Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Mittwoch, 27. Juli 2011

Die "Achse des Guten" sieht keinen Grund zur Defensive

Der Blog "Achse des Guten" will als "liberal" verstanden werden, lässt sich aber weit besser durch eine Liste von inhaltlichen Festlegungen charakterisieren: gegen die Theorie vom anthropogenen Klimawandel und deren politische Konsequenzen, gegen den Islam, für die amerikanisch-europäischen Kriege in Afghanistan und dem Irak, etc. Damit erreicht der Blog laut Werbehinweis beinahe eine Million Leser monatlich.

Nun enthält das Manifest des norwegischen Attentäters Breivik nicht nur viele Formulierungen, die an Inhalte der "Achse des Guten" erinnern, sondern (s. auch ein früherer Beitrag ) Henryk M. Broder, einer seiner Autoren, wird sogar von Breivik zitert. Broder tat das mit einem Witzchen ab. Die "Achse des Guten" bemüht sich (wie Georg Paul Hefty in der FAZ und Eric Gujer in der NZZ), jeden Zusammenhang zwischen der Verbreitung von antimuslimischen Thesen und deren Gebrauch durch Breivik abzustreiten. Bernd Zeller etwa schreibt dort unter der Überschrift "Kein Grund zur Defensive":

Dass sich die Islamkritiker des Verdachtes erwehren, die geistigen Verursacher des Osloer Massakers zu sein, liegt nicht an mangelnder Selbstkritik. An den Unterstellungen ist aus einem offenliegenden Grunde nichts dran, denn: man betrachte die Tat. Die Tat kann nicht als extreme Konsequenz islamkritischer Texte angesehen werden, beim schlimmsten Willen nicht. Diese Deutung erfährt sie erst durch das sogenannte Manifest, genauer gesagt dadurch, dass sich viele diesen Zusammenhang wünschen und ihn durch die Verweise bestätigt sehen. Der Täter hat aber nicht einmal sein eigenes Manifest umgesetzt, geschweige denn die Aussagen oder Tendenzen oder unterschwelligen Anliegen der bösen Blogger. Wir haben einen Sprengstoffanschlag in Oslo und einen Massenmord an Jugendlichen. Den Kausalzusammenhang zu bösen soziologischen Arbeiten und schlimmen Internetforen muss man bitte darlegen, es reicht nicht, dass beides politisch inkorrekt ist. Dass man beides in der Vorstellung nebeneinander hat, ist keine Kausalität, das ist magisches Denken.

Zeller behauptet viel, argumentiert aber schlecht oder gar nicht. "An den Unterstellungen ist aus einem offenliegenden Grunde nichts dran, denn: man betrachte die Tat. Die Tat kann nicht als extreme Konsequenz..." Kann nicht, wieso denn nicht? Und wieso ist die Tat ein offenliegender Grund? (- übrigens ist das ein Sprachmurks sonder gleichen -)

Insofern die mit "Islamkritik" bezeichneten Beiträge eine Kritik wären, könnten sie wirklich auf Unschuld pochen, insofern sie aber tatsächlich auf die Abwertung einer oder mehrerer Gruppen hinauslaufen, sieht es anders aus. Und dass beispielsweise der auch in der Achse des Guten meist gegen seine Kritiker verteidigte Sarrazin in abwertender Weise über muslimische Migranten gesprochen hat (erblich dumm, die Muslime und die Armen als demographische Bedrohung, und, ja, er hat es gesagt : "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." etc.), ist eben unbestreitbar, auch wenn er die Grenze zur Straftat noch nicht überschritten haben mag. Solche Äußerungen wurden in vielen Medien zurechtgelogen zur "Aufforderung zum Dialog"; die Verweigerung der Anerkennung ist aber dessen Ende. Ähnlich steht es mit der Behauptung genetisch bestimmter minderer Intelligenz gewisser Einwanderergruppen, deren übergroße Vermehrung ergo volkswirtschaftlichen Schaden anrichte. Auch darin liegt kein Angebot an die Gemeinten, sie kommen nur als "unser" Problem vor; als genetisches und wirtschaftliches Material werden sie gewogen, gewogen und für zu leicht befunden.

Urteile dieser Art, die verbreitet werden und sich als 'die Wahrheit' ausgeben, deren Kritik wiederum als 'verlogene Korrektheit' beschimpft wird, nisten sich in vielen Hirnen, nicht nur dem Breiviks ein, wenn sie aus der 'Mitte' und von bekannten Personen des öffentlichen Lebens vorgetragen werden. Wieso kann diese Straftat nichts damit zu tun haben? Ist die Verweigerung der Anerkennung nicht eine Voraussetzung von Gewalt? Zeller gibt keine Antwort.

Ein Argumentum ad hominem ist eingestreut: Nur "...dass viele diesen Zusammenhang wünschen..." stelle einen nicht bestehenden Zusammenhang her. Die Motivation derer, die auf einen Zusammenhang hinweisen, hat allerdings, werter Zeller, nichts mit dem Status der so getroffenen Aussagen zu tun. Zellers Text ist nicht etwa deshalb inhaltsarm und schlecht, weil ich ihn mit dieser Erwartung gelesen hätte, denn der Befund lässt sich belegen.

Schließlich konstatiert Zeller, mit Kausalität habe ein solcher Zusammenhang nichts zu tun, sondern mit magischem Denken. Offensichtlich hat Zeller wenig über Kausalität nachgedacht: Prüfen wir gängige Auffassungen von Kausalität: Dass der ideologische Hintergrund der Verunglimpfung des Islam, die sich Kritik nennt, eine notwendige Bedingung für dieses Verbrechen in einem ganzen Satz von Bedingungen darstellt, die zusammen erst hinreichend sind, kann man nur dann abstreiten, wenn man jeden Zusammenhang zwischen der Ideologie von Tätern und ihren Taten abstreitet. Das wird im Ernst niemand tun. Oder nehmen wir die kontrafaktische Auffassung von Kausalität: Hätte es ohne diesen Hintergrund zu dieser Tat kommen können? Sehr voll nimmt den Mund, wer wie Zeller derart apodiktisch verneint. -- Prüfen wir die kausale Hypothese noch einmal anders auf Plausibilität. Fragen Sie sich selbst: Wenn Sie der Fortschrittspartei, Sarrazin, et al. glauben, dass die Muslime sich bedrohlich stark vermehren, noch dazu dumm und integrationsunwillig seien, dass außerdem unsere Gesellschaft verlernt habe, sich zu wehren ("Hurra, wir kapitulieren", Broder), wenn sie das glauben, könnten Sie dann nicht denken "Ich muss etwas dagegen tun!" ? Zur Erklärung von Breiviks Verhalten braucht es freilich noch viel mehr.

In der FAZ weist ein Artikel von Sebastian Balzter darauf hin, dass die norwegischen Wähler diesen Zusammenhang sehen könnten, den Zeller und kommentierende Leser der FAZ so kategorisch abstreiten. Manche Verteidiger der gegen die Migranten gerichteten Strömungen weisen auf deren demokratische Legitimation hin, müssten also auch deren demokratische Deligitimierung bei den nächsten Wahlen als Hinweis akzeptieren, dass etwas nicht in Ordnung war. Balzter schließt mit einem Zitat:

„Verschwörungstheorie und Islamophobie, das ist das Grundgerüst im Weltbild des Terroristen“, sagte Politologe Marsdal am Dienstag dieser Zeitung. „Man darf Handlung und Haltung zwar nicht gleichsetzen. Aber nicht jede Haltung ist unschuldig.“

Montag, 25. Juli 2011

Hier wird erklärt, warum Hefty den norwegischen Anschlag nicht erklären will

(ad: "Keine Erklärung" von Georg Paul Hefty, FAZ 25.6. 2011)

"Es gibt Geschehnisse, die sind nicht zu kommentieren, über die ist nur nachzudenken, und allein schon das ist unbeschreiblich schmerzlich." beginnt Heftys Kommentar, der folgerichtig auch mit diesem Satz enden sollte.

Anschließend stellt er klar, dass es nichts zu erklären gibt: "Das Handeln des Täters ist weder politisch, noch gesellschaftlich, weder religiös noch esoterisch verständlich."

Er wiederholt in verschiedenen Formulierungen, dass es nichts zu erklären gebe, weder bei dem Anschlag in Norwegen, noch bei den Anschlägen der RAF, in Oklahoma 1995 und in New York 2001. Der Täter sei "irrsinnig", "Daher ergibt der Blick auf die von dem späteren Massenmörder bestückten Internetseiten auch keinen wirklichen Aufschluss über die Gründe des Verbrechens." Und weiter: "Was können die verstorbenen Staatsmänner Jefferson und Churchill dafür, dass der Norweger sie zitierte, was kann der legendäre Philosoph John Stuart Mill dafür, dass ein zum Verbrechen Entschlossener sich auf ihn beruft? Der Rückgriff eines Menschen, der Kinder erschießt, ist ebenso hirnrissig und aller logik fern wie die Ermordung von Landsleuten durch einen, der die Nation zu schützen vorgibt."

So weit, so schlüssig. Die Attentate vom 11. September wurden aber von den meisten westlichen Kommentatoren als Ausfluss eines irregeleiteten politischen Islam gedeutet. Die Möglichkeit des bloßen Irrsinns einer kleinen Splitterruppe wurde gar nicht erwogen, als der so genannte "War on Terror" erklärt wurde, bei dem Hefty, wie ich mich zu erinnern glaube (ich lasse mich gerne korrigieren), keineswegs heftig widersprach. Die Begründungen derer, die sich damals zum Attentat bekannten, wurden ernst genommen und zum Beleg dafür genommen, wie 'unsere Feinde' denken. Dieser Krieg wurde im Namen der 'Freiheit' erklärt, zu deren Aposteln nun einmal auch Jefferson und John Stuart Mill gehören. - Es ist übrigens stilistisch und gedanklich missglückt, einen Philosophen als legendär zu bezeichnen; Hefty mag ein Rennpferd gemeint haben. -

Es wäre aufschlussreich, bei einer noch so irren Begründung eines Verbrechens zu fragen, wo es herkommt und was es bedeutet. Und siehe da, schaut man sich Breiviks Ausführungen an an, so entsprechen sie ziemlich genau den Begründungen für den 'War on Terror' einerseits und für die gleichzeitig sich verschärfende Polemik gegen europäische Muslime andererseits. Sarrazin hat geschrieben und gesagt, wirklich geschrieben und wirklich gesagt, unsere türkischstämmige Minderheit sei genetisch dümmer veranlagt und vermehre sich bedrohlich. Die sich gegen Sarrazin gewehrt haben, haben bemerkt, dass derlei nicht nach 'demokratischer Debatte', sondern nach Euthanasie riecht. Denn welche 'diskursive' Lösung bietet sich für die übergroße Vermehrung der Dummen an? Na?

Noch wenige Tage vor dem norwegischen Verbrechen wurde ein unter Beteiligung des ZDF inszenierter Besuch Sarrazins in Kreuzberg in der Presse, insbesondere der Springer-Presse, breitgetreten. Es verhielt sich in Kürze so, dass lauter Protest Sarrazin nicht zum Zuge kommen ließ und schließlich vertrieb. Was wurde daraus nicht alles abgeleitet: intolerant, undemokratisch seien die Kreuzberger Linken und/oder Migranten. Und Sarrazin, als Populist und von Selbstzweifeln ungeschwächter Hetzer, spielte vor ebendieser Presse den beleidigten Demokraten, der doch nur diskutieren will. Die Beschimpfungen, die er den Protestanten an den Kopf geworfen hat, wurden kaum erwähnt - ich habe sie von Augenzeugen - die umgekehrten Beschimpfungen dagegen zum Ausweis dessen, was der Generalverdacht eh schon zu wissen glaubt: dass die muslimischen Migranten keine guten Demokraten seien. Eine faire Analyse hätte darauf hingewiesen, dass sich eine Gruppe, die sich mit biologistischen Argumenten als negativer Standortfaktor charakterisiert sieht, den Mitbürger Sarrazin nicht als akzeptablen politischen Gesprächspartner ansehen mag. Auch muss berücksichtigt werden, dass Sarrazin keine Kapazität auf dem Gebiet ist, über das er sein Abschaffungs-Buch geschrieben hat; dass er statistische Größen in seiner Argumentation falsch interpretiert; als Fakten deklariert, was umstrittene Hypothese ist usw. (s.dieser Blog). Es gibt also gute Gründe, Sarrazin nicht als wissenschaftlichen Gesprächspartner zu akzeptieren.

In den Reaktionen auf die Kritik an Sarrazin herrscht nicht erst seit besagtem Buch die Regel, die Kritiker als Verfechter 'linker Denkverbote' zu kritisieren. Es wird auch unterstellt, diese 'linken Denkverbote' dominierten die politische Debatte. Ebenso schreibt der norwegische (mutmaßliche, geständige) Mörder Breivik, nur verwendet er den laut FAZ im rechtsextremen Milieu verbreiteten Begriff 'Kulturmarxismus'. Wie aber Matthias Hannemann in der selben FAZ anmerkt, ist nicht nur diese These Breiviks in der Mitte zu finden. Wenn Breivik gegen die 'islamische Kolonisierung' Europas schreibt, so klingt das nur allzu bekannt. Breivik zitiert in seinem Manifest unter anderem Henryk M. Broder mit einer einschlägigen These. Broder könnte sich unwohl dabei fühlen; einem Journalisten des Tagesspiegels, der ihn damit konfrontiert, antwortet er aber mit einem Witz. Nun ja, ein Witzchen. Auch Breiviks Attacken gegen den Multikulturalismus oder gegen 'falsche Toleranz' könnten von Broder, Kelek, Sarrazin oder Ulfkotte stammen. - Was den amerikanischen Diskurs über die 'muslimische Gefahr' betrifft, so findet sich dort ebenfalls 'in der Mitte' ein Gemenge aus Liberalismus und antimuslimischen Thesen, dem nicht einmal die Breiviksche Zutat des Christentums fehlt.

Nach dem Attentat traten so genannte 'Terror-Experten' im Fernsehen, auch dem öffentlich-rechtlichen auf, und diagnostizierten die Handschrift des 'islami(sti)schen Terrorismus'. Dabei haben die allermeisten der in Europa begangenen Terroranschläge keinen muslimischen Hintergrund. Wenn es so nahe liegt, radikale Moslems zu verdächtigen, wenn die so gefährlich sind, dann müsste man doch etwas tun, statt nur zu reden? So oder so ähnlich kann Breivik gedacht haben. Als sich die Aussage der 'Experten' wenige Stunden später als falsch herausstellte, kam nicht etwa ein 'mea culpa', sondern es ging ungebrochen weiter im großen Infotainment.


Wir verstehen nun also, warum Hefty dieses Verbrechen als ideologiefreie Tat eines Irren einzelnen darstellen muss. Denn wenn man sich nach den ideologischen Grundlagen der Tat fragt, so ist der antimuslimische Diskurs der 'Mitte' eine davon. Allerdings sind die, die hier gegen den Islam hetzten, dadurch noch keine Mörder. Ebensowenig wären aber radikale Islamisten schon deshalb Mörder, weil einige Mörder sich auf sie berufen.

Heftys Kommentar sieht konsequenterweise keine politische Lösung außer der besseren Polizeiüberwachung und empfiehlt, dass sich Nachbarn mehr beobachten, vulgo bespitzeln.
Da die Behörden dies allein nicht leisten können, wird es darauf ankommen, dass auch einfache Bürger ihre Beobachtungen melden - bei Weltverbesserungsfanatikern wie bei Kinderpornographie.
Wenn Ihnen demnächst jemand merkwürdig vorkommt, rufen Sie doch einfach mal die Polizei an.


In Lüneburg wurde 2009 ein junger Mann zu einer Haftstrafe verurteilt, der in seiner Website Inhalte von jihadistischen Websites verlinkt hatte. Sarrazin geht hingegen gedeckt durch die Meinungsfreiheit hetzen und bezichtigt friedlich protestierende Kritiker, eine intolerante Meinungspolizei zu sein. Etwas stimmt nicht.

Man müsste sich schon entscheiden: Entweder diese Morde sind ein Grund, die anti-muslimische Hetze nicht länger für einen salonfähigen Beitrag zum Diskurs der Mitte zu halten, oder man macht dem radikalen politischen Islam nicht länger die Terroristen zum Vorwurf, die sich auf ihn berufen.

Dieser Blog, der sich zweierlei Maß zum Gegenstand nimmt, handelte schon wiederholt von Hefty. Bei diesem Thema hat er sich übertroffen und viele andere mit ihm.


Postscriptum (26.7.): Auch Eric Gujer in der NZZ lehnt eine 'Erklärung' des Anschlags durch den erstarkenden Rechtspopulismus in einem jedoch insgesamt wesentlich informativeren Kommentar ab. "Doch ist ein solcher Erklärungsversuch nicht mehr weit entfernt von modernem Geisterglauben." und "In Dänemark und Norwegen habe sogenannte Fortschrittsparteien einen festen Platz in der Politik erobert, auch in Schweden und Finnland schafften neue rechtspopulistische Gruppen den Einzug ins Parlament. Diese Parteien sind ausländerfeindlich und bedienen die Angst vor einer Europa verschlingenden islamischen Flut. Hier gibt es Anklänge an das Weltbild von Anders Behring Breivik, dem Attentäter von Oslo, der Norwegen von Muslimen und Marxisten reinigen wollte. Aber vage Parallelen bedeuten noch kein geistiges Komplizentum." Auch Gujer unterstellt einen zu primitiven Begriff von Erklärung. Hätte dieser Täter ohne diesen ideologischen Hintergrund diese Tat begehen können? So fragt man nach einer notwendigen Bedingung in einem ganzen Satz von Bedingungen, die zusammend hinreichend sind, sprich: nach einer Ursache. Die psychopathologische Beschreibung des Täters wird eine andere Ursache liefern. Wenn man, was ich bezweifle, beweisen könnte, dass dieser Mann sowieso gemordet hätte, bliebe immer noch die Frage, warum es gerade diese Gruppe traf. Wäre das Ausmaß des Verbrechens, die furchtbare Selbstermächtigung auch dann so weit gegangen, wenn nicht in der Gesellschaft von Rechts bis Mitte von einem inneren und äußeren Krieg gegen den Islam zu hören wäre? Auch bei Gujer wüsste ich gern, was er über die Beziehung zwischen den Anschlägen von 9/11 und den mehr oder minder radikalen Spielarten des politischen Islam zu sagen hatte. -- Es handelt sich ja um weit mehr als "vage Parallelen" zwischen den Inhalten der rechtspopulistischen Bewegungen und Breiviks Manifest. Das macht erstere, wie oben schon gesagt, nicht zu Mittätern, aber doch zu Stücken einer Erklärung. Man fragt sich, warum Gujer und Hefty das schreiben. Würden sie bei einer antisemitisch motivierten Tat auch antisemitische Agitatoren von Mitschuld freisprechen? "Populismus und Extremismus trennt ein breiter Graben." schreibt Gujer, auch "Aber sie [die Populisten] gefallen sich nur in der Pose des Tabubruchs, sie begehen ihn nicht." Stimmt das für die Gegenwart, und stimmt das historisch? Gibt es nicht vielmehr ein "Diskurskontinuum" von der Mitte bis zur extremen Rechten statt eines Grabens? Und ist nicht die biologistische Beschreibung von Menschen (als durch ihre genetischen Eigenschaften bestimmt) zumindest für Deutschland sehr wohl ein Tabubruch? Und war nicht in der Weimarer Republik ein ebensolches Kontinuum von "gemäßigten" Antisemiten und Revanchisten bis hin zu "radikalen" zu finden, und haben nicht diese gemeinsam den Siegeszug des Nationalsozialismus, aber auch die vielen politischen Morde an Linken und Juden vor der Machtergreifung und deren weitgehende Straflosigkeit erst möglich gemacht?

Freitag, 1. Juli 2011

Kirchhof vereinfacht

Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof ist erneut mit einem Vorschlag, die Steuergesetzgebung zu reformieren, vorstellig geworden. Der Vorschlag sieht einen einheitlichen Steuersatz der Einkommensteuer von 25% vor. Das bedeutet eine gewaltige Senkung des Spitzensteuersatzes (von 45 auf 25 %), für kleine Einkommen würden größere Steuerfreibeträge allerdings einen niedrigeren effektiven Steuersatz bewirken. Kirchhof nennt seinen Entwurf daher das 'sozialste Steuerrecht, das wir je hatten.' Viele Ausnahmen und Schlupflöcher will er abgeschafft wissen, aber auch ohne diese Schlupflöcher wird der effektive Spitzensteuersatz sinken, i.e. die Vielverdiener werden mehr Geld haben. Falls Kirchhof sich nicht wie bei seinem letzten Entwurf verrechnet hat, muss folglich irgendwer mehr bezahlen, der nicht zu den Spitzenverdienern gehört. Kirchhof geht mit der großen 'Vereinfachung' des Steuerrechts hausieren. Sonderregelungen für Sonn- und Feiertagsarbeit entfallen, auch Fahrtkosten können nicht mehr geltend gemacht werden. Wer mit einem kleineren Einkommen pendeln muss, wird also mehr bezahlen, wer mit einem großen Einkommen pendelt, hat durch die Senkung des Steuersatzes insgesamt mehr übrig. So sieht also das sozialste Steuerrecht aus?

Hierzu sagt etwa Thomas Eigenthaler, der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft, in einem Interview der Badischen Zeitung:

Es klingt ja so verlockend, wenn alles angeblich so wunderbar einfach wird. Aber was bedeutet zum Beispiel die Flat Tax von 25 Prozent in der Einkommensteuer? Sie bedeutet, dass all die Bürger, die heute wegen ihrer hohen Bezüge deutlich höhere Sätze bezahlen, eine enorme Entlastung erfahren. Diesen Ausfall im Steueraufkommen der öffentlichen Hand fängt Kirchhof zum Beispiel dadurch auf, dass Arbeitnehmer Fahrkosten nicht mehr geltend machen können oder auf die Zuschläge für Sonntags- und Feiertagsarbeit Steuer fällig wird. Er verteilt also zwischen Arm und Reich zu Lasten der unteren und mittleren Einkommen um. Auch muss man bei den Fahrkosten bedenken, dass das Nettoprinzip zu gelten hat: Was jemand aufwendet, um überhaupt Einkommen erzielen zu können, muss er geltend machen können. Und nur auf das so entstehende Netto ist dann die Steuer anzusetzen.


Vereinfachung war auch jahrelang ein Stichwort, mit dem die FDP ('Wir brauchen einfachere, gerechtere und niedrigere Steuern') Bauernfängerei betrieb. Vielen besonderen Situationen besondere Regelungen angedeihen zu lassen, kann aber sehr wohl gerechter zu sein, als alle über einen Kamm zu scheren. Hosen künftig nur noch in einer Größe anzufertigen wäre ja auch, obzwar einfach, nicht gerechter. Ende des Scherzes. Nun mag die Komplexität des deutschen Steuerrechts durchaus übertrieben sein, dennoch ist Vereinfachung nicht per se ein Wert. Dass eine komplexen Erwerbswelt einer komplexen Besteuerung unterzogen wird, die nur Experten (Steuerberater) verstehen, was soll daran so grundverkehrt sein? Auch dass man des Rechts nur mittels eines Rechtsanwalts Herr wird, ist doch kein Grund, unser Recht radikal zu vereinfachen. Künftig nur noch drei verschiedene Straftatbestände! Flat punishment: alles wird mit fünf Jahren Gefängnis bestraft.

Kirchhof ist von missionarischem Eifer getrieben.

Heute, so sagt er, regiere der Neid. Wenn aber sein Konzept erst einmal Gesetz sei und alle wüssten, dass jeder seine Steuern auch wirklich zahle, "dann können sich die Menschen erstmals am Erfolg des anderen freuen - das wäre Freiheit!"

(Guido Bohsem und Claus Hulverscheidt in der SZ.) Dahinter kann nur ein ausnehmend wirres Weltbild stehen. Freiheit besteht offenbar nicht darin, sich am Erfolg des anderen zu freuen. So schön diese Haltung teilweise ist, mit Freiheit hat sie wenig oder nichts zu tun, sehr viel aber mit einer kritiklosen Bejahung des Erwerbsstrebens. Ob man jemandem finanziellen Erfolg gönnt, hat ja vor allem mit der Bewertung der Quelle seiner Einnahmen zu tun. (Ich beispielsweise gönne Waffenhändlern keinen Cent, auch Einnahmen, die sich der Ausbeutung anderer verdanken, sind mir suspekt. Durch ein neues Steuerrecht wird sich daran selbstverständlich nichts ändern.)

Ein Weltbild, das um Freiheit zu kreisen vorgibt, und dann derart Ungereimtes über Freiheit hervorbringt, kann auch sonst nicht ganz in Ordnung sein. In einem 2008 dem Deutschlandfunk gegebenen Interview spricht Kirchhof unter anderm über Mindestlöhne:

Kirchhof: Wir haben ein Problem der sozialen Gerechtigkeit - einmal, weil die Umsatzsteuer, die indirekte Steuer, so hoch ist. Das trifft die kleinen Leute mit den kleinen
Einkommen. Das trifft die Familie, die ihr ganzes Einkommen konsumieren müssen, um die Kinder ernähren zu können. Und dann muss ja auch derjenige, den wir im Einkommensteuerrecht
verschonen, weil er zu wenig Einkommen erzielt, Umsatzsteuer zahlen. Das heißt, die Umsatzsteuer wirkt dort als eine soziale Schieflage. Was den Mindestlohn angeht, muss man sehr deutlich sagen: Mindestlohn ist etwas Wichtiges, etwas Schönes - der Grundgedanke. Jeder soll von seiner Arbeit leben können, das ist prinzipiell richtig.

Nur, der Staat darf nicht definieren, was der Mindestlohn ist, denn dann würde er bestimmte Arbeitsplätze so verteuern, dass der Unternehmer diese Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr anbietet. Und dann ist etwas sehr Schlimmes passiert, denn jeder Bürger, der arbeiten will, der nicht in der Familie arbeitet sondern im Erwerbsleben arbeitet, möchte gerne dazugehören, er möchte die Anerkennung seiner Arbeit, er möchte die Begegnung, er möchte das Einkommen. Und deswegen auf keinen Fall einen staatlich definierten Mindestlohn!

Liminski: Aber wenn ein Schiedsrichter fehlt, kann es natürlich passieren, dass wegen der Umstände dieser Mindestlohn sehr tief angesiedelt ist. Wir kennen die einzelnen Berufe, die es da gibt, Friseure und so weiter, die praktisch von einem solchen geringen Mindestlohn nicht leben können. Muss nicht doch eine höhere Instanz, eben der Staat, eingreifen, wenn die Tarifparteien es alleine nicht schaffen?

Kirchhof: Ich glaube, auch da muss man genau zuschauen. Etwa bei der Friseuse könnte es sein, ich bin da kein Experte, dass sie über die Trinkgelder so viel hinzu verdient, dass der reale Lohn, den sie empfängt, durchaus die Beträge deutlich übersteigt, über die wir gegenwärtig als Mindestlohn diskutieren. Natürlich muss es eine Maxime geben, der die Angemessenheit des Mindestlohnes definiert. Aber da hatten wir bisher in den sechzig Jahren gute Erfahrung gemacht, wenn wir sagen: Nicht der Staat definiert den Lohn, sondern die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind verantwortlich, den Lohn zu definieren.

Die niedrigen Löhne der Friseurinnen sind belegt, aber wir können uns ja einfach mal die Fakten umlügen, wo sie unserer Doktrin widersprechen und uns durch "ich bin da kein Experte" gegen Kritik absichern. Freiheit ist, wenn der Staat es nicht richten muss: So lässt sich zusammenfassen, was Kirchhof wiederholt gesagt hat. Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, sind ein störendes Detail. -- Der Staat soll doch künftig kein Eigentum mehr schützen. Die einen heuern Wachleute an, die anderen spezialisieren sich auf Einbruchdiebstahl, das regelt sich selbst.

Hütet euch vor den falschen Propheten.

Samstag, 5. März 2011

And now for something completely different...

Aber dass ein Bayer nach Berlin gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt. Weder ethnisch noch religiös gehört der Bayer nach Berlin, ins protestantisch geprägte Preußen.


Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seine frühere Reaktion auf Wulffs Rede bekräftigt. "Aber dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt." (Quelle: FAZ) Worin, kann man fragen, würde denn ein historischer Beleg dafür bestehen? Die Tatsache, dass Millionen von Muslimen seit zwei Generationen hier leben, genügt ihm anscheinend nicht. Beglaubigt wird Zugehörigkeit anscheinend nur durch Urgeschichte. In Friedrichs Äußerungen zeigt sich der rückständige Ungeist, der die BRD so lange an der lex sanguinis festhalten ließ.

Einige von Friedrichs früheren Äußerungen zu diesem Thema lauten "Dass der Islam Teil unserer Kultur ist, unterschreibe ich nicht.“ Friedrich sagte auch: „Um das klar zu sagen: Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch nicht in Zukunft sein." Nun hat sich der Zentralrat der Juden in Deutschland kürzlich mit guten Gründen gegen diese Vereinnahmung gewehrt. Die meiste Zeit wurden die Juden Europas bekanntlich diskriminiert und verfolgt. In den Antisemitismus flossen ganz verschiedene Elemente ein, darunter auch das 'historische' Argument, sie seien auch nach Jahrhunderten 'orientalische Fremde'. Friedrichs Unsinn hat in einem liberalen, säkularen Rechtsstaat nichts zu suchen. Die Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat das erfreulicherweise richtig gestellt. Der neue Innenminister gibt schon bei Amtsantritt einen Ton vor, der ihn für dieses Amt disqualifiziert, auch wenn die Klientel, die Sarrazin, Kelek et al. beklatscht, ihm zustimmen mag. Es handelt sich aber gar nicht um eine Meinung, sondern um Unsinn, der im Widerspruch zum umfassenden Anspruch der Verfassung steht. (Dennoch wird er wohl kaum vom Verfassungsschutz beobachtet werden.)

An dieser Stelle sei auf Patrick Bahners' Buch "Panikmacher" und die von Hilal Sezgin herausgegebene Aufsatzsammlung "Deutschland erfindet sich neu. Manifest der vielen." hingewiesen- Beide Bücher rücken die hässlichen Debatten "über" "den" "Islam" zurecht. Bahners analysiert den ressentimentgeladenen Diskurs, während in der Aufsatzsammlung MitbürgerInnen zu Wort kommen, die das eine gemeinsam haben, in der Debatte zum 'Objekt Moslem' erklärt zu werden. (Der als Antwort auf Sarrazins Buch gedachte etwas abgeschmackte Titel sollte niemanden abschrecken.) Es ist zu wünschen, dass sich diese Bücher ähnlich gut verkaufen wie Sarrazins Machwerk. Wer das Ressentiment bedient, hat aber allemal eine höhere Auflage als wer dagegen angeht. (Wie ja auch die, es sei immer wieder gesagt, schmierige und unwürdige Bild-Zeitung eine höhere Auflage hat als alle anderen überregionalen Tageszeitungen zusammen.)

Mittwoch, 2. März 2011

Einer kommt, wenn einer geht

Zum letzten Beitrag bemerkte ein Anonymus, dass sich ja nichts verbessert noch ändert, wenn einer geht. Das ist wohl so, hier wird über Symptome geschrieben, auch über Krankheiten, ohne eine Kur zu kennen. Das Abtreten eines Verteidigungsministers ist denkbar unwichtig, aber es ist dennoch gut, wenn einer geht, der aus dem Krieg eine Show gemacht und uns belogen hat. Der Fall ist gerade deshalb geeignet, etwas zu verdeutlichen, weil er letztlich unwichtig und damit einer kühlen Analyse zugänglich ist.

Er zeigt, dass eine Demokratie der Wahrheit verpflichtete Medien und der Wahrheit verpflichtete Politiker braucht. Man trifft oft auf eine unangenehme Art der pessimistischen Apologie: es seien ja eh alle Politiker Lügner, also wieso jetzt den einen kritisieren? Dieser Satz ließ sich kurioserweise mit vorbehaltloser Zustimmung zu Guttenberg kombinieren und ist deswegen falsch, weil er so tut, als lögen wirklich alle und alle gleich viel. Die einen lügen aber mehr als andere, und manche sind vielleicht anständig und aufrichtig.

Es kann daher nicht schaden, die eine oder andere Lüge oder Ungerechtigkeit zu dokumentieren. Und ich könnte das nicht, wenn ich mir Gedanken machen müsste, wie aus einzelnen Stimmen am Ende vielleicht eine Veränderung wird. Es ist jedenfalls kein Naturgesetz, dass Leute der Bild-Zeitung glauben. Es hat auch nichts mit Bildung zu tun. Es gibt genügend viele Menschen jeden Standes, die verstehen, dass diese Zeitung lügt und verzerrt, wenn sie auch ebensowenig wie ich verstehen, warum sie es tut.

Blender und Manipulatoren zu überführen ist gut, auch wenn die nächsten bereits in der Schlange stehen.

Ich will den gestrigen Bemerkungen zu Guttenbergs Rücktrittsrede noch ein wenig rhetorische Analyse (mit Hilfe des Handbuchs der literarischen Rhetorik von H. Lausberg) nachreichen. Das Folgende ist also von lediglich philologischem Interesse.

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Guttenbergs Erklärung hält sich weitgehend an die Struktur einer Verteidigungsrede vor Gericht. Sie soll ihn von dem in den Medien und durch andere Politiker erhobenen Vorwurf, er habe in seiner Doktorarbeit betrogen und anschließend das Volk und das Parlament darüber belogen, freisprechen. Der zweite Vorwurf tritt auch in der Form auf, Guttenberg habe immer nur das zugegeben, was ihm bereits nachgewiesen worden war, und in jeder Stufe des Abstreitens versucht, damit davonzukommen. All dies ist anhand der dokumentierten Sachlage kaum zu bestreiten, aber er wendet sich an den Teil des Publikums, der sich darüber nicht kundig gemacht hat, als Richter.

Auf den Vorwurf "fecisti" reagiert er zunächst im status (de)finitionis, lässt sich aber auch auf die status der qualitas und translatio ein. Eine Verteidigung durch Abstreiten ("non feci") ist in diesem Fall nicht machbar.

Im status finitionis erklärt er "feci, sed non hoc", indem er "Fehler" zugibt, nicht aber Lüge und Betrug. Dies ist der wichtigste Teil auch seiner vergangenen Verteidigungen, da ein begangener Fehler keine moralische Verurteilung nach sich zieht. Das Zugeben eines Fehlers gilt darüber hinaus als ein gutes Charaktermerkmal, was das Wohlwollen des Publikums erregen soll (s.u. benevolum parare.)

Im status qualitatis werden die Motive und Gründe des Geschehenen zum Thema. Als Gründe seines ungekennzeichneten Abschreibens hat er in der Vergangenheit viel Arbeit und die Verantwortung als Familienvater genannt. In dieser Erklärung verzichtet er darauf. Er behandelt dafür die Motive der ihm vorgeworfenen Verzögerungstaktik, die allesamt ehrenvoll erscheinen: Er hänge 1. "mit Herzblut" an diesem verantwortungsvollen Amt, musste sich 2. für eine so wichtige Entscheidung Zeit lassen (Sorgfaltspflicht), 3. "die drei gefallenen Soldaten mit Würde zu Grabe zu tragen und nicht erneut ihr Gedenken durch Debatten über meine Person überlagern zu lassen" (Pietät, Dienstpflicht) und 4. "es gehört sich, ein weitgehend bestelltes Haus zu hinterlassen" (Anstand, Pflicht). Die angegebenen Motive stellen ihm allesamt ein gutes charakterliches Zeugnis aus, setzen aber das vorangegangene "feci, sed non hoc" voraus. All die edlen Motive werden nämlich als Motiv für Lüge und Betrug untauglich.

Schließlich wird im status translationis die Rechtmäßigkeit des Verfahrens durch seine Kritiker bestritten. "Wenn allerdings, wie in den letzten Wochen geschehen, die öffentliche und mediale Betrachtungfast ausschließlich auf die Person Guttenberg und seine Dissertation statt beispielsweise auf den Tod und die Verwundung von 13 Soldaten abzielt, so findet eine dramatische Verschiebung der Aufmerksamkeit zulasten der mir Anvertrauten statt. Unter umgekehrten Vorzeichen gilt Gleiches für den Umstand, dass wochenlang meine Maßnahmen bezüglich der „Gorch Fock“ die weltbewegenden Ereignisse in Nordafrika zu überlagern schienen." Darin erscheinen die medialen Ankläger als verantwortungslos, pietätslos und außer jeder Verhältnismäßigkeit. Damit wird ihnen die sittliche Befugnis zum Urteilen implizit abgesprochen. An einer zweiten Stelle der Erklärung vertieft er diese Anklagen, indem er feststellt "Es ist bekannt, dass die Mechanismen im politischen und medialen Geschäft zerstörerisch sein können. Wer sich für die Politik entscheidet, darf, wenn dem so ist, kein Mitleid erwarten. Und das würde ich auch nicht in Anspruch nehmen. Ich darf auch nicht den Respekt erwarten, mit dem Rücktrittsentscheidungen so häufig entgegen genommen werden." Neben dem expliziten Hinweis auf "zerstörerische Mechanismen" liegt hier eine ironia vor, indem er behauptet weder Mitleid noch Respekt erwarten zu können. Dem steht aber die Grundauffassung des Publikums entgegen, grundsätzlich habe jeder Anspruch auf Mitleid und Respekt. Die Äußerung ist demnach die indirekte Anklage, seine Verfolger seien mitleids- und respektlos, und damit erneut nicht in der Position, moralische Urteile über ihn zu fällen. (s. auch unten benevolum parare.)

Jenseits des Argumentierens legt die Rede großes Gewicht darauf, das Wohlwollen des Publikums zu erwerben: benevolum parare. Er lässt dabei keine der klassischen Suchformeln aus. Beim locus ab nostra persona geht es darum, sich selbst zu loben. Neben dem 'Zugeben von Fehlern' und den edlen Motiven seiner Verzögerungstaktik ist die halbe Rede mit Selbstlob gespickt. "Es ist der schmerzlichste Schritt meines Lebens", "das ganze Herzblut", "allzu menschlicher Grund", "ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht" unterstreichen die Menschlichkeit des Redners (der kalten medialen Hetze gegenüberstehend). "Ich habe in einem sehr freundschaftlichen Gespräch die Frau Bundeskanzlerin informiert, dass ich mich von meinen politischen Ämtern zurückziehen werde und um meine Entlassung gebeten", er ist noch Herr der Entscheidungen. Eine besonders starke Dosis Eigenlob enthält der Satz " Der Grund liegt im Besonderen in der Frage, ob ich den höchsten Ansprüchen, die ich selbst an meine Verantwortung anlege, noch nachkommen kann. Ich trage bis zur Stunde Verantwortung in einem fordernden Amt. Verantwortung, die möglichst ungeteilte Konzentration und fehlerfreie Arbeit verlangt - mit Blick auf die größte Bundeswehrreform in der Geschichte, die ich angestoßen habe, und mit Blick auf eine gestärkte Bundeswehr mit großartigen Truppen im Einsatz, die mir engstens ans Herz gewachsen sind." Darin werden das eigene Verantwortungsbewusstsein, das Arbeitsethos, die hohen Ansprüche und erneut die emotionale Menschlichkeit des Redners beschworen. "Nun wird es vielleicht heißen, der Guttenberg ist den Kräften der Politik nicht gewachsen. Das mag sein oder nicht sein. Wenn ich es aber nur wäre, indem ich meinen Charakter veränderte, dann müsste ich gerade deswegen handeln." Darin wird die Festigkeit seines Charakters gegenüber den (als respekt-, pietäts- und mitleidslos dargestellten) Kräften der Politik unterstrichen. Er schreibt sich die Fähigkeit, Fehler zuzugeben und sich zu entschuldigen, explizit zu: " Ich habe wie jeder andere auch zu meinen Schwächen und Fehlern zu stehen. Zu großen und kleinen im politischen Handeln, bis hin zum Schreiben meiner Doktorarbeit. Und mir war immer wichtig, diese vor der Öffentlichkeit nicht zu verbergen. Deswegen habe ich mich aufrichtig bei all jenen entschuldigt, die ich aufgrund meiner Fehler und Versäumnisse verletzt habe, und wiederhole dies auch ausdrücklich heute." Der locus "ab auditorum persona" besteht im Lob des Publikums. Dies wird in einer Dankesformel geleistet: "Ich danke von ganzem Herzen der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung[,..] die mir bis heute den Rücken stärkten, als Bundesverteidigungsminister nicht zurückzutreten." Wichtig für den Erwerb der benevolentia ist die Abwesenheit von Arroganz. Die Rede ist in einem auffällig bescheideneren Stil gehalten als viele seiner früheren Äußerungen. Der locus ab adversatorium persona erregt Sympathie durch den Tadel der Gegenpartei. Wie oben bereits skizziert, stellt er seine Kritiker als mitleids-, pietäts- und respektlose Meute dar. (Er weiß übrigens, dass das auch dem in den ihm gewogenen Springer-Medien verbreiteten Bild entspricht, braucht es also diesem Publikum gegenüber nur anzureißen.)

Ich lasse es hierbei bewenden, obwohl ich noch längst nicht alle rhetorischen Kniffe der Rede aufgezeigt habe.

Die Intensität der Kommentare seiner Bild lesenden Anhänger bestätigt, dass die Berechnung der Rücktrittserklärung aufging. Die seriösen Medien (z.B. FAZ, SZ) stellen den Fall zwar in wünschenswerter Klarheit dar, ohne jedoch Guttenbergs Anhänger zu überzeugen, wenn sie sie denn überhaupt erreichen. Ein bei Äußerungen der Anhänger wiederkehrendes Argument ist die Berufung auf Umfragen, denenzufolge die Mehrheit der Deutschen ja Guttenberg glaube. Daher sei der auf Guttenberg ausgeübte Druck letztlich undemokratisch und falsch. Das Argument verwechselt Urteile der Mehrheit mit in Kenntnis der Sachlage gefällten Urteilen der Mehrheit. Der Habermassche Versuch, gültige Urteile auf Kommunikation und Mehrheitsentscheidungen zu gründen, stellt große Anforderungen an die Bedingungen der Kommunikation. Medien wie die Bild-Zeitung verletzen diese auf jeden Fall und viele Weisen.

Die antike Rhetorik versuchte meist, den Gegensatz des Ehrenhaften honestum und des Nützlichen utile zu überwinden. Nützlichkeit und Ehre sind aber unversöhnlich, es handelt sich hier um eine geschickte und dem Redner bei seinem Ziel-Publikum nützliche, aber verlogene Rede. Dies für die Akten, das Gedächtnis pflegt kurz zu sein.

Dienstag, 1. März 2011

Klein Zaches ist von uns gegangen

Es waren aber nicht die Zauberhaare, die ihm eine Fee verliehen hat, sondern die Bild-Zeitung, die das Urteil etabliert, es handle sich um den fähigsten Mann im Reich. Klein Zaches ist zurückgetreten. Im Folgenden zitiere ich seine Rücktrittsrede nach FAZ:

Es ist der schmerzlichste Schritt meines Lebens. Und ich gehe nicht alleine wegen meiner so fehlerhaften Doktorarbeit, wiewohl ich verstehe, dass dies für große Teile der Wissenschaft ein Anlass wäre. Der Grund liegt im Besonderen in der Frage, ob ich den höchsten Ansprüchen, die ich selbst an meine Verantwortung anlege, noch nachkommen kann.

Lies und staune: Er lobt sich für die eigenen höchsten Ansprüche, zugleich für sein Verantwortungsbewusstsein, gibt aber gleichzeitig weder Betrug noch Lüge zu. Der Mann bereitet sein Comeback vor.

Wenn allerdings, wie in den letzten Wochen geschehen, die öffentliche und mediale Betrachtung fast ausschließlich auf die Person Guttenberg und seine Dissertation statt beispielsweise auf den Tod und die Verwundung von 13 Soldaten abzielt, so findet eine dramatische Verschiebung der Aufmerksamkeit zulasten der mir Anvertrauten statt.

Er schämt sich nicht, die 'toten Soldaten' rhetorisch zu verwursten und -wenden: zur Relativierung des eigenen Fehlers und zur Anklage der Medien. Wie wäre es übrigens um Klein Zaches bestellt, wenn die Medien sich mehr um die Toten gekümmert hätten, die toten Soldaten und die mit deutscher Hilfe getöteten Zivilisten, in einem Krieg, der beim besten Willen nicht als Verteidigung der Bundesrepublik gelten kann? Mit einem Verteidigungsminister, der ohne Bescheid zu wissen, das Bombardement in Kundus rechtfertigt, und später dann Schneiderhahn abserviert, der ihn falsch informiert habe, was dieser bis heute bestreitet. An Klein Zaches bleibt nichts hängen.

Es geht so weiter in der Erklärung. Er hat nicht etwa deshalb solange mit dem Rücktritt gewartet, zunächst alles abgestritten und dann allmählich mehr, wenn auch nicht das Entscheidende zugegeben, weil er hoffte, damit durchzukommen, sondern, na? was sonst?, wegen der 'toten Soldaten' und um sein 'Haus zu bestellen', und

Zunächst ein möglicherweise für manche unbefriedigender, aber allzu menschlicher Grund. Wohl niemand wird leicht, geschweige denn leichtfertig, das Amt aufgebenwollen, an dem das ganze Herzblut hängt. Ein Amt, das Verantwortung für viele Menschen und deren Leben beinhaltet.

Er gibt als 'allzu menschlichen Grund' etwas zu, was letztlich doch wieder eine Tugend ist. Und so weiter ad nauseam. Es gibt aber doch weiter viele Kommentare im Netz, jetzt habe der linke Mob (o.ä.) unseren fähigsten Politiker aus dem Amt gehetzt. Die Fee/die Bild wirkt wahre Wunder in Fehldarstellung der Wirklichkeit. Mit dem ihr eigenen typographischen Rhythmus kommt ein Tittenbild, ein Interview mit Sarrazin, ein Tittenbild, eine Leugnung des anthropogenen Klimawandels, ein Tittenbild, ein Artikel über angebliche Sozialschmarotzer. Wer setzt die Themen und Ziele der Springer-Medien? Medien, die sich nicht der Wahrheit verpflichtet fühlen, sind eine Gefahr für jede Demokratie, da aus einer verlogenen Darstellung der Welt anschließend manipulierte Urteile werden. Das hier Beklagte hat übrigens nichts mit Links und Rechts zu tun: In der 'causa Guttenberg' waren sich FAZ und Süddeutsche in ihrem Ekel über die Darstellung der Bild-Zeitung einig. Die wiederum machte gegen die Klugscheißer, Sesselfurzer, Korinthenkacker, Bildungsbürger, Schnösel mobil. Ich möchte aber bezweifeln, dass sie viele Schreinermeister damit erreicht, die mit erschlichenen Meisterbriefen durchaus nichts anzufangen wissen, und auch mein Vater, ein alter Bauer, mag keine Betrüger in hohen Ämtern.

Klein Zaches, genannt Zinnober, wird wiederkommen, sieht ganz so aus.

(E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches, genannt Zinnober, zitiert nach Projekt Gutenberg)

Der Minister begab sich mit dem Kleinen zum Fürsten. Zinnober zog das Memoire, das ihm der Minister gegeben, aus der Tasche und fing an zulesen. Da es damit aber nun gar nicht recht gehen wollte und er nur lauter unverständliches Zeug murrte und schnurrte, nahm ihm der
Minister das Papier aus den Händen und las selbst. Der Fürst schien ganz entzückt, er gab seinen Beifall zu erkennen, ein Mal über das andere rufend: "Schön - gut gesagt - herrlich - treffend!" -

Sowie der Minister geendet, schritt der Fürst geradezu los auf den kleinen Zinnober, hob ihn in die Höhe, drückte ihn an seine Brust, gerade dahin, wo ihm (dem Fürsten) der große Stern des grüngefleckten Tigers saß, und stammelte und schluchzte, während ihm häufige Tränen aus den Augen flossen: "Nein! - solch ein Mann - solch ein Talent!- solcher Eifer - solche Liebe - es ist zu viel - zu viel!" Dann gefaßter: "Zinnober! - ich erhebe Sie hiermit zu meinem Minister! - Bleiben Sie dem Vaterlande hold und treu, bleiben Sie ein wackrer Diener der Barsanuphe, von denen Sie geehrt - geliebt werden." Und nun sich mit verdrüßlichem Blick zum Minister wendend: "Ich bemerke, lieber Baron von Mondschein, daß seit einiger Zeit Ihre Kräfte
nachlassen. Ruhe auf Ihren Gütern wird Ihnen heilbringend sein! - Leben Sie wohl!" -

Dienstag, 22. Februar 2011

Der Adel sei auch nicht mehr, was er mal war,

sagte mein Tischnachbar.

Er meinte damit den Guttenberg, dessen ausgiebiges Abschreiben oder Abschreiben-lassen auf der Website 'guttenplag' dokumentiert ist. Da musste ich ihm widersprechen: der Adel sei noch nie gewesen, was er angeblich mal war. Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen hat laut SZ in den 70er Jahren seine Dissertation zu großen Teilen abgekupfert. Und was politische Tugenden angeht: In der vielbeschworenen Guttenberg-Verwandtschaft gab es nicht nur Widerstandskämpfer, sondern etwa auch den am Kapp-Putsch beteiligten Urgroßvater Georg Enoch. So ist es halt mit großen, alten, reichen Familien; und so wie das eine kein Grund ist, die späten Nachfahren zu tadeln, sollte das andere kein Grund sein, sie zu loben. Letzteres war aber seit Jahren der Fall, Zeitungsartikel und Fernsehdokumentationen bedienten die Sehnsucht nach den "alten Eliten." Man versuchte einem ererbten Reichtum und Titel auch noch ererbte Tugend, Klugheit und Ehrlichkeit und Unabhängigkeit zuzusprechen. Der treueste Verbündete des Freiherrn wurde die Bild-Zeitung. Der hat Charakter! Der sagt, was er denkt! Der is wer! Bismarck! Guttenberg!

Eine gewisse Unabhängigkeit von fremden Urteilen mag der Landadel, wie Fontane sich ihn wünschte, wirklich einmal gehabt haben, wenn auch vermischt mit durchschnittlich reaktionären Ansichten. Der alte Stechlin würde sich nicht anbiedern und sicher auch einem Schmutzblatt wie der Bild-Zeitung keine Interviews geben, noch mit seiner Gattin grinsend vor Kameras durchs Kriegsgebiet laufen.

Die angeblich alten Eliten benehmen sich genau wie anerkennungssüchtige Parvenus, sind also wohl welche. Renommieren mit Titel und Auftreten reicht nicht, es muss auch ein Doktorgrad her. Und es sollte natürlich auch eine ausgezeichnete Arbeit werden, selbst wenn es dafür intellektuell oder zeitlich nicht reichte. Die Arbeit bezeugt eine solche Dreistigkeit im Plagiieren, dass deren Autor doch von eher mäßiger Intelligenz sein muss. Fans der Schmalzlocke können sich nun aussuchen, ob Guttenberg der Autor ist oder sich die Arbeit schreiben ließ.

Die Unehrlichkeit seiner Äußerungen vor der Presse, die auf Ehrlichkeit machten, die Claqueure, die ihn zum Opfer von Neid und Parteigeist erklären, das ist alles ebenso eklig wie lustig. Es versteht sich von selbst, dass die Claqueure ihrerseits von reinem Parteigeist getrieben sind (wie die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier bei Anne Will) , und dass sie vor lauter politischer Schläue oder Treue nicht sehen, wie sie sich vor anständigen Maßstäben um Kopf und Kragen reden. Solange allerdings die BILD-Zeitung (Wagner), die Welt (Broder) et al. eine antiintellektuelle Stimmung anheizen, werden sie dadurch womöglich beliebter. (Ob Broder bemerkt, in welchen Jahren die antiintellektuelle Trompete gebaut wurde?) Der gesunde Menschenverstand soll's dem Guttenberg nicht übelnehmen, dass er beschissen hat. Was ist schon ein Doktor! Das nun aber hat Guttenberg offenbar nicht gedacht, nur bis zu diesem Widerspruch kommen weder Broder noch Wagner noch leserbriefschreibende Guttenberg-Fans. Hätt er's nur gedacht: Was ist schon ein Doktor, ich geh lieber spazieren. Hat er aber nicht.

Mein Tischnachbar wollte nicht nachgeben. Der Adel sei nicht mehr, was er mal war, beharrte er. Früher hätte sich ein entehrter Freiherr, eine kurze Notiz zurücklassend, erschossen. Und jetzt stattdessen Gelaber. 'Mein Jott, du hast aber rückwärtsgewandte Sehnsüchte!' erwiderte ich, zahlte mein Bier und ging.

Man sollte sich keineswegs zu sehr freuen, wenn einer aus den falschen Gründen stürzt, der aus anderen Gründen zu stürzen verdient. Die Selbstdarstellungs- und Kriegs-Propaganda-Auftritte in Afghanistan sind das eigentliche Ärgernis des Politikers Guttenberg, nicht die in den Plagiaten deutlich werdenden Charaktermängel. Allerdings muss sich eine repräsentative Demokratie auch Urteile über den Charakter ihrer Repräsentanten bilden.

Montag, 31. Januar 2011

Huch, unser Freund ist ein Diktator

Hier erübrigt sich der Text. Alle westlichen Regierungen pflegen die Unterscheidung in "gute Diktaturen" (mit uns verbündet) und "böse Diktaturen" (uns feindlich gesonnen). Die "bösen Diktaturen" werden bei jeder Gelegenheit angeklagt, gemahnt, unter Druck gesetzt oder gelegentlich militärisch beseitigt. Die "guten Diktaturen" bekommen hingegen Waffen und logistische Unterstützung für die Aufrechterhaltung ihrer Macht.

Das alles funktioniert sehr gut, solange es funktioniert. Wenn dann allerdings eine "gute Diktatur" durch eine Revolution beseitigt wird, kommt üblicherweise ein uns feindlich gesonnenes, mithin "böses" Gebilde heraus. Selbst wenn das neue Gebilde (Islamische Republik Iran) bei allen Defiziten demokratischer als das vorhergehende (Kaiserreich Iran) ist, ist es doch sogleich "böser" als dieses.

Über Ägypten und Tunesien ist dieser Tage rein gar nichts Neues berichtet worden. Dass das ägyptische Regime durch Polizei und Militär herrscht, dass gefoltert wurde und wird, dass es bei Wahlen nichts zu wählen gibt, war bekannt. Die Frage, wo im nahen Osten die Bösen sitzen, provozierte aber stets die Antworten "Syrien" und "Iran". Das sich im Schrank befindliche Skelett darf unter keinen Umständen erwähnt werden. "Menschenrechte" sind in der politischen Praxis zur selektiven Rechtfertigungsmasche verkommen. Die Menschenrechte in Ägypten durften nicht interessieren, die im Iran dienen zur Kriegs- oder Putschvorbereitung.

Nun also auf einmal der Aufstand. Huch. Zunächst Botschaften aus Paris, Washington, London, die den befreundeten Diktatoren Rückendeckung gaben und hofften, dass alles bis auf etwelche Reformen beim Alten bliebe.

1. Beispiel: Am 11. Januar schlägt die französische Außenministerin in der Nationalversammlung vor, Ben Ali mit französischen Sicherheitskräften zur Hilfe zu kommen. Kurz darauf suchte Ben Ali bekanntlich das Weite. Nun bleibt Sarkozy nichts anderes übrig, als zu verkünden, Frankreich stünde an der Seite des tunesischen Volkes. (Sarkozy unterhielt bis dato sehr gute Beziehungen zu Ben Ali. Diktatur und Korruption waren bekannt.) Am 24. Januar ringt er sich zu einem schleimigen "mea culpa" durch, das so lautet:

Quand on est si proches, quand les destinées individuelles et collectives sont tellement imbriquées, on n'a pas toujours le recul nécessaire pour comprendre les sentiments de l'autre, bien mesurer ses frustrations, et sans doute ses angoisses, [...]
Derrière l'émancipation des femmes, l'effort d'éducation et de formation, le dynamisme économique, l'émergence d'une classe moyenne, il y avait une désespérance, une souffrance, un sentiment d'étouffer dont, il nous faut le reconnaître, nous n'avions pas pris la juste mesure. [...]
"Une ère nouvelle s'ouvre pour les relations entre la Tunisie et la France."
[...]
Sans doute avons-nous sous-estimé, nous la France, cette aspiration des nos amis tunisiens à la liberté.

Ist es nicht zauberschön, steindumm und tolldreist? "Le dynamisme economique" wurde also mit Fortschritt verwechselt, wie ja üblicherweise Kapitalismus mit Demokratie. (Fürs Protokoll: Jede Wirtschaftsform ist mit jeder Herrschaftsform kombinierbar. Die allerwenigsten Regierungen, ob nun eines 'kapitalistischen' oder eines 'kommunistischen' Landes, waren je demokratisch.) "Wir, Frankreich, haben das Streben unserer tunesischen Freunde nach Freiheit unterschätzt." Wir? Frankreich? Eine auf wirtschaftlichen Erfolg fixierte politische Elite ist nicht "Frankreich." Nun, mal gespannt wie harmonisch die "neue Ära der Beziehungen" zu "nos amis tunisiens" aussieht. Sollten die Tunesier eigentlich denken, dass Frankreich sie am A... lecken kann, werden sie es sich aus wirtschaftlichen Gründen vermutlich anders überlegen. Alles halb so schlimm.

2. Beispiel
Die Außenministerin der USA Clinton bezeichnete noch am 25. Januar Mubaraks Regierung als stabil. Sie versuche, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Ein paar Tage und Tote später erklärt sie dann, die ägyptische Regierung müsse in einen Reformdialog eintreten. Am 30. schließlich erklärt sie, Ägypten müsse einen geordneten Übergang zu einer wirklichen Demokratie vollziehen, wobei zum Kontrast noch erklärt wird, was keine wirkliche Demokratie wäre, nämlich so was wie der Iran. Im Klartext: Nach Jahrzehntelanger Unterstützung einer Diktatur wird der "Freiheit und Demokratie"-Slogan hervorgezogen und gleich schon wieder an die Durchsetzung "unserer" Vorstellungen verraten. Meisterlich.

3. Beispiel
David Cameron äußerte sich heute in der BBC "they go down the path of reform and not of repression [...] a proper orderly transition to a more democratic situation [...] to show the people of egypt that their aspirations are listened to [...] We should be encouraging friends and Egypt is a good friend, to make the right choice and not the wrong choice." (Eigenes Transkript, vermutlich mit kleinen Fehlern.) Wichtig also ist, wir halten fest, den Leuten das Gefühl zu geben, sie würden gehört.

4- Beispiel
Last, but nor least funny, Guido Westerwelle, zitiert nach ZEIT:
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) hat der ägyptischen Führung erstmals die Kürzung von Hilfen angedroht, falls sie keine demokratischen Reformen zulässt. "Für uns ist völlig klar, dass die demokratische Entwicklung eines Landes immer ein Kriterium der Gemeinsamkeit und der Zusammenarbeit ist", sagte Westerwelle in Köln. Die Gewährung von Bürger- und Menschenrechten sei auch für die Bundesregierung "ein Kriterium, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten oder aber die Zusammenarbeit zurückzuführen". Die EU-Außenminister würden am Montag in Brüssel beraten, welche Konsequenzen sie aus den jüngsten Ereignissen in Ägypten zögen.
Menschenrechte sind also bis Mitte Januar kein Problem im Umgang mit Ägypten, itzo schon. Wunderbar. Für uns ist völlig klar, dass ihr alle Steißgesichter seid, mag der Ägypter über uns denken.