Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 25. Juli 2011

Hier wird erklärt, warum Hefty den norwegischen Anschlag nicht erklären will

(ad: "Keine Erklärung" von Georg Paul Hefty, FAZ 25.6. 2011)

"Es gibt Geschehnisse, die sind nicht zu kommentieren, über die ist nur nachzudenken, und allein schon das ist unbeschreiblich schmerzlich." beginnt Heftys Kommentar, der folgerichtig auch mit diesem Satz enden sollte.

Anschließend stellt er klar, dass es nichts zu erklären gibt: "Das Handeln des Täters ist weder politisch, noch gesellschaftlich, weder religiös noch esoterisch verständlich."

Er wiederholt in verschiedenen Formulierungen, dass es nichts zu erklären gebe, weder bei dem Anschlag in Norwegen, noch bei den Anschlägen der RAF, in Oklahoma 1995 und in New York 2001. Der Täter sei "irrsinnig", "Daher ergibt der Blick auf die von dem späteren Massenmörder bestückten Internetseiten auch keinen wirklichen Aufschluss über die Gründe des Verbrechens." Und weiter: "Was können die verstorbenen Staatsmänner Jefferson und Churchill dafür, dass der Norweger sie zitierte, was kann der legendäre Philosoph John Stuart Mill dafür, dass ein zum Verbrechen Entschlossener sich auf ihn beruft? Der Rückgriff eines Menschen, der Kinder erschießt, ist ebenso hirnrissig und aller logik fern wie die Ermordung von Landsleuten durch einen, der die Nation zu schützen vorgibt."

So weit, so schlüssig. Die Attentate vom 11. September wurden aber von den meisten westlichen Kommentatoren als Ausfluss eines irregeleiteten politischen Islam gedeutet. Die Möglichkeit des bloßen Irrsinns einer kleinen Splitterruppe wurde gar nicht erwogen, als der so genannte "War on Terror" erklärt wurde, bei dem Hefty, wie ich mich zu erinnern glaube (ich lasse mich gerne korrigieren), keineswegs heftig widersprach. Die Begründungen derer, die sich damals zum Attentat bekannten, wurden ernst genommen und zum Beleg dafür genommen, wie 'unsere Feinde' denken. Dieser Krieg wurde im Namen der 'Freiheit' erklärt, zu deren Aposteln nun einmal auch Jefferson und John Stuart Mill gehören. - Es ist übrigens stilistisch und gedanklich missglückt, einen Philosophen als legendär zu bezeichnen; Hefty mag ein Rennpferd gemeint haben. -

Es wäre aufschlussreich, bei einer noch so irren Begründung eines Verbrechens zu fragen, wo es herkommt und was es bedeutet. Und siehe da, schaut man sich Breiviks Ausführungen an an, so entsprechen sie ziemlich genau den Begründungen für den 'War on Terror' einerseits und für die gleichzeitig sich verschärfende Polemik gegen europäische Muslime andererseits. Sarrazin hat geschrieben und gesagt, wirklich geschrieben und wirklich gesagt, unsere türkischstämmige Minderheit sei genetisch dümmer veranlagt und vermehre sich bedrohlich. Die sich gegen Sarrazin gewehrt haben, haben bemerkt, dass derlei nicht nach 'demokratischer Debatte', sondern nach Euthanasie riecht. Denn welche 'diskursive' Lösung bietet sich für die übergroße Vermehrung der Dummen an? Na?

Noch wenige Tage vor dem norwegischen Verbrechen wurde ein unter Beteiligung des ZDF inszenierter Besuch Sarrazins in Kreuzberg in der Presse, insbesondere der Springer-Presse, breitgetreten. Es verhielt sich in Kürze so, dass lauter Protest Sarrazin nicht zum Zuge kommen ließ und schließlich vertrieb. Was wurde daraus nicht alles abgeleitet: intolerant, undemokratisch seien die Kreuzberger Linken und/oder Migranten. Und Sarrazin, als Populist und von Selbstzweifeln ungeschwächter Hetzer, spielte vor ebendieser Presse den beleidigten Demokraten, der doch nur diskutieren will. Die Beschimpfungen, die er den Protestanten an den Kopf geworfen hat, wurden kaum erwähnt - ich habe sie von Augenzeugen - die umgekehrten Beschimpfungen dagegen zum Ausweis dessen, was der Generalverdacht eh schon zu wissen glaubt: dass die muslimischen Migranten keine guten Demokraten seien. Eine faire Analyse hätte darauf hingewiesen, dass sich eine Gruppe, die sich mit biologistischen Argumenten als negativer Standortfaktor charakterisiert sieht, den Mitbürger Sarrazin nicht als akzeptablen politischen Gesprächspartner ansehen mag. Auch muss berücksichtigt werden, dass Sarrazin keine Kapazität auf dem Gebiet ist, über das er sein Abschaffungs-Buch geschrieben hat; dass er statistische Größen in seiner Argumentation falsch interpretiert; als Fakten deklariert, was umstrittene Hypothese ist usw. (s.dieser Blog). Es gibt also gute Gründe, Sarrazin nicht als wissenschaftlichen Gesprächspartner zu akzeptieren.

In den Reaktionen auf die Kritik an Sarrazin herrscht nicht erst seit besagtem Buch die Regel, die Kritiker als Verfechter 'linker Denkverbote' zu kritisieren. Es wird auch unterstellt, diese 'linken Denkverbote' dominierten die politische Debatte. Ebenso schreibt der norwegische (mutmaßliche, geständige) Mörder Breivik, nur verwendet er den laut FAZ im rechtsextremen Milieu verbreiteten Begriff 'Kulturmarxismus'. Wie aber Matthias Hannemann in der selben FAZ anmerkt, ist nicht nur diese These Breiviks in der Mitte zu finden. Wenn Breivik gegen die 'islamische Kolonisierung' Europas schreibt, so klingt das nur allzu bekannt. Breivik zitiert in seinem Manifest unter anderem Henryk M. Broder mit einer einschlägigen These. Broder könnte sich unwohl dabei fühlen; einem Journalisten des Tagesspiegels, der ihn damit konfrontiert, antwortet er aber mit einem Witz. Nun ja, ein Witzchen. Auch Breiviks Attacken gegen den Multikulturalismus oder gegen 'falsche Toleranz' könnten von Broder, Kelek, Sarrazin oder Ulfkotte stammen. - Was den amerikanischen Diskurs über die 'muslimische Gefahr' betrifft, so findet sich dort ebenfalls 'in der Mitte' ein Gemenge aus Liberalismus und antimuslimischen Thesen, dem nicht einmal die Breiviksche Zutat des Christentums fehlt.

Nach dem Attentat traten so genannte 'Terror-Experten' im Fernsehen, auch dem öffentlich-rechtlichen auf, und diagnostizierten die Handschrift des 'islami(sti)schen Terrorismus'. Dabei haben die allermeisten der in Europa begangenen Terroranschläge keinen muslimischen Hintergrund. Wenn es so nahe liegt, radikale Moslems zu verdächtigen, wenn die so gefährlich sind, dann müsste man doch etwas tun, statt nur zu reden? So oder so ähnlich kann Breivik gedacht haben. Als sich die Aussage der 'Experten' wenige Stunden später als falsch herausstellte, kam nicht etwa ein 'mea culpa', sondern es ging ungebrochen weiter im großen Infotainment.


Wir verstehen nun also, warum Hefty dieses Verbrechen als ideologiefreie Tat eines Irren einzelnen darstellen muss. Denn wenn man sich nach den ideologischen Grundlagen der Tat fragt, so ist der antimuslimische Diskurs der 'Mitte' eine davon. Allerdings sind die, die hier gegen den Islam hetzten, dadurch noch keine Mörder. Ebensowenig wären aber radikale Islamisten schon deshalb Mörder, weil einige Mörder sich auf sie berufen.

Heftys Kommentar sieht konsequenterweise keine politische Lösung außer der besseren Polizeiüberwachung und empfiehlt, dass sich Nachbarn mehr beobachten, vulgo bespitzeln.
Da die Behörden dies allein nicht leisten können, wird es darauf ankommen, dass auch einfache Bürger ihre Beobachtungen melden - bei Weltverbesserungsfanatikern wie bei Kinderpornographie.
Wenn Ihnen demnächst jemand merkwürdig vorkommt, rufen Sie doch einfach mal die Polizei an.


In Lüneburg wurde 2009 ein junger Mann zu einer Haftstrafe verurteilt, der in seiner Website Inhalte von jihadistischen Websites verlinkt hatte. Sarrazin geht hingegen gedeckt durch die Meinungsfreiheit hetzen und bezichtigt friedlich protestierende Kritiker, eine intolerante Meinungspolizei zu sein. Etwas stimmt nicht.

Man müsste sich schon entscheiden: Entweder diese Morde sind ein Grund, die anti-muslimische Hetze nicht länger für einen salonfähigen Beitrag zum Diskurs der Mitte zu halten, oder man macht dem radikalen politischen Islam nicht länger die Terroristen zum Vorwurf, die sich auf ihn berufen.

Dieser Blog, der sich zweierlei Maß zum Gegenstand nimmt, handelte schon wiederholt von Hefty. Bei diesem Thema hat er sich übertroffen und viele andere mit ihm.


Postscriptum (26.7.): Auch Eric Gujer in der NZZ lehnt eine 'Erklärung' des Anschlags durch den erstarkenden Rechtspopulismus in einem jedoch insgesamt wesentlich informativeren Kommentar ab. "Doch ist ein solcher Erklärungsversuch nicht mehr weit entfernt von modernem Geisterglauben." und "In Dänemark und Norwegen habe sogenannte Fortschrittsparteien einen festen Platz in der Politik erobert, auch in Schweden und Finnland schafften neue rechtspopulistische Gruppen den Einzug ins Parlament. Diese Parteien sind ausländerfeindlich und bedienen die Angst vor einer Europa verschlingenden islamischen Flut. Hier gibt es Anklänge an das Weltbild von Anders Behring Breivik, dem Attentäter von Oslo, der Norwegen von Muslimen und Marxisten reinigen wollte. Aber vage Parallelen bedeuten noch kein geistiges Komplizentum." Auch Gujer unterstellt einen zu primitiven Begriff von Erklärung. Hätte dieser Täter ohne diesen ideologischen Hintergrund diese Tat begehen können? So fragt man nach einer notwendigen Bedingung in einem ganzen Satz von Bedingungen, die zusammend hinreichend sind, sprich: nach einer Ursache. Die psychopathologische Beschreibung des Täters wird eine andere Ursache liefern. Wenn man, was ich bezweifle, beweisen könnte, dass dieser Mann sowieso gemordet hätte, bliebe immer noch die Frage, warum es gerade diese Gruppe traf. Wäre das Ausmaß des Verbrechens, die furchtbare Selbstermächtigung auch dann so weit gegangen, wenn nicht in der Gesellschaft von Rechts bis Mitte von einem inneren und äußeren Krieg gegen den Islam zu hören wäre? Auch bei Gujer wüsste ich gern, was er über die Beziehung zwischen den Anschlägen von 9/11 und den mehr oder minder radikalen Spielarten des politischen Islam zu sagen hatte. -- Es handelt sich ja um weit mehr als "vage Parallelen" zwischen den Inhalten der rechtspopulistischen Bewegungen und Breiviks Manifest. Das macht erstere, wie oben schon gesagt, nicht zu Mittätern, aber doch zu Stücken einer Erklärung. Man fragt sich, warum Gujer und Hefty das schreiben. Würden sie bei einer antisemitisch motivierten Tat auch antisemitische Agitatoren von Mitschuld freisprechen? "Populismus und Extremismus trennt ein breiter Graben." schreibt Gujer, auch "Aber sie [die Populisten] gefallen sich nur in der Pose des Tabubruchs, sie begehen ihn nicht." Stimmt das für die Gegenwart, und stimmt das historisch? Gibt es nicht vielmehr ein "Diskurskontinuum" von der Mitte bis zur extremen Rechten statt eines Grabens? Und ist nicht die biologistische Beschreibung von Menschen (als durch ihre genetischen Eigenschaften bestimmt) zumindest für Deutschland sehr wohl ein Tabubruch? Und war nicht in der Weimarer Republik ein ebensolches Kontinuum von "gemäßigten" Antisemiten und Revanchisten bis hin zu "radikalen" zu finden, und haben nicht diese gemeinsam den Siegeszug des Nationalsozialismus, aber auch die vielen politischen Morde an Linken und Juden vor der Machtergreifung und deren weitgehende Straflosigkeit erst möglich gemacht?

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ja, danke, das trifft es wohl ganz gut. Interessante Parallele auch zwischen erfolgreichen "Publizisten" wie Sarrazin oder Broder einerseits und den verurteilten "Cyber-Terroristen", die für mehrere Jahre in den Knast wanderten, ohne dass nachgewisen wurde, dass ihr Verlinken von islamistischen Propaganda-Videos auch nur eine Person zum Beitritt in eine Oranisation oder gar zum Verüben eines Anschlags hingerissen hätte.

Anonym hat gesagt…

Übrigens, in der Tagesschau kaum ein Wort über die Ideologie des Täters, in Deutschland dagegen debattiere man über Gefahren "rechtsextremer Gewalt". Eine schönes Ablenkungsmanöver...Wie rechtsextrem ist die Mitte in Deutschland dann denn eigentlich schon?