjournalismus: die Fakten wiedergeben, so wie sie sind, Meinungen und Gegenmeinungen einholen? So war eine objektive Darstellung von Konflikten möglich. Dachte ich.
Doch schon bald beschlichen mich Zweifel, die in den darauffolgenden Jahren noch größer werden sollten. Das fing schon bei der Wortwahl an. In der arabischen Welt [Anm.: in der Leuyendijk schon einige Jahre als Korrespondent tätig war] hatte ich es bereits mit einer parteiischen Sprache zu tun bekommen. Muslime, die ihre politischen Überzeugungen mit ihrem Glauben begründeten, gelten als "Fundamentalisten", ein US-amerikanischer Präsident, der mit seiner Religion genauso umgeht, heißt in den westlichen Medien "evangelikal" oder "tief gläubig". Wenn dieser Amerikaner die Wahlen gewinnt, redet keiner davon, dass das Christentum "sich ausbreitet", aber wenn Muslime, die ihre politischen Ansichten aus dem Koran ableiten, sich durchsetzen, schreibt im Westen gleich jeder, der Islam sei "auf dem Vormarsch". Gerät ein arabischer Staatschef in einen Konflikt mit einer westlichen Regierung, gilt er als "antiwestlich". Westliche Regierungen werden nie als "antiarabisch" verschrien.
In Kairo hatte ich etliche Beispiele dafür gesammelt, im Heiligen Land wurde die Liste immer länger: Anhänger der Hamas sind "antiisraelisch", jüdische Siedler nicht "antipalästinensisch". Palästinenser, die gewaltsam gegen israelische Bürger vorgehen, sind "Terroristen", Israelis, die gewaltsam gegeb Palästinenser vorgehen, "Falken" oder "Hardliner". Israelische Politiker, die eine friedliche Lösung anstreben, sind "Tauben", ihre israelischen Pendants "gemäßigt" - womit impliziert wird, dass alle Palästinenser Fanatiker seien. Mit welchen unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird, erkennt man am besten, wenn man den Spieß umdreht: "Mit seinen antiislamischen Äußerungen hat der gemäßigte Jude Schimon Peres die palästinensischen Tauben aufgeschreckt."
So war man schon parteiisch, indem man vergleichbare Dinge je nach Lager mit verschiedenen
Etiketten versah. Im Heiligen Land blieb es aber nicht bei diesem "asymmetrischen Wortgebrauch".
In arabischen Diktaturen gibt es für alles eine eindeutige Bezeichnung, was der Übersichtlichkeit zugute kommt. Aber Israel heißt auch die "zionistische Entität" und "besetztes Palästina". Waren es die "besetzten", die "umstrittenen" oder die "befreiten Gebiete", oder doch Westjordanland oder Judäa und Samaria oder die Palästinensergebiete? Lagen dort jüdische Dörfer, jüdische Siedlungen oder illegale jüdische Siedlungen? Sollte ich von Juden, Zionisten oder Israelis sprechen? Nicht alle Zionisten sind jüdisch, nicht alle Juden israelisch, und nicht alle Israelis jüdisch. Waren es Araber, Palästinenser oder Muslime? Nicht alle Araber sind palästinensische, nicht alle Palästinenser sind muslimisch, und nicht alle Muslime sind palästinensisch.
Das war im Heiligen Land - um lieber diesen Begriff zu verwenden - das erste Problem, wenn man unparteiisch war: Es gabe keine unparteiischen Wörter. Und es war natürlich nicht möglich, alle Begriffe nebeneinanderzustellen: "Heute sind in Ramallah im besetzten beziehungsweise umstrittenen beziehungsweise befreiten Westjordanland beziehungsweise in Samaria zwei Palästinenser beziehungsweise Muslime beziehungsweise arabische Neuankömmlinge beziehungsweise Terroristen bezehungsweise Freiheitskämpfer von israelischen Soldaten beziehungsweise der Israelischen Verteidigungsarmee beziehungsweise der zionistischen Besatzungstruppen getötet beziehungsweise massakriert worden..."
Wie immer, wenn man über derartiges liest, kann man gelangweilt abwinken, alles bekannt. War man sich aber wirklich der eigenen Reaktion auf diese beiden Sätze bewusst?
1. "Mit seinen antiislamischen Äußerungen hat der gemäßigte Jude Schimon Peres die palästinensischen Tauben aufgeschreckt."
2. "Mit seinen antiisraelischen Äußerungen hat der gemäßigte Palästinenser N. N. die israelischen Tauben aufgeschreckt."
An den zweiten Satz haben wir uns gewöhnt, den ersten möchte man als westlicher Leser so nicht stehen lassen, oder? Eine bekannte Parteilichkeit ist längst nicht überwunden. Was sich über lange Zeit eingeschliefen hat, kann auch nur in langer Zeit und mit vielleicht langweiligen Wiederholungen verändert werden, alas.
Für Joris Luyendijk war die Berichterstattung über Israel in gewissem Sinn komplementär zu seiner vorherigen Tätigkeit in Kairo. In den arabischen Diktaturen war einfach nicht herauszukriegen, was die Leute dachten. Die mageren Regierungsstatements bildeten die Nachrichten. In Israel, bzw. den Palästinensergebieten ließen sich dagegen viele von größeren oder kleineren Gruppen geteilte Positionen ermitteln. Ein völliger Wirrwarr war das Ergebnis, der nur dadurch nachrichtenfähig wurde, dass Redaktionen und Journalisten sich darauf beschränkten, nur über zwei Perspektiven zu berichten, die der israelischen Regierung und die der palästinensischen Autonomiebehörde. Diese Auswahl schien im Hinblick auf einen bipolar wahrgenommenen Konflikt unparteiisch, in Wahrheit gab und gibt es aber viel mehr Parteien auf beiden "Seiten". Kann man von einer vereinfachten Darstellung sprechen oder einer unkenntlichen Karikatur? Gruppen auszublenden, von denen man anschließend behaupten kann, sie hätten "den Friedensprozess sabotiert", ist Teil der Sabotage an einem denkbaren Friedensprozess. Frieden ist allemal das Ergebnis einer Vermittlung gegensätzlicher Positionen. Wer nicht an der Vermittlung Teil hat, brütet über seinen Positionen.
1 Kommentar:
Menschenrechte? Nicht für Ägypter
von werner Pirker, junge welt, 8.4.08
Dass Menschenrechte weltweit rund um die Uhr verletzt werden, ist eine unbestreitbare Tatsache. Erschwerend kommt die selektive Wahrnehmung von Menschenrechtsverstößen hinzu. So ist der Umgang der chinesischen Behörden mit tibetischen Demonstranten vom westlichen Medienkartell zum Gegenstand einer gezielten Skandalisierungsstrategie gemacht worden. Während die olympische Flamme einen Hindernislaufdurch europäische Metropolen zu absolvieren hat und jedes Störmanöver begeisterten medialen Zuspruch findet, lag die brutale Niederschlagung einer Streikbewegung durch die ägyptische Polizei einfach unter der Wahrnehmungsschwelle. (...)
Die Textilfabrik in Mahalla war von Sicherheitskräften schon vor Beginn der ersten Schicht besetzt worden. Arbeiter, die zum Streik aufrufen wollten, wurden umgehend festgesetzt. Als sich der Unmut dann in der Stadt Luft machte, setzte die Polizei Tränengas und - Augenzeugenberichten zufolge - auch scharfe Munition ein. dabei sollen vier Menschen, darunter zwei Kinder getötet worden sein. In Kairo wurden alle zentralen Plätze von der Polizei abgeriegelt. Trotz massiver Unterdrückungs- und Einschüchterungsmaßnahmen blieben Zehntausende Ägypter ihrer Arbeit und den Vorlesungen an den Universitäten fern. Auslöser der Proteste waren die horrenden Preiserhöhungen, die einen rapiden Verelendungsproress ausgelöst haben, in dessen Sog auch große Teile des Kleinbürgertums und der intellektuellen Zwischenschichten geraten sind. 40% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, die mit 1, 25 Euro proTag markiert ist.
In Tibet war die Gewalt nicht von Sicherheitsorganen ausgegangen, sondern von Demonstranten, die nach westlicher Sprachregelung auch dann noch als friedlich galten, als längst klar war, dass sie als Pogrom-Mob aufgetreten waren.(...)
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