Hinter mir stand ein junger, mit allen Attributen der Mode, auch jener Aura der Arroganz, ausgestatter Mann, hatte nur eine Dose Fisch, ich aber einen ganzen Haufen Waren. Er fragte mich, ob ich ihn vorlassen könne. Ich ließ ihn vor, obwohl mir der Laffe (wie ich fand) herzlich unsysmpathisch war, und obwohl ich bezweifelte, dass er mir ein gleiches getan hätte. Das war schön, mir von meiner Abneigung nicht zweierlei Maß einreden zu lassen: Was billig ist, sollte ich auch den Leuten zugestehen, die ich nicht leiden kann.
Zwar, wenn mir im umgekehrten Fall einer, der nur ein wenig so aussähe, diese Gefälligkeit verweigert, wird's mich wurmen und kurz reuen, selber einmal freundlich gewesen zu sein. Das aber wird mir der Zorn ganz falsch diktieren. Denn es ist eine schönere Welt, in der einer, der keine Eile hat, einen vorlässt, der ihn nur ein wenig aufhält. Und außerdem wird es ja ein anderer sein, der mich nicht vorlässt, und nur mein Zorn täte so, als wär's derselbe und Undank der Welten Lohn.
Mehr ist wohl nicht zu erwarten, als dass Menschen trotz vielerlei Abneigungen versuchen, freundlich und gerecht zu sein. Die Abneigungen selbst sind kaum zu vermeiden und schwer zu überwinden. Sie beruhen teils auf schlechter Verallgemeinerung eigener Erfahrung oder auf bloßen Gerüchten. Gegen Belehrungen sind sie meist resistent, auch weil diese so gerne versäumen, auf jene Teile der Abneigung einzugehen, die einigermaßen berechtigt sind, und sich dadurch unglaubwürdig machen. Selbst gegenteilige Erfahrungen vermögen oft wenig zu verändern an einer gut etablierten Abneigung. Man verbucht jene dann unter "Ausnahmen".
Nehmen wir die Abneigungen besser als gegeben, wenn wir über eine gerechte Welt nachdenken, in der jeder auch die rechtlich und darüber hinaus freundlich behandelt, die Gruppen angehören, die er nicht mag. Es soll mir nicht einfallen meine Feinde zu lieben, aber es wäre ein guter Einfall, einerlei Maß für Freunde und Feinde zu verwenden. Fairer Umgang aber hebt womöglich mit der Zeit die Feindschaft auf.
Manche Leute gestehen freimütig ein, dass sie Türken oder Araber nicht leiden können. Andere schreiben alle paar Wochen einen Artikel über Ausländerkriminalität, ohne dass ihnen ein explizit ausländerfeindliches Wort durch die Feder flösse. Diese Artikel suggerieren eine Sonderbehandlung der Ausländer durch die Justiz, sie unterscheiden bei den Straftaten nach denen, die sie begangen haben, sie empfehlen zweierlei Maß und damit praktizierte Feindschaft. Wenn es dazu nicht kommt, wenn gleiches Recht für alle gilt, bleibt die Abneigung ein bloßes Gefühl, dem mit der Ungleichbehandlung der Boden entzogen ist. In der europäischen Union spielt es keine Rolle mehr, ob Franzosen und Deutsche sich leiden können. Die Abneigungen sind keineswegs alle verschwunden, aber sie werden zu Folklore, wenn eben keine Armeen mehr mit ihnen mobilisiert werden. Die Geschichte kennt leider schreckliche Beispiele, wo die Abneigungen die rechtliche Gleichstellung überlebten und schließlich die Rechte wieder über den Haufen warfen, aber es liegt doch eine große Chance darin, die Abneigungen zu bloßen Gefühlen werden zu lassen.
Solange viele Ausländer, die hier schon eine Weile leben oder vor Kriegen geflohen sind, mit ihrer Abschiebung rechnen müssen, ist die Abneigung, die sie erfahren, mit einem Rechtsgefälle verbunden. Wo keine Gleichheit herrscht, lässt sich keine Erfahrung unter Gleichen machen, und daran wieder erneuert sich die Abneigung. Die Rechtsgleichheit auch denen abzuringen, die Ausländer nicht leiden können, darum geht es zunächst, nicht darum, ihnen ein anderes Gefühl einzureden.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
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