Flucht und Vertreibung, I
"Wir streiten uns nicht über Definitionen und Begriffe." Es wird über Flüchtlinge gestritten, darüber, wer sie aufnimmt, welche Flüchtlinge welche Rechte in Anspruch nehmen können. Ein politischer Flüchtling, der der Anspruch auf Asyl hat, sei einer, der vor politischer Verfolgung geflohen ist, ein Wirtschaftsflüchtling sei einer, der vor Armut geflohen ist.
Die große Armut, unter der die Roma des Westbalkans mehr als der Rest der Bevölkerung leiden, hat als eine Bedingung den allgegenwärtigen Rassismus; dieser wiederum hat politische Bedingungen. Syrer fliehen vor dem Krieg. Sie fürchten für Leib und Leben, gerade auch eine Mittelschicht, der es unter Assad recht gut ging, die aber nichts Gutes oder gar den Tod von den anderen Mächten zu erwarten hat, wenn diese gewinnen. Es treibt sie aber auch, dass es in der ruinierten Wirtschaft keine Perspektiven für sie gibt. Es mag ihnen teilweise immer noch besser gehen als den Roma im Kosovo.
Das Recht braucht Definitionen, gewiss; aber nur wer sich künstlich dumm stellt kann stehen bleiben bei dem Begriff, der sich aus der Definition ergibt. Eine Definition versucht, eine minimale Zahl von Bestimmungsstücken zusammenzubringen. Sie kann deswegen den Beziehungen, die ihr Gegenstand zu anderen Gegenständen hat, nicht Rechnung tragen. Das aber tut die Reflexion.
Eine Definition, die es erleichtert, die Reflexion zu verweigern, ist falsch, ja böse. Der Flüchtling etwa flieht vor etwas, das entstanden ist, im Falle Syriens mit direktem Einfluss der USA, Saudi-Arabiens, der Türkei, Russlands und mit indirektem der vor der USA kuschenden Bundesregierung. (-- IS sind zum Beispiel ein Geschöpf und die Folge des Irakkriegs, in dem die BRD zwar nicht mittat, aber für den sie die USA auch nicht anklagte und ebensowenig die Nutzung der in Deutschland befindlichen Infrastruktur verweigerte. --) Man könnte diese Flüchtlinge mit einigem Recht auch als Vertriebene bezeichnen, auch durch uns Vertriebene. Das Wort ist aber reserviert für die deutschsprachigen Bewohner Polens und Tschechiens, von denen viele so am Nationalsozialismus beteiligt waren, dass sie sich selbst zu Feinden der Polen oder Tschechen gemacht haben, und die sich selbst also auch als zu Recht Bestrafte und nicht nur als zu Unrecht Vertriebene hätten verstehen können. Es ist falsch, sich bei Flüchtlingen nichts weiter zu denken, als dass sie geflohen seien, wie es falsch ist, bei Vertriebenen an nichts weiter als an die Vertreibung zu denken.
Nicht das Ganze in den Blick nehmen zu wollen ist die Bereitschaft zur Lüge. Es geht aber nicht um kosmetische Korrektur von Wörtern. (Nebenbei: Die Flüchtlinge "Geflüchtete" zu nennen ist ein eigentlich recht eitler Vorschlag. "Seht, wie korrekt ich bin." Es ist, wie mit Bibelsprüchen verzierte Blumengebinde aufs Schafott zu legen, "Kreuzroserei". Vorgebracht wird er von ansonsten erfreulich engagierten Personen, die sich leider sehr gerne über andere möglicherweise engagierte Personen erheben.)
Flucht und Vertreibung, II
Ein anderer Begriff ist der des Staatsangehörigen. Wer ein deutscher Staatsangehöriger ist, hat ein Recht, sich in Deutschland und der EU aufzuhalten. Wer hat ein Recht, deutscher Staatsangehöriger zu werden? Die Antwort darauf ist kompliziert, aber auch nach der Novelle des StAG ist eine Abstammungskomponente, die Spätaussiedlern dieses Recht gibt, nicht völlig entfallen. Von 1950 bis 2005 sind nach der alten und der neuen Version des Gesetzes 4.481.882 Personen auf der Grundlage ihrere deutschen Volkszugehörigkeit nach Deutschland gekommen, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Das Bundersvertriebenengesetz definiert die Volkszugehörigkeit:
(1) Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.
(2) Wer nach dem 31. Dezember 1923 geboren worden ist, ist deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Das Bekenntnis auf andere Weise kann insbesondere durch den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen oder durch den Nachweis familiär vermittelter Deutschkenntnisse erbracht werden. Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum muss bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag, in Fällen des § 27 Absatz 2 im Zeitpunkt der Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich dieses Gesetzes, zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können, es sei denn, der Aufnahmebewerber kann diese Fähigkeit wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder wegen einer Behinderung im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch nicht besitzen. Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum wird unterstellt, wenn es unterblieben ist, weil es mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden war, jedoch auf Grund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft ist, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören.
Durch eine Staatsangehörigkeit hat einer das Recht, sich in einem durch Kriege, Verträge und Bündnisse bestimmten Territorium aufzuhalten. Der in Jugoslawien geborene Rom konnte durch seine Staatsangehörigkeit an die Adria und bis in die Alpen reisen und dort wohnen. Ohne sein Tun wurden die Grenzen verändert. Jetzt kann er beispielsweise nicht ohne weiteres aus Serbien heraus. Der Zerfall Jugoslawiens war teilweise auch eine Zerschlagung. Die u. a. über Genscher vermittelte Komplizenschaft Deutschlands mit dem kroatischen Separatismus, die daran eine Anteil hatte, ist bekannt. Die Lebensverhältniss des Rom haben sich durch diese politische Veränderung drastisch verschlechtert, sein Lebensraum wurde verengt. Es ist ihm als Zwang widerfahren und er hat weniger dazu getan als Angehörige der syrischen Mittelschicht zum Bürgerkrieg beigetragen haben.
Auch der in Kasachstan geborene Volksdeutsche hat gewissermaßen Glück gegenüber dem in Serbien geborenen Rom. Der Rom wird sicher verstehen,
dass er nicht willkommen ist, weil er erstens kein Volksdeutscher, zweitens schlecht ausgebildet und drittens am Verhungern ist.
Wirtschaft und Humanität
An das Wort Wirschaftsflüchtling klammert sich die deutsche politische Führung, weil es eine Abschiebung mit humanem Anschein ermöglicht. Wir sind human gegen die syrischen Flüchtlinge und gerecht gegen die aus dem Westbalkan. Alle beschwören, dass Deutschland human sei. Gauck lobt das "helle Deutschland" gegen das "Dunkeldeutschland". GEmeint waren freiwillige Helfer auf der einen und Neonazis auf der anderen Seite. "Deutschland" wird hier metonymisch für zwei kleine Gruppen verwendet. Ohne Rhetorik wäre mit Deutschland zumeist der deutsche Staat gemeint. Und der hat, als jährlich mindestens 2000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, keine Anstalten gemacht, Visen in den Botschaften auszustellen, die ihnen eine menschenwürdige und ungefährliche Anreise ermöglicht hätten. Stattdessen werden die, die den Verzweifelten den einzigen Ausweg ermöglichten, zum Buhmann, die "Schlepper".
Jetzt, wo zehnmal so viele ertrinken mögen, wird über die Möglichkeit solcher Visen immerhin gesprochen, noch aber nichts getan. An den Einzelfällen hat sich nichts geändert. Das Inkaufnehmen des großen Fütterns war Dunkeldeutschland und und Dunkeleuropa par excellence; tödlicher als alle Neonazis zusammen. Direkt verantwortlich auch unserer Regierung; davon aber schweigt der Bundespfaff.
Ändert sich jetzt etwas, so kann Humanität nicht der Grund sein, da ja nichts außer der Zahl sich geändert hat. Schlechte Presse gab es in letzter Zeit, die den Schein der eigenen Humanität bedrohte. Wie bei Gauck geht es bei den Reden der Regierungsmitglieder oft um Behauptungen über "Deutschland", die bei jährlich 100000 Flüchtlingen aufrechtzuerhalten waren, ohne an der üblichen Flüchtlingsbürokratie etwas zu ändern; die aber jetzt bei gesteigerter Aufmerksamkeit bröckeln, da jetzt erst viele bemerken wie inhuman das immer gleiche und stets als human Dargestellte ist.
Die Syrer also nehmen wir "unbürokratisch" auf -- die Flüchtlinge vom Westbalkan sollen "schnelle Verfahren" bekommen und schnell abgeschoben werden. Gerne wird gesagt, dass Deutschland die gut ausgebildeten syrischen Flüchtlinge zur Besetzung freier Stellen gebrauchen könne. Nicht ausdrücklich gesagt wird, dass Deutschland die "schlecht ausgebildeten Zigeuner" vom Westbalkan nicht gebrauchen könne. Bei der Frage welche politischen Flüchtlinge aufzunehmen seien, ist viel von Wirtschaft die Rede. Bei uns sind selbstverständlich die wirtschaftliche Nützlichkeit und die politische Akzeptanz von Flüchtlingen eng verknüpft.
Die Flüchtlinge aber kommen sauber getrennt nach Gründen, wirtschaftlichen oder politischen. Die Grünen dürfen rein, die Roten müssen gehen. Viele von denen, die "selbstverständlich kein Asyl bekommen", dürfen gleichwohl, wenn sich ein Anwalt dahinterklemmt, nicht abgeschoben werden, weil sich nämlich begründen lässt, dass die solchermaßen Unverfolgten bei Rückkehr doch für Leib und und Leben fürchten müssen. Nun werden die wenigsten gute Anwälte haben, so dass das Gros -- hui! -- ins "sichere Herkunftsland" zurückgeschickt wird, um dort zumeist zu vegetieren.
Großzügigkeit und Kleinlichkeit: Über Rassismus, Asylrecht und Wirtschaftsegoismus
Seit kurzem erst gibt es in Berlin, das ja aufs vorbildliche Holocausterinnern so stolz ist, ein Denkmal für die von den Nazis aus rassistischen Gründen ermordeten Sinti und Roma. Die Bild-Zeitung hat im vergangenen Jahrzehnt gerne und viel über "Bettel-Roma" etc. berichtet; ältere Polizisten durften bis ca. 1980 an deutschen Poizeischulen etwas von "Kriminalbiologie" lernen, einer von den Nazis gehegten Disziplin, derzufolge "Zigeuner und Juden besonders zu Kriminalität neigen". Selbstverständlich wurde 1949ff nur der Teil gelehrt, der sich auf die "Zigeuner" bezog.
Wenn wir sie heute am liebsten alle abschieben, so nicht aus rassistischen, sondern nur aus formalen Gründen, sicher. Sicher? Wir sind ja offenbar keine Rassisten, siehe: Syrer! Uns sind die Syrer immer noch lieber als die "Zigeuner". Auch bei den Syrern gibt es übrigens viele Kassandrarufe (Moslems! Islamisten gar!). Bertold Kohler (FAZ) und Henryk Broder (Welt) warnen davor und vor den "Gutmenschen", die das nicht sehen wollen. Viele Leser der besagten Journaille scheinen's zu goutieren. Bei dem einen wie dem anderen erscheint die Aufnahme von Flüchtlingen, die ein verfassungsmäßiges Recht in Anspruch nehmen, nicht als eine diesem Recht entsprechende Pflicht, sondern als Großzügigkeit.
Das Asylrecht wird also zunehmend als Sphäre des politischen und wirtschaftlichen Handelns beschrieben. Es finden sich jederzeit Mehrheiten es weiter (nach 1993) zu kastrieren, damals geschah das zur größten Schande der auch ansonsten mit nicht wenig Schande befleckten SPD mit deren Stimmen. Und es werden sich immer wieder Sonntagsredner à la Gauck finden, die betonen, wie wichtig doch unser
"großzügiges Asylrecht" sei.
Dabei ist sein Geburtsfehler offenbar gerade die Kleinlichkeit, die Flüchtlinge, die mit Nichts vor der Tür stehen, nach Gründen sortieren zu wollen. Es
genügt nicht, vor der Not zu fliehen. Wir behalten uns die definitorische Hoheit vor, zu entscheiden, welche Not politischer Verfolgung entspringt. In der Antike, im Mittelalter war der Fremdling am neuen Ort zunächst zwar rechtlos, hatter aber meistens eine Chance, zu bleiben und Rechte zu erwerben. Der Fremdling musste keine Formulare zur Deklaration seiner Gründe ausfüllen. Heute sind die Rechte der legalisierten Fremden klarer und reichen weiter. Zugleich aber sind Hürden errichtet worden, die erlauben, rechtens diese Rechte zu verweigern und den Fremdling, der ja schon da ist, nicht aufzunehmen.
Er ist aber schon da, und es ist häufig nicht möglich, ihn abzuschieben, weil sein Herkunftsland etwa nicht bekannt ist oder aus --ja!-- humanitären Gründen, die doch für eine Aufnahme nicht ausreichen. Das nun produziert in Europa Hunderttausende, vielleicht auch Millionen Illegaler, die keine Arbeitserlaubnis haben und daher jede Arbeit zu jeglichen Bedingungen annehmen. Wer pflückt in Spanien die Tomaten? Marokkaner. Wer auf Kreta? Pakistanis. Sie müssen ihren Ausbeutern dankbar sein, weil sie sont nicht leben könnten. Sie müssen ihren Schleppern dankbar sein, weil sie sonst nicht gekommen wären. Unsere Politik macht mal die Schlepper, mal die illegalen Arbeitgeber zu Buhmännern, erzwingt aber die Existenz von beiden.
Die Klandestinen sind in Teilen Europas inzwischen unverzichtbare Arbeitskräfte, weil sie klandestin sind. Die Regierungen, die ja nicht der Wirtschaft schaden wollen, werden sich hüten, den Zwischenzustand abzuschaffen. Es ist optimal, bei Wirtschaftszweigen, die ihre Produktion nicht in Länder mit niedrigen Lohnkosten verlagern können, ein inneres Ausland zu haben: wirtschafltich drinnen, politisch draußen.
Die Schlepper sind die Bösen! Wir sind die Guten!
Und die Schlepper? Seetüchtige Schiffe mit Flüchtlingen werden, wenn sie von den Küstenwachen oder Frontex erwischt werden, zur Umkehr gezwungen. Es ist also nicht der "Zynismus der Schlepper", sondern die Logik unserer Abwehr, die nur sinkende Schiffe rettet, die die Flüchtlinge auf sinkende Schiffe verweist. Die Flüchtlinge beschädigen die Boote, wenn sie Rettungskräfte in der Nähe glauben: es ist ihre einzige Chance; viele aber enden bei den Fischen.
Sie sollen nicht herkommen. Und wenn sie da sind, sollen sie gemäß Dublin oder gemäß Quote verteilt werden. Merkel hat es verstanden, als Trägerin einer "menschlichen" Botschaft darzustehen, während de Maizière an einer Verschärfung der Gesetze arbeitet, die die Abschiebung und Abschreckung erleichtert. Beides gehört schon immer zusammen, nur ist es diesmal auf good cop - bad cop - Rollen verteilt.
Mentre il lavoro sporco lo lascia fare al ministro degli interni la canceliera Angela Merkel continuare a coltivare l'immagine de la Germania più accogliente. (J. Rosatelli, Il manifesto, 18.9.2015
Jeder im Ausland, der genau hinhört, bemerkt das natürlich. Aber es ist die peinliche Zusammenarbeit von Bild und ZDF, die ausgerechnet in Deutschland das Bild unserer eigenen Güte aufrechterhält.
Währenddessen nörgeln FAZ und Welt, darin immerhin ehrlicher, wenn auch noch unsympathischer. Dort gibt es den lauten Ton (Kohler, Broder) und den leiseren, z.B. Reinhard Müller in der FAZ von gestern (21.9.): "Ohne Grenzen keine Würde".
Doch auch dem Staat [...] sind Grenzen gesetzt. Nicht nur Landesgrenzen [...]. Das Land hat auch Kapazitätsgrenzen -- Obergrenzen. [...]
Auch nach Ansicht der Staatengemeinschaft ist es [das Asylrecht] kein unabdingbares Menschenrecht. [...]
DAs Bundesverfassungsgericht hielt diesen Asylkompromiss [von 1993] für Grundgesetzkonform mit einer Begründung, die heute ganz vergessen wird: Das Grundrecht auf Asyl
könnte durch Verfassungsänderung auch ganz abgeschafft werden. [...]
Aber schon die Durchsetzung des geltenden Asylrechts heißt: wer auf dem Landweg Deutschland erreicht, muss gar nicht erst ins Land gelassen werden. Denn er ist schon
in Sicherheit. [...]
Die fehlende Obergrenze wäre auch gar kein Problem, wenn das Asylgrundrecht angewendet würde, wie die Volksvertretung das beschlossen hat.[...]
Was folgt aus alledem? Schon wird in der Bundesregierung gefordert, unsere Standards -- auch der Menschenwürde -- zu senken. Klar: Der Kuchen wird kleiner. [...]
Die Entscheidung darüber, wen wir aufnehmen wollen -- und wir sollten viele aufnehmen, die sich und uns bereichern können -- wird durch die jetzige Lage aber unmöglich gemacht.
Deutschland nimmt sich und vielen Menschen damit Chancen und Würde.
Anders als die Krawallschachtel Bertold Kohler, die sogar den bürgerlichen Lesern der FAZ überwiegend peinlich sein dürfte, trifft Müller den hohen Ton und sagt -- in gedecktem Tweed -- dasselbe:
- Wir müssen sie nicht nehmen.
- Wir können uns aussuchen, wen wir nehmen.
- Wir können nicht alle nehmen.
- Wir können und sollten viele? die meisten? zurückschicken in ihr Dublin-Ankunftsland oder ihr Herkunftsland.
Nichts ist so explizit wie bei Kohler, Broder, aber wer liest etwas anderes als das, dass wir die gut Ausgebildeten gebrauchen können, weil sie "sich und uns bereichern" und nicht das von Broder beschworene künftige Subproletariat?
Feiner Mob, schlechtes Rechnen und doch wieder Rassismus
"Wir sollten viele aufnehmen, die sich und uns bereichern können." So einen Satz würde der brandschatzende Mob nie sagen; folglich ist Müller ein ehrenwerter Mann. Der doch damit die Ideologie für weitergehende Abschottung und Abschiebung allerfreundlichst liefert, die zu Gesetzen wird und sich auf der untersten Ebene treulich im Mob spiegelt.
Für die Akten: Es gibt auch Mob im Tweed.
Der Kuchen wird kleiner, sagt Müller. Wenn wir in diesem Jahr 800000 Menschen aufnähmen (1 Prozent der Bevölkerung) und gleichzeitig die Wirtschaft um 1 Prozent wächst, wie verändert sich dann der Kuchen-pro-Kopf? Richtig, er verändert sich nicht, wenn eine gerechte Verteilung erreicht wird. Tatsächlich aber ist die Aufnahme von 800000 Menschen in einem System kapitalistischer Bereicherung, das zahlreiche mehr oder minder arme Schlucker hervorbringt, durchaus mit Lasten verbunden, vermutlich fast ausschließlich für die Ärmeren. Wenn ein kapitalistischer Staat, der sich immerhin noch als Sozialstaat versteht, es nicht schafft, einen Zuwachs von einem Prozent der Bevölkerung zu tragen, dann erklärt er sich doch für unfähig und gescheitert. Die meisten Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien, Afghanistan sind in ihre Nachbarländer geflohen. Würden die zehn reichsten Staaten der EU im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung genau so viele Flüchtlinge aufnehmen, so wären es über 40 Millionen. (Ich habe mir die Quelle, einen Artikel in 'il manifesto' von letzter Woche, leider nicht notiert.) Die Unfähigkeit ist nur ein Vorwand: Es handelt sich um Unwillen. Es wurden viereinhalb Millionen 'volksdeutsche Spätaussiedler' und viele Millionen 'Vertriebene' bewältigt, die letzteren zumindest in für Deutschland schwierigeren Zeiten. Ohne eine zumindest teilweise rassistische Wahrnehmung lässt sich das ganze Geschrei nicht verstehen.
Der Wille der anderen
Eine Quote, gerechte Verteilung der Lasten! Flüchtlinge, also Lasten, werden verteilt werden, nach einem Schlüssel, zur Not auch in ein beinahe faschistisches Land wie Ungarn oder in ein wirtschaftlich darnierderliegendes Land wie Griechenland. Schwierig ist die Frage ohnehin, was eine gerechte Verteilung ist. Ginge es nach dem Außenhandelsüberschuss, müsste Deutschland, dessen gewaltiger Außenhandelüberschuss etwa auf Kosten der Wirtschaften Südeuropas geht, sie so ziemlich alle nehmen.
Kann man denn Flüchtlinge, die in ein Land wollen, etwa nach Deutschland oder auch nach Belgien, nehmen und verteilen ? Der Wille der Flüchtlinge scheint, sobald sie sich in die Hand unserer kleinlichen Großzügigkeit begeben haben, keine Rolle mehr spielen. Die Flüchtlinge fliehen aber nicht nur vor etwas, sondern wollen auch in ein neues Leben hinein. Und deshalb streben sie bestimmte Länder an und andere nicht.
Das Gespenst der "nicht integrierten Fremden" wird oft beschworen. Die, die kommen, wollen ein Leben. Wenn man es ihnen von Beginn an schwer macht,
sie herumschubst und gleich Paketen verschickt, will es mir möglich erscheinen, dass die eine oder der andere nicht in Dankbarkeit vor dem 'Gastland' zerfließt, sondern
sich in ein Ressentiment einschließt. Menschen so zu behandeln, wie wir behandelt zu werden wünschen, wäre ein besserer Anfang.
Wer zahlt?
Wir, "der Steuerzahler", und das ist, wie schon gesagt, kein Problem.
Wir, die Mitverursacher der Flucht.
Wir, die charakterlosen Verbündeten der Hauptverursacher der Flucht.
Es wäre aber auch begründbar, eine größere Rechnung an die USA zu schicken, dessen Kriege ja dieselben Broder und Kohler beklatscht haben, die jetzt vor den zumeist durch diese Kriege bewirkten Flüchtlingen Angst machen. Wäre es nach Kohlers markigen Kampfansagen gegen Russland gegangen, hätten wir jetzt vielleicht noch ein paar Kriege und ein paar Millionen Flüchtlinge mehr.
Die unheilvollen Konsequenzen der allesamt verfehlten Kriege (Afghanistan, Irak, Libyen) werden wir noch eine Weile tragen. Waren die USA und ihre Verbündeten bereit, unzählige Milliarden in den Kriegen zu versenken, soll bitte jetzt niemand wimmern, wenn die Folgen auch etwas kosten. Was nun Kohler et al. betrifft, die sollte wirklich niemand mehr lesen.