Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Sonntag, 14. November 2010

Brüderle schreibt

In der FAZ vom 30.10.2010 steht der Artikel "Deutschland muss ein Chancenland werden" von Rainer Brüderle. Vom Titel angefangen ist der Artikel in einer unbeholfenen Mischung aus Werbe- und Verwaltungssprache geschrieben, die sogar im üblichen gedankenarmen und phrasenreichen Gerede der Politik noch auffällt. Eine kleine Liste von in dem Text vorkommenden Ausdrücken:

Chancenland
Legitimationslücke der deutschen Zuwanderungspolitik
Zuwanderungsgesellschaft
Parallelwelten
Zielvorgaben
Aufstiegschancen
Drittstaatsangehörige
Integrationsprojekte
Willkommenskultur
Begrüßungspakete
Migrationshintergrund
Die schillernde Seifenblasenwelt der Multi-Kulti-Gesellschaft ist geplatzt.
Elternaktivitäten
Konzepte zu einem Nationalen Aktionsplan mit verbindlichen Integrationspartnerschaften
Integrationsmaßnahmen
Integrationsangebote
Integrationsverträge
Integrationsleistungen
Doch wir sollten darüber nachdenken, einen zusätzlichen Turbo zu installieren.
feierliche Einbürgerungsfeiern
Bildungschancen
chancenorientierte Ingegration
Zuwanderungssteuerung
Stärkung des deutschen Auslandskulturwesens

Die Liste illustriert nichts, das man nicht schon wüsste, aber sie illustriert das Bekannte sehr schön. Von der Idee des liberalen Rechtsstaats, in dem alle, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft dieselben Rechte und Pflichten haben, ist darin nichts mehr zu finden. Alles scheint ein großes gesellschaftliches und vor allem wirtschaftl iches Optimierungsproblem zu sein. "Ein moderne funktionierende Wirtschaft braucht Einwanderung qualifizierter Fachkräfte."

Schön und gut, gleichzeitig signalisiert die ganze Rede von der Integration, dass die Einwanderer, wie wir schon haben, eben nicht die rechten sind, solange sie sich nicht "integrieren." Damit ist aber gerade nicht das einzige gemeint, was ein liberaler Rechtsstaat verlangen kann, nämlich sich an die Gesetze zu halten, sondern sprachliche, kulturelle und ökonomische Verhaltensweisen. Der kleine Satz vom gescheiterten Multi-Kulti ist vermutlich einer Absprache der Regierungskoalition geschuldet, denn man hört ihn immer wieder aus dem Mund der Kanzlerin und diverser Minister. Damit "besetzt" die Regierung ein Thema, ohne auch nur klären zu müssen, was sie meint. - Merkel ließ etwa verlauten (FAZ, 4. November 2010) "Integration erfodert aber eine politische und gesellschaftliche Kraftanstrengung." Mein sei vorher fälschlicherweise davon ausgegangen, Integration laufe von selbst. Im selben FAZ-Artikel heißt es "Die Bundesregierung will mit dem nationalen Aktionsplan die Integration von in Deutschland lebenden Migranten überprüfbar machen." - Hinter all dem steht auch eine Drohgebärde gegen "Integrationsverweigerer"; das aber geschieht, um die Ressentiments mancher Wähler zu bedienen. Schuld ist nicht eine verfehlte Wirtschaftspolitik, schuld sind "die". (Das ist ja gemeint, wenn von einer verfehlten Integrationspolitik gesprochen wird.) Dass man damit die Idee eines liberalen Rechtsstaats beschädigt, stört anscheinend wenige, auf die man verzichten kann. Die Schuldzuweisung kommt allerdings mit dem Anspruch daher, man kümmere sich jetzt um die Lösung der Probleme und erzwinge zum Besten aller Beteiligten Integration. (Wenn Integration etwas derart herrisch und einseitig Gefordertes ist, muss jeder noch nicht ganz gebrochene Mensch, und wär er der Frommste und Sanfteste, antworten: Nein.) Wer seine Arbeit verliert, muss die Zumutung einer "Wiedereingliederungsvereinbarung" über sich ergehen lassen, Einwanderer müssen "Integrationsvereinbarungen" eingehen. Der Form nach verpflichten sich beide Seiten in diesen Vereinbarungen zu etwas, einen Zwang und eine Bevormundung spürt aber nur die schwächere Seite: Der Arbeitslose; der Einwanderer.


Die größer werdenden Schicht von Verarmten, die zwischen prekären Beschäftigungen, Arbeitslosigkeit und Maßnahmen wechseln, enthält viele Einwanderer, wie ja jede soziale Verschlechterung Einwanderer besonders trifft. Gesetzliche und wirtschaftliche Bedingungen haben diese Schicht hervorgebracht. Wenn die Ausländer nicht wären, gäbe es diese Schicht mit anderer Besetzung genauso. Von den "ethnischen Deutschen", die ihr angehören, kann man schlecht "Integration" einfordern. Integration oder deren Fehlen ist nicht die Ursache dieser Phänomene, nur dem einzelnen kann man es unter die Nase reiben, er wäre jetzt nicht arbeitslos, wenn er Ingenieur wäre. Wären aber alle Arbeitslosen Ingenieure, gäbe es auch nicht mehr zu produzieren.

Ein "Chancenland", soso, täte es nicht einfach ein Land, wo man seine Rechte in Anspruch nehmen kann? Dass unser Schulsystem viele um Chancen prellt, ist bekannt (OSZE, Pisa). Und ebenso prellt die Wirtschaft diejenigen um die Chance auf ein würdiges Leben, die das Reservoir für die Billigarbeit bilden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, Mindestlöhne, kostenlose Bildung, die Verabschiedung vom dreigliedrigen Schulsystem, derlei würde den jetzt zu Verlierern Gestempelten oder wenigstens deren Kindern "Chancen" geben. Aber von einem "Liberalen" ist ein Pochen auf die Rechte der Einzelnen im liberalen Rechtsstaat längst nicht mehr zu erwarten.

"Willkommenskultur" und "Begrüßungspakete" werden übrigens auch nicht viele brillante Köpfe nach Deutschland bringen. Dafür ist unsere Sprache zu wenig verbreitet und zu unwichtig, und dafür sind wir auch zu provinziell, so provinziell wie das oben exzerpierte Geschreibsel.

Eines noch: Das alles bedeutet nicht, dass der Staat oder die Gesellschaft "nichts zu leisten brauche" und "alles von selbst geschehe", was das Zusammenleben von Einheimischen und Einwanderern betrifft. Es sollte selbstverständlich sein, dass ein Land allen seinen Bewohnern "Chancen" gibt und nicht nimmt. In einem Land, in dem viele Menschen mit einer anderen Muttersprache leben, wäre ein zusätzlicher Unterricht in der Muttersprache eine gute Idee, da noch immer viel dafür spricht, dass so etwas die kognitive Entwicklung fördert und letztlich der Ausdrucksfähigkeit in beiden Sprachen zugute kommt. Dieser Unterricht wurde vielerorts abgeschafft, wenn es ihn gab. Im "Integrationsstreit" wurde er zum Zankapfel, da der muttersprachliche Unterricht von denen, die so herrisch nach Integration rufen, als Problem gesehen wurde: Die sollen gefälligst deutsch lernen. Vereinzelt wurden auch Studien zitiert, die in besonderen Fällen die Nützlichkeit des muttersprachlichen Unterrichts anzweifeln. Insgesamt spricht aber der überwiegende Teil der Studien für diese so genannte "Interdependenzhypothese", dass die muttersprachliche Förderung auch der Zweitsprache und allen anderen kognitiven Fähigkeiten zugute kommt. (s. etwa Helbig (Hrsg): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationale Handbuch, I. Berlin, New York 2001. S. 617 ff.) Was nun nicht sagen soll, dass ein schlecht gemachter muttersprachlicher Unterricht irgendwem nütze. Man erkennt an diesem kleinen Politikum sehr gut, dass es eben nicht um "Chancen" und "Integration" geht, sondern um Assimilation. Darum interessieren die Studien über die Bedeutung des muttersprachlichen Unterrichts auch nicht. Es kann doch nicht sein, dass einer ein besserer Deutscher wird, indem er besser türkisch lernt. Die Rheinland-Pfälzische CDU schlägt vor, den muttersprachlichen Unterricht abzuschaffen und Sprachtests für Kleinkinder einzuführen.

„Der Muttersprachliche Unterricht ist kein Instrument für den Bildungserfolg und hilft auch nicht dabei, dass die Kinder in unserer Gesellschaft erfolgreich ihren Platz finden“

sagt Bettina Dickes, die bildungspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion. Eine Begründung liefert sie nicht. Es kann ja, angesichts des Forschungsstands, auch keine Begründung geben.


p.s. Ich sitze öfters im Bus neben türkischen oder arabischen Jugendlichen, die zwischen ihrer jeweiligen Muttersprache und Deutsch hin- und herschalten. Im Gegensatz zu den beliebten Karikaturen a la "Hey, Alter..." höre ich immer wieder gewandte und originelle Formulierung, von der Komplexität des Hin- und Herschaltens ganz abgesehen. Brüderles Text ist langweiliger, schlechter formuliert und gedankenärmer als viele dieser Gespräche, so ist es nun einmal, da hat auch die Bildung nicht viel geholfen.

Donnerstag, 30. September 2010

Quelle honte - what a shame

-Ach, wie gut wie gut wir doch sind!

(Beifall.)

-Wir haben...

(Zurufe "Hört, hört!", noch mehr Beifall.)

-...aus der dunklen Epoche...

(Ein fröhlicher Schein geht durch die Menge, als sie die Formulierung wiedererkennt.)

-...unserer Geschichte gelernt: Nie wieder!

(Nicht enden wollender Beifall.)


Während die schöne Gedenkfeier von statten geht, verschafft sich die Polizei Zutritt zur Wohnung einer Roma-Familie aus dem Kosovo, um selbige abzuschieben. In einigen Monaten wird irgendwer eine Notunterkunft bei Pristina anzünden. Das hat man nicht wissen können.

Au même temps, au pays des droits de l'homme, Sarkozy fait expulser des Roms roumains et bulgares. On s'en fout pas mal des droits des citoyens de l'UE, sans parler des droits de l'homme.


Heuchelei ist nicht die verwerflichste aller Verhaltensweisen, aber die
ekelerregendste. Nie wieder was eigentlich?


Die Sinti und Roma wurden seit ihrer Ankunft in Europa immer wieder diffamiert, schikaniert, kontrolliert und ermordet. Unter dem Nationalsozialismus erreichte nicht nur die Judenverfolgung, sondern auch die der Sinti und Roma ihren Höhepunkt. Die 'Zigeuner' standen im Unterschied zum Antisemitismus nicht im Zentrum der NS-Ideologie. Dennoch wurden die 'Rassengesetze' gleichermaßen gegen sie wie gegen Juden angewendet, dennoch wurden viele Sinti und Roma in Konzentrationslagern ermordet. Die faschistischen Verbündeten Deutschlands taten ein gleiches. Im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac sollen 25000 bis 50000 Roma ermordet worden sein. (Für all dies siehe etwa M. Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Hamburg 1996.)

Nach dem zweiten Weltkrieg konnten die Deutschen zwar nicht umhin, die an den Juden Europas begangenen Verbrechen einzugestehen, mit der Aufarbeitung beeilten sie sich aber durchaus nicht. Die Bundesrepublik beschäftigte wichtige Nazis in hohen Staatsämtern, auf den Auschwitzprozess musste man bis in die 60er Jahre warten. Der Mord an den Juden war aber doch unhintergehbar ins Bewusstsein getreten, so dass Antisemitismus in der Bundesrepublik nicht salonfähig war. (Die verbliebenen Antisemiten verlegten sich überwiegend auf privates Tuscheln.)

Der Völkermord an den Sinti und Roma ist noch immer nicht ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Im Bundeskriminalamt waren seine Akteure noch bis zu ihrer Pensionierung tätig, auch die so genannte "Kriminalbiologie", die "Zigeuner" als erblich kriminell einstufte, wurde noch bis Anfang der 80er Jahre gelehrt. Das Eingeständnis eines Verbrechens machte es wohl leichter, andere Verbrechen zu rechtfertigen. Nach dem Kriege wurden die meisten Wiedergutmachungsansprüche abgelehnt mit der Begründung, es habe sich nicht um Rassismus, sondern um ganz normale Kriminalitätsbekämpfung gehandelt. Erst Anfang der 80er Jahre wurde seitens der Bundesregierung der Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt. Und heuer, anno 2010, regt sich nicht besonders viel Widerstand, wenn Roma ins Kosovo abgeschoben werden.

Bis heute werden 'Zigeuner' in Europa vorwiegend als problematische Gruppe 'potentieller Straftäter' wahrgenommen. Darauf kann sich ein Sarkozy verlassen, der bei aller Kritik auch viel Beifall erntet. Historisch sind Sinti und Roma Opfer zweiter Klasse, das ist bis auf weiteres eben so. Man mag natürlich auch sagen, dass Verbrechen der Vergangenheit nicht zu besonderer, über die gewöhnlichen Rechte hinausgehender Freundlichkeit zu den Opfergruppen verpflichten. Das Gegenteil ist aber im Hinblick auf die Juden mit guten Gründen Konsens; für Sinti und Roma wird allerdings keine besondere Verpflichtung anerkannt: Und fröhlich schiebt Europa ab, den Verträgen gemäß, in bester Ordnung.

In meinem Haus lebt eine Roma-Familie aus Rumänien. Vor einigen Wochen sagte der Hausmeister "Morgen versuchen wir, die Zigeuner rauszuschmeißen." Und richtig erschien am nächsten Tag der Besitzer mit zwei Gehilfen, um eine Räumungsklage in unzulässiger Selbsthilfe durchzusetzen und die Roma rauszuschmeißen. Er wollte nämlich die Kosten für den Gerichtsvollzieher sparen. Ein zufällig anwesender befreundeter Jurist konnte diese Selbsthilfe abwenden, für alles andere war es schon zu spät. Der Räumungsbeschluss war rechtskräftig, da die Familie alle Einspruchsfristen versäumt hatte. Pech? Selbst schuld? (Ja und nein.)

Die Familie war bereit, ihre Mietrückstände zu zahlen, doch ließ sich der Vermieter auf keine Erneuerung des Vertrages mehr ein. Eine Wertsteigerung seiner Immobilie ist zu erwarten, zumal sie am Rand des Teiles von Nordneukölln liegt, der allmählich schick wird. - Das bedeutet, eine Familie mit kleinen Kindern und einer kranken Mutter buchstäblich auf die Straße zu setzen, der dann vermutlich nur Obdachlosigkeit oder 'Rückreise' bleibt, und zwar in ein Land, in dem alle außer Roma was gegen Roma haben. Da Roma in Rumänien nicht 'politisch verfolgt' sind, können sie auch kein Asyl beantragen. Und obwohl sie Bürger der EU sind, können sie bis 2014 so behandelt werden, als wären sie es nicht. Es spielt keine Rolle, dass Roma tatsächlich in ganz Osteuropa und Südosteuropa 'sozial verfolgt' und immer wieder Opfer von Gewalt sind und die Regierungen dagegen nicht viel tun, wenn sie nicht gar selbst mit Ressentiments gegen Roma auf Stimmenfang gehen. Es handelt sich um systematische Diskriminierung, aber solange diese nicht als 'politische Verfolgung' eingestuft wird, verpflichtet sie zu nichts.

Haben wir nicht selbst schon genug soziale Problem? - Gewiss, wir haben auch viel eigene Armut. Kommts dann noch auf die Roma an? Dieses Land ist, auch wenn allenthalben über ein 'unfinanzierbares' Sozialsystem geklagt, weiterhin eines der Reichsten und reich genug, seinen eigenen Bürgern und Flüchtlingen ein Auskommen zu ermöglichen. Die grundsätzlichen Mängel unseres Arbeitsmarktes betreffen ja die einen wie die anderen. Und sich fein darauf rauszureden, dass man den Rumänen bis 2014 keine Arbeitserlaubnis geben muss, ist erstens eine Aufforderung zur Schwarzarbeit und zweitens eine Schikane für die, die schon hier sind.

Was schreiben unsere sich für liberal haltenden Neocons von der 'Achse des Guten' über dieses Thema? Nun, Richard Wagner schreibt


Man kann durchaus berechtigt über die Roma in Rumänien behaupten, sie seien diskriminiert, das aber könnte man in der gleichen Weise auch von der Banlieue-Bevölkerung in Frankreich sagen. Käme aber jemand auf die Idee, diesen Franzosen in Berlin ein Aufenthaltsrecht zu geben? Nein.

In der Romafrage wird gerne moralisiert. Die von den Papiertigern der NGO’s auf den Weg gebrachte Thematik hat gute Chancen zur Chefsache in der europäischen Moralzentrale zu werden. Das Gutmenschentum, das hauptamtliche wie das ehrenamtliche, betreibt die moralische Landnahme. Nichts gegen die Arbeit, die viele Verbände vor Ort leisten, trotzdem aber muss man Einspruch gegen die Art und Weise erheben, wie manche Leute, Helfer und Experten zugleich, die Romafrage moralisieren, ja geradezu inszenieren, um die Aufmerksamkeit der Politik zu erzwingen. Nur für die Roma oder auch für sich selbst?

Danke, R. W., dass Sie mir und jedem anderen, der ein moralisches Problem, das ohnehin besteht, beim Namen nennt, 'Gutmenschentum' und Wichtigtuerei vorwerfen. Ihnen wiederum ist Bösmenschentum und gleichermaßen Wichtigtuerei vorzuwerfen, denn Ihre eigentlich immer ähnlichen Textchen, die außer ein bisschen Rumhacken völlig ideenfrei sind, werden ja anscheinend nur deshalb publiziert, weil sie von dero Importanz verfasst wurden.

Schwamm drüber, R. W., es hält sich halt jeder für wichtig. Sollten Sie irgendwann einmal blind, verarmt und leprös an meine Tür klopfen, werde ich sogar für sie noch einen verschimmelten Joghurt erübrigen. Ich wünsche Ihnen durchaus nicht, blind, verarmt und leprös zu enden. Hübsch fände ich es aber, sie wachten auf und wären, wenn nicht in einen Käfer, so doch in einen rumänischen Zigeuner verwandelt. Dann könnten Sie ja mal prüfen, ob Ihre Behauptungen stimmen:

Dass viele der Roma in Berlin bleiben möchten, hat mehr mit dem Sozialgefälle innerhalb der EU zu tun als mit einer Verfolgung in Rumänien. Dort gibt es zwar eine ausgeprägte Anti-Roma-Rhetorik, einen oft ungehemmten Verbalrassismus, aber die Pogromstimmung, die man in unserer Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen zu berichten weiß, ist so nicht vorhanden. Man kann die Bukarester Diskussionen über die Bezeichnung der Roma als Zigeuner für geschmacklos halten, letzten Endes aber haben sie auch damit zu tun, dass die rumänische Gesellschaft noch nicht durch die Schule des politisch Korrekten gegangen ist.

'N bisschen Verbalrassismus... Sie würden sicher auch sagen, dass sich Juden in einem Land, in dem alle bishin zur Regierung behaupten, 'die Juden seien unser Unglück', Ungeziefer, o. ä. wohlfühlen sollen? Würden Sie nicht? Würden Sie bestimmt nicht, weil die Achse des Guten unter den Antirassisten genau die Anti-Antisemiten nicht als Gutmenschen beschimpft, warum auch immer. - Außerdem geht die Praxis, Roma keine Arbeit zu geben, über Verbalrassismus hinaus. Es gab auch schon eine Rüge der EU für die Lage der Roma, aber R. W. weiß es besser. Und wenn ab und an ein paar Zigeuner aus Rassismus erschlagen werden, dann ist das noch keine 'Pogromstimmung'. Wünsche, wohl zu ruhen.

Ja, es wär schön, Sie wachten als Rom auf, irgendwo in Tirgu Mures, neben anderen Roma, und würden sich dann notgedrungen mit diesen zusammen durchschlagen, vielleicht nach Deutschland, und dann im Görlitzer Park campieren. Und dann schriebe man

Ein Gemeinwesen kann nur erfolgreich bestehen, wenn die, die sich ihm angeschlossen haben, sich an die vereinbarten Spielregeln halten, also die Geschäftsgrundlage berücksichtigen. Die Roma, jene, von denen hier die Rede ist, sind Spieler, die die Regeln ignorieren. Sie konstituieren sich zur Gruppe, um damit ein Individualrecht zu erwerben, das ihnen als einzelnen Personen so nicht zustehen würde.

Das ist, kurz gesagt, die Statusfrage um die Roma aus Rumänien, die im Berliner Görlitzer Park kampierten und die auf jeden Fall in Berlin bleiben wollen. Viele Menschen möchten in Berlin bleiben. Und es ist in der Regel ja auch möglich. Und zwar für den Einzelnen, für die Person, nicht für die Gruppe.

Für den einzelnen Rumänen, der nicht gerade Arzt oder Ingenieur ist, allerdings nicht. Als Gruppe werden die Roma schikaniert, als einzelne sollen sie sich in ihren Ansprüchen verstehen - die ihnen sang- und klanglos verwehrt werden. Sich als Gruppe zu beschweren, wäre demnach ein Verstoß gegen Spielregeln. Geht's noch? ('Wir sind Juden aus Deutschland und möchten einwandern'. 'Aber nicht doch, Sie sind lauter Individuen, die leider-leider kein Visum bekommen können.' Diese wagnereske Antwort erhielten ja 1933-45 viele Juden, woran man ersieht, wie weit es mit der Logik des R. W. her ist. Die Roma Südosteuropas sind zwar heute keinen damit vergleichbaren Verfolgungen ausgesetzt, dennoch trifft sie Diskriminierung als Angehörige einer Gruppe.)



R. W. fühlt sich anscheinend wohl, wenn er, eine Mehrheit und die staatliche Praxis hinter sich, gegen eine Minderheit schreibt, die sich für eine Minderheit einsetzt. Ein Büttel.

Montag, 27. September 2010

Sarrazin doch erwähnen, II

In den Printmedien wechseln sich Unterstützung und Kritik von Sarrazins Thesen noch ab; in den Internetforen herrschen ein Meinungsbild und ein Diskussionsverhalten vor, die nicht als 'Mob' zu bezeichnen schwer fällt. Die von Sarrazin falsch erklärten und schlecht verstandenen statistischen Zusammenhängen bieten nun allen, die aus reinem Ressentiment gegen Türken oder Moslems sind. die Gelegenheit, zu behaupten "Aber es ist doch Fakt, dass...".

Selbstverständlich gibt es im Netz auch viele fundierte Kritiken mit jeweils wenigen Lesern - denn der praktizierende Rassist sucht ja Belege für das, was er ohnehin zu wissen glaubt, und liest nichts anderes. Wer an die Aufklärung glauben mag, der sieht in der Massenkommunikation vor allem den Sieg des lautesten Gebrülls. Die viel beschworene Vielfalt des Internets führt bei polemischen Fragen gerade nicht dazu, dass sich Wahrheiten durchsetzen. Es ist dennoch nicht richtig, Irrtümer und Gemeinheiten unkommentiert stehen zu lassen, auch wenn die Kommentare nichts bewirken. Das Geschäft des Geistes ist langsam, große Irrtümer gehen erst mit ihren Trägern unter. Solange eine Abwertung von eingewanderten Minderheiten nicht nur salonfähig, sondern üblich ist, werden auch Parteien diese Ressentiments bedienen. Ich hätte zwar gehofft, Deutschland hätte aus der Geschichte seiner u. a. rassistischen Verbrechen mehr gelernt, aber das war eine eitle Hoffnung. Es kann einen wirklich grausen vor den Debatten der Amazon-Kunden oder auch der FAZ-Leser. Wenn türkischstämmige Mitbürger die Zeitung aufschlagen oder im Internet lesen, bleibt ihnen nur der Schluss, sie seien hier 'nicht willkommen' - mögen sie auch hier geboren sein. Einige Kommentare sind auf den ersten Blick weniger rassistisch: 'Es gehe halt um Gruppen, die ökonomisch untragbar sein, ob nun deutsche Unterschichten oder türkische. Fakt sei...' Wer glaubt, dass diese Art der Abwertung und Pauschalisierung besser sei, irrt meines Erachtens. Es ist bei allem 'Fakt ist...' eine Hetze, die stets vergisst, dass, wer Probleme verursacht, meist auch welche hat. Wenn staatliches Handeln zur Lösung beider Arten von Problemen beitragen kann, umso besser. Es verstößt aber gegen die gute Sitte, wenn derlei im Modus der 'Maßnahme' gegen die missliebigen Gruppen aufgefasst wird, mit "Härte" (Merkel) oder "Strenge" (Gabriel). Gabriel zeigt in seinen Äußerungen die nun schon seit langem aktenkundige Charakterschwäche der SPD-Führung. Zwar wendet man sich gegen Sarrazin, will aber dann doch angesichts der Meinungsumfragen selbst einiges in dieser Richtung sagen, um nicht diejenigen SPD-Wähler zu brüskieren, die glauben, dass die Ausländer unser Unglück sind.

Diejenigen, die mit ihrem "Fakt ist..." auf die Türken/Muslime/etc. zeigen, haben die Bedeutung der statistischen Fakten ebensowenig verstanden wie Sarrazin. Dessen Fehlinterpretation der Größe 'heritability' (die auf 1. Unbildung, 2. mäßige Intelligenz, 3. bösen Willen, 4. Faulheit schließen lässt) habe ich bereits in einem früheren Beitrag skizzenhaft aufgezeigt. Eine genauere Analyse (von Volker Eichener) findet sich hier.
Eichener weist insbesondere auf ein weiteres "Faktum" hin: Unter guten ökonomischen und sozialen Bedingungen, die die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten erlauben, ist die Korrelation zwischen der Intelligenz der Eltern und der der Kinder viel größer als unter schlechten. Also kommt auch mit STATISTIK nichts anderes heraus, als der ANSTAND geboten hätte: Jedem die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen.

Und, weil man es nicht oft genug sagen kann:

Auch für Menschen, die ein statistisches Intelligenzmaß für eher dumm erklärt, muss es ein würdiges Leben geben können. Auch wäre ein anständige Dummer weit besser als ein kluger Böser. Die "Fakt ist..."-Kommentare im Internet sind sowohl merkwürdig dumm als auch böse. Denen ist mein türkischer Gemüsehändler in beiden Hinsichten über.


p.s. Der Kulturkampf gegen die deutschen Türken/Muslime wird an verschiedenen Fronten geführt. Der Jurist Karl Doehring schrieb vor wenigen Tagen in der FAZ, der Islam sei nun einmal nicht grundgesetzkonform, deswegen gehöre auch kein Islamunterricht an die Schulen. (Nicht grundgesetzkonformen Auslegungen des Christentums bin ich auch schon begegnet.) Es geht Doehring nicht um Straftaten, denn um die kümmert sich die Justiz ohnehin, sondern um den Geist des Grundgesetzes, dem der 'Islam' widerspreche. Doehring ist damit weit weg vom liberalen Rechtsstaat und recht nah an Carl Schmitt. Die Debatten zeigen zum Beispiel, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung - darunter auch Christen - in Fragen der Gleichbehandlung nicht dem "Geist des Grundgesetzes" entspricht. Solange sie aber keine Straftaten begehen, dürfen sie das eben. Man kann die Händer über'm Kopf zusammenschlagen, aber mehr nicht.

Patrick Bahners hat kürzlich in der FAZ das neueste Buch Alice Schwarzers kommentiert, in dem diese im Namen des Feminismus gegen den Islam mobil macht, Sarkozys 'Härte' lobt und sich in siegreichem Gestus endgültig vom Minderheitenschutz verabschiedet. Bahners' lesenswerter Kommentar findet sich hier. (Bahners lässt inmitten von so viel Getöse hoffen, dass Toleranz und Humanismus dem Bildungsbürgertum noch nicht völlig abhanden gekommen sind.)

Dienstag, 31. August 2010

Entrüsten sei schlecht, so manche

Natürlich geht es mit dem Entrüsten manchmal allzu leicht. Und es ist auch nicht recht, sich über einzelne Wörter aufzuregen, die jemand gesagt hat.

Bei Sarrazin ist es aber nicht diese oder jene Vokabel, sondern der Inhalt seiner Reden, über die sich jeder, der beispielsweise das Grundgesetz ernst nimmt, aufregen sollte. Genetische Einflüsse auf dieses oder jenes sind ein interessanter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, können aber nicht Grundlage eines politischen 'Controllings' sein, denn dann würden Träger verschiedener Gene verschieden 'behandelt'. Ebenso können Sozialarbeiter und Soziologen sich den Kopf darüber zerbrechen, welche Einflüsse welche Verhaltensweisen begünstigen, und welche Rolle dabei die Religion spielt, selbstverständlich! Oder es findet eine Debatte zwischen allen möglichen Leuten über alle möglichen Religionen statt. Klar doch!

Aber eine steile These 'über den Islam', die diesem negative wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen anlastet, ist doch kein sinnvoller Teil einer solchen Debatte! Und das merkt auch jeder, wenn man 'Islam' durch 'Judentum' substituiert. Vorher allerdings merken es Millionen nicht. (Zur Sensibilisierung der Wahrnehmung ist anscheinend ein spezifischer Massenmord erforderlich.) Mir sind übrigens alle Religionen suspekt, da ich fest überzeugt bin, dass es zwischen Himmel und Erde nichts gibt außer uns und der Natur. Der Sinn religiöser Toleranzgebote ist ja eben nicht, dass man die jeweiligen religiösen Lehren 'irgendwie gut' finden müsse, sondern die Anerkennung der Tatsache, dass den Religiösen ihre Religion so wichtig ist, dass eine Schmähung dieser jene erheblich beeinträchtigen würde. Und diese Toleranz ist ja gerade deshalb eine Leistung, weil uns die anderen Religionen (bzw. guten Atheisten alle Religionen) nicht passen.

Das heißt nun nicht, nicht für Rechte von Frauen, vernünftige Erziehung von Kindern usw. zu streiten. Wenn man die 'Religionen' nicht als Objekte wahrnimmt, ist doch klar, dass die Religiösen wie alle anderen gelegentlich in den Debatten dazulernen. Über den Islam wird so gern geschimpft. Sind Sie gelegentlich mal den Erziehungsvorstellungen christlicher Freikirchen begegnet, die man in den mittelhessischen Hügeln gern auch die 'Rock-Zopfs' nennt? Es handelt sich keineswegs um eine so kleine Gruppe, dass sie vernachlässigbar wäre, aber noch nicht ein einziges Mal hat einer von den Islam-als-antimodern-Beschimpfern diese Freikirchen mitgenannt, das lässt vermuten, dass es mehr Rassismus in diesen Reden gibt, als jemals einer zugibt. Richtig ist, weder 'über' die einen, noch 'über' die anderen zu schimpfen, aber sich gern mit so vielen Individuen, wie einem über den Weg laufen, zu streiten.

Das gesellschaftliche Reden 'über' ist aber die Vorstufe der 'Maßnahme'. Derlei lässt doch den Anstand vermissen. Über Unanständiges sich zu entrüsten gebietet der Anstand, ganz einfach. Anstand!

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Andererseits ließ Platzeck verlauten, die Wiedervereinigung sei ein 'Anschluss' gewesen. Da nun gibt es auch Entrüstung, diese aber gänzlich verlogen. Niemand wird mit dieser Äußerung geschmäht, allenfalls kann sich einer über das Wort 'Anschluss' und mögliche Konnotationen aufregen. Der Sache nach (Verfassung, Wirtschaft, etc.) entspricht seine Äußerung der Wahrheit. Und dass auf einen Schlag die meisten DDR-Bürger arbeitslos wurden und viele es blieben, stimmt auch. Gerade DDR-Oppositionelle wollten nicht eine abstrakte Wiedervereinigung sondern ein konkretes zugleich freieres und besseres Leben für die DDR-Bürger. Viele hatten aber dann kein gutes Leben, viele Landstriche sind buchstäblich verödet, und das war die absehbare Folge einer sehr schnellen Wirschafts- und Währungsunion, auch wenn keiner sich anzumaßen braucht, sicher zu wissen, wie's besser ging.

Hier also ist die Entrüstung nur ein 'Mia-san-mia' derer, die sich einen Dreck um das Unglück vieler ehemaliger DDR-Bürger scherten, solange nur der Kommunismus tot war.

Montag, 30. August 2010

Sarrazin doch erwähnen, Teil I

Was hilft's, die Debatte um Sarrazin wird ohnehin immer lauter, auch wenn der eine oder es vorzieht, nicht von ihm zu reden. Ich will einige Sätze dokumentieren, die dabei gesagt wurden, von Sarrazin selbst und von anderen. Es könnte einmal gut sein, darauf verweisen zu können.

Sarrazin, Interview FAZ, 20. August 2010

Es ist ja völlig unstreitig, dass Intelligenz zu fünfzig bis achtzig Prozent erblich ist.

Nein, ist es beim besten Willen nicht. Es ist noch nicht einmal unstrittig, was dieser Satz überhaupt bedeutet. Nun muss ja nicht jeder, der eine Meinung äußert, klug sein, und noch weniger muss er ein Wissenschaftler sein. Wer nun aber "völlig unstreitig" sagt, nimmt den Mund gewaltig voll und setzt damit die Latte, nach der man seine Äußerung misst, hoch. - Jeder Übersichtsartikel zeigt zunächst, dass diese Aussage modellabhängig und damit umstritten ist (1. Fehler, siehe etwa Devlin, Daniels, Roeder, Nature 1997) . Lediglich für gewisse 'Intelligenzmaße' bestehen halbwegs übereinstimmende Aussagen über den Wert der statistischen Größe 'heritability'. Nehmen wir zu Analysezwecken ruhig an, dieser Punkt wäre nicht strittig, und die 'heritability eines gewissen IQ wäre 0.66'. Was bedeutet diese Größe nun aber? Offenbar hat Sarrazin das nicht verstanden, wenn er sagt "... ist zu soundsoviel Prozent erblich" (2. Fehler). Man komme mir jetzt nicht mit Einwänden a la "Wir sin hier nich im Seminar!", als wäre das akademische Beckmesserei. 'Heritability' ist eine Größe, die außerhalb der akademischen Statistik nicht vorkommt; will man sie außerhalb dieses Kontexts verwenden, muss man sich vorsichtige Mühe geben. Dickens und Flynn (2001) haben ein Modell vorgestellt, in dem Umwelteinflüsse die Intelligenz erheblich beeinflussen und umgekehrt die Intelligenz einen Einfluss auf die Umwelt hat. Dieses Modell beschreibt Situationen, in denen eine hohe 'heritability' eines Intelligenzmaßes nachweisbar ist, in denen aber dennoch der Einfluss der Umwelt auf die Intelligenz wesentlich größer ist als von anderen (Jensen; Herrnstein und Murray) behauptet. Jensens Modell scheitert darin, zu erklären, wie in allen Industrieländern ohne nennenswerte genetische Veränderung der durchschnittliche IQ (nach einer gewissen Definition) in den letzten 50 Jahren um 10 bis zwanzig Punkte wachsen konnte. Die Interpretation von Dickens und Flynn kann jedoch diese Veränderung und Jensens 'heritability' erklären. Sarrazins Formulierung schließt diese Interpretation geradezu aus und ist damit kein lässlicher Fehler. Sie ist auch keine als solche gekennzeichnete weiter nicht begründbare Meinung, sondern kommt als ein vermeintliches Faktum daher ('unstreitig'), sicher eine der übelsten und gefährlichsten Formen der Meinungsmache. Denn wer könnte einem Faktum widersprechen?



In der selben Ausgabe der FAZ vermerkt Necla Kelek

Die von Sarrazin aufgezeigte Wechselbeziehung von Intelligenz und Demographie wird als biologistisch diffamiert. Dabei scheint schon der gesunde Menschenverstand nahezulegen, dass Ethnien wie zum Beispiel die Völker Anatoliens oder Ägyptens, die über Jahrhunderte von den Osmanen daran gehindert wurden, Lesen und Schreiben zu lernen, bei denen noch heute Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen, andere Talente vererbt haben, als die Söhne von Johann Sebastian Bach und dass es auch bei der Intelligenz so etwas wie eine Gaußsche Normalverteilung gibt.

Der gesunde Menschenverstand, mit Verlaub, sagt gar nichts zur Populationsgenetik. Die beruht nämlich auf komplexen statistischen Modellen, die selbst dann unübersichtlich sind, wenn sie sich auf relativ simple Tierarten und überschaubar viele Faktoren beziehen. Es gibt vielleicht keinen Bereich wissenschaftlicher Modellierung, in dem der gesunde Menschenverstand so fehl am Platze ist, wie hier. (Es sei nur, unter anderem, auf die Einschätzung zufälliger genetischer Drift durch M. Kimura "The neutral theory of molecular evolution" hingewiesen.) Weiter ist die Annahme, dass Intelligenz sich etwa für anatolische Bauern nicht lohne, arg weltfremd. Die dümmsten Bauern ernten nämlich keineswegs die größten Kartoffeln. Intelligenz erschöpft sich ja keineswegs im Lesen und Schreiben. Umgekehrt ist das Schreiben dummer Sätze noch kein Zeichen erhöhter Intelligenz: Weil die politischen Umstände in Anatolien anders waren, hätte man dort andere Talente vererbt als Johann Sebastian Bach? Begnadete anatolische Musiker hätten also nicht etwa ihr Talent vererbt? Bei allem, was man über Anatolien sagen mag, wird niemand Anatolien eine lebendige, eigenständige Musikkultur absprechen können. Keleks Satz ist dumm, aber aufschlussreich. Für den Halbgedanken, den er ausdrückt, war die Erwähnung Bachs geradezu schädlich. "Johann Sebastian Bach" ist aber eine Prunkvokabel, und darauf kam's anscheinend an. (Komplex?)


Und weiter Kelek:
Fast jeder kann ein Handy benutzen, aber die dahinterstehende Technik, das sind eben über fünfhundert Jahre kumulierte europäische Geistesgeschichte und naturwissenschaftliche Forschung. Sarrazin sagt nicht, dass der Einzelne diese Entwicklung nicht nachvollziehen kann, sonder ist hier der Volkswirtschaftler, der kühl Kennzahlen bewertet. Er bezieht sich auf die amerikanischen Forscher Herrnstein und Murray und schreibt "Die Erkenntnis, dass Intelligenz zum Teil erblich ist, verträgt sich nur schwer mit Gleichheitsvorstellungen, nach denen Ursachen von Ungleichheit zwischen den Menschen möglichst weitgehend in den sozialen und politischen Verhältnissen zu suchen sind."

Herrnsteins und Murrays Studie, derzufolge die Intelligenz das Einkommen zu weiten Teilen determiniert, ist ebenfalls sehr strittig (siehe auch oben). Kelek stört es aber nickt, weil es gegen ihren Hauptfeind geht, den Islam. Und 'kühl' geht es weder bei ihr noch bei Sarrazin zu. Wer es kühl und sachlich wollte, hätte sein Buch auch kaum 'Deutschland schafft sich ab' getauft.


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Das hat man jetzt davon, damals die Hugenotten einwandern zu lassen.

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Und was folgt daraus, wenn manche 'von Geburt an dümmer', andere 'klüger' wären? Zuchtwahl? Das kommt ja in letzter Zeit immer mal wieder 'aus der Mitte der Gesellschaft'. Die gebildete Mittelschicht möge doch bitte mehr, die Einwanderer doch bitte wenige Kinder kriegen. Grausig, grausig, meine Herren. Sollen doch die Klugen dem Führer ein Kind schenken, die anderen werden sterilisiert? Sarrazins Äußerungen sind nicht nur intellektuell dumm, sondern auch moralisch dumm, daran besteht kein Zweifel. Da mögen sie alle seinen Mut loben. Mutig ist jede Hetzschrift in einem gewissen Sinn.

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Wahrscheinlich ist, dass es Sarrazin diesmal 'erwischt'. Man ließ ihm alles durchgehen, aber der Satz vom 'Gen der Juden' war einer zuviel (Er meint wohl den so genannten Cohen-Haplotyp, über den noch einiges zu sagen wäre.) Im Grunde kann's mir wurscht sein, worüber er strauchelt, ist ja alles ähnlich blöde. Er hat schon viele Sätze gesagt, die ihm zumindest einen SPD-Ausschluss hätten bescheren sollen. Nämlich keine 'Meinungen', sondern pseudo-objektive Sätze über und gegen ganze Gruppen, bar jeder Solidarität, die ja auf dem Etikett der Mogelpackung Sozialdemokratie groß geschrieben steht.


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Wichtiger Nachtrag: Ist Ihnen wohl aufgefallen, inwiefern diese Reaktion auf Sarrazin und Kelek auch Symptom derselben Krankheit ist, an der die beiden leiden? -- Die Krankheit ist eine Überschätzung der Intelligenz. Es ist zwar schön, zu zeigen, dass Sarrazin an den mit Intelligenzgeschwätz gesetzten Maßstäben bravourös scheitert. Aber das macht diese Maßstäbe noch längst nicht richtig. Selten kommt es vor, dass mir ein Kommentar im Tagesspiegel zitierenswert scheint; heute schon: Robert Leicht schreibt dort "Welche Institution ist den Nazis am schnellsten um den Hals gefallen? Die deutsche Universität! [...] Mir ist der schlichte Volksschüler und Schreiner Georg Elser, der 1939 schon erkannte, dass man versuchen müsse, den Unheilsbringer umzubringen, abertausendmal wertvoller als der promovierte Volljurist Werner Best, der seinen Scharfsinn der Gestapo und der SS zur Verfügung stellte - und danach dem erfolgreichen Versuch, bis zu seinem Tod 1989 jedem Strafurteil zu entgehen." Franchement, mir ist der Elser auch lieber. "Dass der schlichte Anstand wichtiger ist als selbst der schärfste Verstand - diese Einsicht kann man bei einfachen Gemütern oft plastischer ausgeprägt finden als bei manchen - im wahrsten Sinne des Wortes - Intelligenzbestien."

Obwohl ich Sarrazin einige Dummheiten nachweisen kann, besteht er möglicherweise eine bestimmte Form des Intelligenztests mit guten Ergebnissen. Beweist sein Erfolg nicht seine Intelligenz? Sarrazin scheint in der Intelligenz in erster Linie einen 'Standortfaktor' zu sehen, und verachtet alle, die nicht genug zum Bruttoinlandsprodukt beitragen. Gut also sind Ingenieure, die Waffen entwerfen, oder Manager, die die Löhne drücken; schlecht aber der Arbeitslose, der mit seinen Freunden einen trinkt und Witze reißt? Nee, nee. Das Gute ist eben auch das Böse, was man lässt, drum soll man sich hüten, auf all die Taugenichtse herabzusehen. Sarrazin, der alte Taugeviel, könnte in Punkto "leben und leben lassen" von meinen Arbeitslosen in der Nordneuköllner Bäckerei so manches lernen.

Es sollte klar sein, dass Intelligenz ambivalent ist, insofern sie ein Instrument zur Erreichung von Zielen ist, seien es gute oder schlechte. Vernunft beurteilt die Ziele. Mit intelligenten Leuten kann man einen funktionierenden Staat, aber auch ein Super-KZ bauen.

Freitag, 27. August 2010

Die Crux, S. nicht zu erwähnen

Ich will nämlich S. nicht erwähnen, einen bekennenden Rassisten, der nach jeder seiner Einlassungen in einer ersten Welle Kritik, in einer zweiten dagegen Unterstützung zu hören bekommt, stets nach dem gleichen Muster. Man könnte gut die alten Artikel dazu wiederverwenden.
Ich will seinen Namen nicht erwähnen, weil ich dazu beitragen könnte, dass Google alles ihn Betreffende höher bewertet. Ich will nicht zur Steigerung der Auflage seines Buches beitragen. Er soll seine Meinung ruhig sagen, aber schön, wo sich's gehört, in schäbigen Räumen, die die örtliche NPD anmietet, nicht im Haus der Kulturen der Welt. Das ganze Gift befruchtet doch keine Debatten, wo denken sie hin! Mit solchen Büchern kann man Geld verdienen. ('Es lohnt sich allemal mehr, eine peppige Hetzschrift auf den Markt zu werfen als einen Gemüseladen zu eröffnen.')


Worum geht es der zweiten Welle, der Kritikenkritik? 'Er sage ja nur, was viele dächten; er spreche Probleme an, die nun einmal bestünden.' Dass er aber von genetisch bestimmter Dummheit gewisser Einwanderergruppen spricht oder die Gefahr ihrer übergroßen Vermehrung beschwört, ganz unappetitliches Zeug also, wird in der zweiten Welle ignoriert. Man muss den Wortlaut ja auch ignorieren, wenn man den Mann schönreden will. Warum aber will man ihn schön reden?

Weil dieser Rassismus, wenn es gegen Türken und Araber geht, in der Mitte der Gesellschaft, gern auch bei dem für aufgeklärt sich haltenden Bildungsbürgertum populär ist. Beliebt auch pseudoaufklärerische Begründungen 'Der Moslem ist gegen die Frau, also bin ich gegen den Moslem.' Aus dem Nationalsozialismus haben wir demnach gelernt, dass wir gegen alle sein dürfen, die uns nicht passen. Roma, die immer mal wieder gerne mit kriminalbiologischen Thesen bedacht werden, in das Niemandsland Kosovo ausweisen? Kein Problem. Die Gefahr des Islam beschwören? Von 'Unterschichten' reden und diese verachten? Klar. Die Türken für dumm und Gemüsehändler für nutzlos erklären? Selbstverständlich.

Aber wir sind ja alle gegen Neonazis. Und wir würden auch nie mehr die Juden Europas ermorden, selbst wenn sie uns ließen.

Es wird auch gelegentlich so getan, als habe sich der moderne Antisemitismus nur aus dem Neid aufs jüdische Bürgertum gespeist. Was war aber mit den bettelarmen polnischen Juden, die, wenn sie nach Deutschland ausgewandert waren, allenfalls kleine Lädchen eröffneten, und ansonsten einen fremdartigen und altmodischen Eindruck machten? Gegen diese armen Juden, ihre Lädchen, ihre religiösen Gebräuche und ihre Kleider zu hetzen gehörte gerade so zum Antisemitismus wie die Angriffe auf Kaufhausbesitzer oder Politiker. Und dieser Teil der damaligen Hetze erinnert leider-leider an manches Heutige. Was haben sie nicht alles Wolfgang Benz an den Kopf geworden, weil der Antisemitismus-Forscher sich über die Islam-Feindschaft Sorgen machte, nicht weil er leichtfertig und großmäulig X und Y gleichsetzt, sondern weil ein an einem Hass und dessen katastrophalen Folgen geschultes Bewusstsein zwangsläufig auch bei anderen Formen des Hasses hellhörig wird. Und manchmal mag eben ein Wissenschaftler hoffen, nicht nur wie die Eule der Minerva, wenn alles vorbei ist, über die Gräber zu fliegen, sondern vorher noch etwas zu ändern.

Ein Freund hat kürzlich mit einem Araber geredet, der sich erst gewissermaßen entschuldigt hat, dass er ein Moslem sei. Nicht dass Sie mich jetzt für einen solchen Menschen halten, wie man ihn hier nicht gebrauchen kann.

Samstag, 3. Juli 2010

Über Zimmermädchen und Knopflöcher; grüne und schwarze Stereotypenverbreiter, dummes Deutsch, ausgestorbene Fische, Schwitzen, Kratzen, stinkendes Geld, Partizipien und Arroganz

Der neue Trend der Bio-Küche im Traum:

PASTINAKEN UND RAUPEN.


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In Hamburg wurde bei einer Schlägerei ein Polizist schwer verletzt. Die Polizei sprach zunächst von einer 'Falle', die den Polizisten gestellt worden sei. Auf inzwischen aufgetauchten Videoaufnahmen sieht man einen Polizisten, der einen am Boden Liegenden schlägt; danach wohl erst scheint die Schlägerei ausgebrochen zu sein, was der Darstellung einer 'Falle' widerspricht. (Erinnert auch an die Demonstration vor einigen Wochen in Berlin, bei der die Polizei von einer Splitterbombe sprach, bis klar wurde, dass es sich um einen gewöhnlichen Feuerwerkskörper, vulgo Kracher, handelte. Den Kracher heiße ich keineswegs gut, ebensowenig aber eine Polizei, die sich offenbar bemüht, die andere Seite möglichst stark zu kriminalisieren.)

Wie auch immer, Joachim Lenders (CDU) nannte die festgenommenen Bewohner des Stadtteils Neuwiedenthal "Abschaum", bzw. "Unterschicht". Der grüne Justizsenator Steffen weist dagegen auf das Problem des "Machismo" oder eines falschen "Männlichkeitsverständnisses" hin, das nach kriminologischen Studien besonders bei Muslimen ein Problem sei, die allerdings anderseits seit 9/11 auch eine deutliche Diskriminierung von Seiten der deutschen Bevölkerung "empfänden". Die Studien von Pfeiffer, Wetzel et al., die er wohl gemeint hat, verwenden in der Tat den Faktor "Männlichkeitsvorstellungen", um den Unterschied in der Gewaltkriminalität, der nach der Berücksichtigung ökonomischer und sozialer Faktoren noch zwischen Gruppen verschiedenere Herkunft besteht, zu erklären. Steffens Äußerungen legen allerdings andere Schlüsse nahe als die vollständigen Studien. Darin wird nämlich der größere Teil der Unterschiede ökonomisch und sozial erklärt, dann erst kommt der Faktor "überzogene Männlichkeitsvorstellungen" zum Tragen, der bei Türken und Russlanddeutschen besonders hoch ist, dann kommen andere Gruppen. 'Vor allem Muslime' ist also wieder eine kaum zu rechtfertigende Lesart der Studien, weil zu
wenig spezifisch. Es hätte übrigens nichts geschadet, zu sagen, dass die Muslime Diskriminierung "erfahren", nicht bloß "empfinden".

NACHTRAG UND KORREKTUR: Eine ganz neue Studie von Pfeiffer et al. (KFN), die mir noch nicht bekannt war, untersucht in der Tat auch explizit den Einfluss der Religion auf die Deliquenz, neben anderen Faktoren. Die Studie ist über 300 Seiten lang, und ich habe soeben nur einen Abschnitt überflogen. Auch diese neue Studie ist sehr sorgfältig und ist sich in hohem Maß der Schwierigkeiten bei der Interpretation statistischer Korrelationen bewusst, wie ich nach erstem Überfliegen sagen kann. Sie stellt gewisse Zusammenhänge zwischen Religion, dem Grad ihrer Ausübung und gewissen Formen von Kriminalität fest. Es steht aber auch in dieser Studie nicht das, was Steffen gesagt hat, sondern z. B. findet sich:

"Für islamische Jugendliche zeigt sich im Ausgangsmodell ein zu den christlichen und 'anderen' Jugendlichen entgegengesetzter Effekt: Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an. Da dieser Zusammenhang aber als nicht signifikant [Hervorhebung von mir] ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang (und damit auch nicht von einem Gewalt reduzierenden Zusammenhang) zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen. "

Anschließend wird ein Zusammenhang zwischen "Islam" und "Männlichkeitsvorstellungen" untersucht, der zu einem gewissen Maße zu bestehen scheint. Was oben über soziale und wirtschaftliche Faktoren gesagt wurde, gilt übrigens. Der Faktor "Hauptschule" etwa hat ein besonders hohes Gewicht im Modell. Und alle diese Abhängigkeiten sagen nichts über Kausalität aus, sondern sind der Ausgangspunkt weiterer Fragen und Untersuchungen. (Entdecken Jugendliche mit Problemen den Islam für sich oder generiert der Islam oder die Form seiner Ausübung Probleme?... Wer die Antwort vorwegnehmen zu können glaubt, ist ein Scharfmacher.) Die Studie geht vorbildlich mit ihren Resultaten um, sie stellt Fragen. Eine aus dem Zusammenhang gerissene Verkürzung erweist allen Beteiligten einen Bärendienst.

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Jetzt schreiben's also alle: "die Gauchos". Gemeint sind die argentinischen Fußballer (kein einziger Gaucho darunter). Irgendwer wählte das Wort, weil es so nahe liegt oder weil
es ihm trotzdem originell schien, andere übernahmen es, möglicherweise ironisch.

Die Gauchos

Was sind denn die Deutschen?

Würste
Kartoffeln
Panzer
Lederhosen
Nazis
Polizisten
Dichter
Denker
Bürokraten

Und richtig war ja beispielsweise gelegentlich schon von den 'Panzern' zu lesen ('I panzer arrivano').

Vielleicht sollte man die Argentinier Argentinier nennen und auf Gnade bei der Bennenung der Deutschen bauen?

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Im Radio gehört "Langzeitarbeitslose in Brandenburg sollen künftig schneller zurück in den Arbeitsmarkt gelangen"

sollen

gelangen

In Brandenburg gibt es eben, wie soll ich es ihnen erklären, wenig anderes als Seen, Kranichbrutplätze, die letzten Refugien der Großtrappe, viel Platz für
Truppenübungsplätze, aber außer der Verwaltung in Potsdam recht wenig "Arbeitsmarkt", in den irgendwer zurückkehren könnte. (Der Unterschied zwischen Sollen und Sein.)

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Vor der Bundespräsidenten-Wahl:

Westerwelle sagte, Wulff wisse, "welche geistige Achse dieses Land braucht."

GEISTIGE ACHSE. (Hitler-Mussolini, bloß geistig?)

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Und sie sagt: "Mich juckts!"

Eine Dame wird's doch nicht jucken, denke ich. Aber natürlich juckt's Damen, Herren, Greise, Kinder, Arbeiter, Professoren und die Herzogin von Alba.

Allein eine Dame kratzt sich nicht in der Öffentlichkeit. Eine Ergänzung zum sichtbaren Sittenbild der feinen Gesellschaft wäre das unsichtbare Jucken, das ohne Regung auszuhalten von dieser für eine besondere Tugend angesehen wird.

Die Erziehung steckt tief, eklig und unfein schiene es mir, mich in der Öffentlichkeit zu kratzen. Geschehen ist es mir allerdings in unbewachten Momenten.

Interessant ist, was alles nicht als unfein gilt:
Pauschalisierend über Minderheiten herfallen, die es ohnehin täglich abkriegen (Sarrazin; Lenders, s. o.) geht beispielsweise als "Schneid" durch.

In Warhheit ist ein Sarrazin in sittlicher Hinsichtwie einer, der sich am Sack kratzt und anschließend, nachdem er an den Fingernägeln gerochen hat, in die Hand schneuzt. So.

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Die Langkiefer-Maräne (Coregonus alpenae) wurde zum letzten Mal 1975 gefangen.

So starb "ein beliebter Speisefisch" aus.


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Die Geschichtsbücher sind voll von Kriegen, die um Macht oder Bodenschätze geführt wurden, auch wenn kaum einer jemals ohne idealistische Glasur
ausgekommen ist. Verteidigung, Präventivschlag, Reaktion auf Provokation, "Wir treten für die Rechte der schwäbischen Minderheit in Tadschikistan ein."

Von den Gründen aber, die "wir" heute angeben, soll sich jeder die Augen zukleistern lassen. Menschenrechte also, oder Frauenrechte. Die Taliban-Regierung, mit der der von "uns" angefachte afghanische Bürgerkrieg nach zig Jahren endete, war nicht nach unserem Geschmack. Die regieren sich nicht so, wie wir das täten, allerhand! Es gehört ja zum Schwersten, einzusehen, dass andere Leute anders sein dürfen. Nein, das ist kein Kulturrelativismus, sondern ein Friedensgebot.

Selbstverständlich können wir jeden Tag sagen und schreiben, dass uns die Gesetze bezüglich des Aufschlagens der Eier widerwärtig und rückständig vorkommen. Aber Krieg?

Der ganze Hochmut und Irrsinn der neuen "humanitären" Kriege lässt sich ja auch daran sehen, dass die von uns Beschützten selten jubeln. Aber der klebrigste aller Kleister ist unser Moralpopanz: Die anderen sind die Nazis. Haben zwar weder KZs, noch die größte Armee der Welt, noch grob rassistische Gesetze, aber wir verstehen die Kunst der Nazignosie: Da ist der Nazi und wir sind die Guten. Ob das in den Geschichtsbüchern mal einen Namen bekommt?

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"Ich bin ein Tölpel, aber einer mit Geld."

Die idealistische Glasur der Verhältnisse sieht stets vor, dass die Herrschaft zwar durch Geld und Gewalt ausgeübt wird, aber von Leuten, die sich druch irgendwelche Tugenden empfehlen. Sie seien die ersten im idealistischen Wertesystem, das daher nicht im Widerspruch zur realen Herrschaft des Geldes stehe.

Die Glasur ist dünn: Nicht wenige reiche Tölpel, Deppen und Schufte herrschen.

Wären Sie lieber ein Tölpel, Schuft und Depp mit Geld, oder eine guter, kluger und anmutiger Mensch ohne?

Die Antwort, die man idealiter gibt, hat wenig Einfluss darauf, ob man realiter anders lebt.

Ein Tölpel, ohne davon zu wissen, unbewusster Schuft, damit subjektiv gut und schön, dazu noch Geld, wie wär's? Stört es eigentlich, so oder so zu sein, oder stört nur ein unschönes Bild von sich selbst? Letzteres lässt sich richten, zumindest wenn man unter seinesgleichen lebt.

Ob allerdings aller Schein wie für Iwan Iljitsch in der Stunde des Todes zerfallen mag, oder ob man friedlich hinwegdämmert, und ob diese letzte Stunde überhaupt von Belang ist, darüber habe ich wechselnde und unklare Meinungen.



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Lea Rosh verlangte unter den Tomaten eines türkischen Gemüsehändlers "die gut Schmeckenden" und mockierte sich anschließend, dass der sich nicht verstand.

Lea Rosh testet Partizipien an Ausländern, sieh an! Leider klingt Roshs Formulierung präziös und falsch. Von der braucht gewiss kein Türke Deutsch zu lernen.

An das letzte Mal, dass ich von einem Berliner ein Partizip Präsens Aktiv gehört habe, kann ich mich nicht erinnern.

Dabei mag ich Partizipien, wo sie hingehören, sehr, im Reich der Gelehrsamkeit nämlich. Das aber ist jemandem, der diesen Unterschied nicht sieht, vermutlich auch verschlossen. (Kleines Detail: In Berlin ist das Schulfach Latein wohl deshalb im Aufschwung, weil es unter den türkischen Schülern beliebt ist. Die Kenntnis des agglutinierenden Türkischen und des  flektierenden Deutschen macht sie wohl besonders empfänglich für des Lateinischen Reize. Und demnächst probiert so ein türkisches Gemüsehändlerskind ein Partizip Futur Aktiv - eines der schönsten - an der Rosh aus.)


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"Weil unser System Korrekturmechanismen kennt, bedarf es keiner grundsätzlichen Korrektur."

Auf diesen zentralen Unsinn kann man die Selbstgefälligkeit unserer Demokratie zurückführen. Welche Demokratien es noch geben kann, hat sie sich zu fragen aufgehört. Das selbstgefällige Abnicken unseres Systems als des Bestmöglichen ist üblich; wer sich ihm nicht anschließt ist ein Spinner oder ein 'Feind der Freiheit.'


Eine so gründliche Erstarrung hat kaum Vorläufer. Vielleicht war zuletzt die römische Kaiserzeit so bombenfest davon überzeugt, vollkommen zu sein. (Unter Domitian dann schon nicht mehr.) - Eine katastrophale Regierung wird in einer Demokratie erkannt, aber dann heißt es: Das ist ja eben die Vollkommenheit unseres Systems, diese katastrophale Regierung abwählen zu können! Popper und so! - Die immer wieder gewählten katastrophalen Regierungen sprechen nicht gegen das System, während wir Domitians Regierung durchaus als Argument gegen erbliches Kaisertum gelten ließen.

"Weil unser System Korrekturmechanismen kennt, bedarf es keiner grundsätzlichen Korrektur", tja.

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Geld stinkt nicht,
ach wenn's doch, je nach Herkunft,
stänke, röche, müffelte!

Keiner würde Geld aus Waffenhandel nehmen,
nicht abzuwaschen der Geruch, auch nicht
von den Fingern, die es hielten.

Aber es stinkt ja nicht. Geruchlos, stumm und unsichtbar fließt es hin und her. Wenn der Vatikan etwa zufällig Anteile von Heckler und Koch besäße, würde sich niemand mehr wundern. Unschuldig wäre das schuldig verdiente. Sieh, wie gut das christliche Waisenhaus den Waisen ist, deren Väter und Mütter von den Schnellfeuergewehren von Heckler und Koch zerrissen wurden!
Welch wunderbare Kreisläufe. Wie doch der Unrat Blüten treibt, die sogar duften, oh heiliger Markt!

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Frage: Wann hat sich die Fachvokabel "Alleinstellungsmerkmal" in der Politik verbreitet?

(Und warum sagt man das? Leicht aufgeblasener Hinweis darauf, was studiert zu haben?)


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Es ist sehr heiß, immerhin geht ein bisschen Wind.


Es ist, wie gesagt, heiß. Heiß war es auch bei einem Interview mit Martin Mosebach,
währenddessen dieser die Anzugsjacke anbehielt. Respekt! Der mit einer erstarrten äußerlichen Auffassung begabte Interviewer nahm ihm die Jacke als Zeichen von Bürgertum bewundernd ab.

Als wär's lobenswert, die Jacke nicht auszuziehen, wenn man schwitzt, denke ich schwitzend. Die Abhandlung "Das Schwitzen als bürgerliche Tugend par excellence" muss noch geschrieben
werden.

Das Bürgertum der "bürgerlichen Epoche" gibt's nicht mehr (im Guten wie im Schlechten). Wer trotzdem auf Bürger macht, muss als Parvenu erscheinen und ist mitunter einer.

Freitag, 2. Juli 2010

Bürger Seibt für Bürger Gauck

Gustav Seibt schreibt häufig Kommentare, die im guten Sinn als bürgerlich zu bezeichnen wären, wenn denn Distanz, Humanismus und gute Manieren bürgerliche Tugenden sind. Die Kehrseite des Bürgerlichen, ein beschränkter und ressentimenthaltiger Klassenstandpunkt, kommt leider auch zuweilen vor:

Zum Verhalten der Links-Partei bei der Wahl des Bundespräsidenten schreibt er (in der SZ vom 1. 7. 2010)

Das parteipolitische Kalkül, das hinter der Nominierung von Joachim Gauck fürs Amt des Bundespräsidenten natürlich stand, ist in glänzender Weise aufgegangen, und zwar in beide Richtungen: Die Einheit im Regierungslager wurde durch das brillante Manöver von Grünen und Sozialdemokraten nachdrücklich in Gefahr gebracht; und die Linkspartei wurde für die Augen jedenfalls der urbaneren Teile der gesamtdeutschen Gesellschaft ihrer konzeptionellen Nichtigkeit überführt.

sowie

Diesen Eindruck hat Gregor Gysi durch seinen denkwürdigen Auftritt am Mittwoch vor dem dritten Wahlgang im Reichstag befestigt, als er den grünen Abgeordneten Werner Schulz, einen DDR-Bürgerrechtler, der sich einen kritischen Einwurf zur Enthaltung der Linken erlaubt hatte, vor laufenden Kameras auf eine so autoritär höhnende Weise abfertigte, dass die ohnehin locker sitzende Maske demagogisch plappernder Bonhomie minutenlang abfiel.


Wenn Sie sich aber eine Videoaufname der Pressekonferenz ansehen, werden Sie einen recht höhnischen Herrn Schulz und einen eher ironischen Herrn Gysi hören. Außerdem scheint sich der bürgerliche Kompass Seibts dahingehend umgepolt zu haben, dass es auf einmal recht und fein und höflich ist, jemandem ins Wort zu fallen, dagegen ein Affront, darauf hinzuweisen, dass in einer Pressekonferenz nun einmal der rede, der sie gebe, und nicht ein anderer. Und zwar ein Politiker einer anderen Partei, der recht offenbar Punkte machen will.

Kurzum, hier hat leider ein Ressentiment die ansonsten ganz verlässliche Urteilskraft getrübt. Schwamm drüber, aber 's ist schon ein ziemlicher Stuss, was Sie da geschrieben haben. Sehen wir aber weiter, was denn nun an Gauck einerseits und Grünen, die die Linke abwatschen, andererseits, so gut ist.

So lässt sich Gauck in vielen Zügen ebenso gut als linker Bürger beschreiben wie als Konservativer. Die Impulse, die seiner Popularität so zugutekommen, sind heute sogar am ehesten bei den Grünen zu finden, die längst zu einer bürgerlichen Partei geworden sind und - nicht zuletzt in Südwestdeutschland - das Erbe des lokalen, in Vereinen und für konkrete Anliegen engagierten klassischen Honoratiorenliberalismus angetreten haben.

Dieser links-konservativ-bürgerliche Grünenliberalismus ist stark bildungsbürgerlich geprägt, und er passt auch zu jenen Schichten, die in gentrifizierten Stadtquartieren wie dem Prenzlauer Berg in Berlin oder Haidhausen in München modernisierte Familienwerte wiederentdecken, dort die Kirchen mit jungen Leuten füllen und auf nichts so kritisch blicken wie die Schulpolitik in ihrem jeweiligen Bundesland.

Kurzum, Seibt wünscht sich schwarz-grün, und nimmt's mit der Vokabel links nicht so genau. Man kann natürlich in gewissem Sinn konservativ und links sein. Das ist Gauck, obwohl er sich selbst vor der Wahl so bezeichnet hat, gerade nicht. Er betonte nämlich immer wieder, ihm ginge es um Freiheit und Demokratie, wobei er sich teils mehr, teils weniger von Sozialpolitik distanzierte. Er sprach über Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern (s. etwa hier), als ob es da nur oder vor allem verbogene Mentalität und nicht eine tatsächliche ökonomische und soziale Misere gäbe. Die Rede zeugt von Ignoranz und einem gewissen Zynismus eines Wendegewinners gegenüber Millionen, die ihre Arbeit verloren haben, und gegenüber zahllosen Familien, die sich anschließend in die Arbeitsmarkt-Diaspora zerstreuten. (Gehn' Se mal nach Glauchau und erforschen sie die Stimmung. Dort träumen die Leute nicht von Dikatur, sondern davon, dass es Arbeit gibt und junge Leute. Welcher Hochmut, den Leuten eine Predigt (Pfaffe!) über Freiheit und Demokratie zu halten, als wüssten sie es nicht zu würdigen,
und dabei zu unterschlagen, dass die Bundesrepublik mit durchaus vermeidbaren wirtschaftlichen Entscheidungen an vielen Bewohnern der neuen Bundesländer ein Unrecht begangen hat.)

Fazit: Dass SPD und Grüne sich aus (von Seibt bewundertem) Kalkül für einen so gut wie gar nicht linken Kandidaten entschieden, der den Linken mit Gründen ebensowenig wählbar schien wie Wulff, wird nun den Linken zum Vorwurf gemacht. Hätten die anderen nicht auch Luc Joachimsen wählen können? Mir scheint durchaus, dass die Nachwelt finden wird können, sie habe weniger Stuss geredet als Gauck oder Wulff. Und wenn nun der Kandidat Gauck durchgekommen wäre, dann wäre das ein 'politischer Sieg' von rot-rot-grün ohne jeden Inhalt gewesen. Es geht aber (bei Punktemachern a la Schulz) längst nur noch ums Siegen. Wenn die SPD den Spitzensteuersatz senkt und die Solidarität mit den Arbeitslosen wie keine CDU-Regierung beschädigt, haben sich die 'Linken' zu freuen, denn die Schlipse sind schließlich rot.

Dienstag, 16. März 2010

Kleine Geister

Stefan Heym eröffnete als Alterspräsident den 13. Bundestag. Er war Schriftsteller in deutscher und englischer Sprache, Sohn eines deutsch-jüdischen Händlers und ein früher Antifaschist, der vor den Nazis zunächst nach Prag floh, später dann in den USA studierte und englisch publizierte. Er kehrte in der McCarthy-Zeit nach Europa zurück und zog in die DDR, mit deren staatlichen Kunstrichtern er trotz sozialistischer Überzeugungen bald aneinander geriet. Er war schließlich auch an den Protesten beteiligt, die ins Ende der DDR und in die Wiedervereinigung mündeten.

Lesen Sie, verehrter Leser, doch Heyms Rede noch einmal, sie verdient es. Und was tat die CDU-Fraktion, die einen Filbinger in ihren Reihen sitzen hatte, die die Lüge von den "blühenden Landschaften" verzapft und ungerührt einer sozialen Katastrophe in den neuen Bundesländern zugesehen hatte? Sie verweigerte den Applaus. Wenn man jetzt den gelähmten Helmut Kohl, der kaum noch sprechen kann, sieht, kann man nur Mitleid empfinden. Man braucht aber nicht zu vergessen, was für ein unsäglich beschränkter, einseitiger Kleingeist und anachronistisch kalter Krieger da Stefan Heym den Beifall verweigerte. (Die Abgeordnete Süßmuth war übrigens die einzige der CDU/CSU, die applaudierte.)

Auch jetzt sitzen nicht wenige von den damaligen Beifall-Verweigerern im Bundestag. Die jetzige Regierung sägt weiter am Sozialstaat, schottet weiter die Festung Europa gegen Flüchtlinge ab. Andererseits ist Deutschland inzwischen der drittgrößte Waffenexporteur der Welt und ballert in Afghanistan. Wir haben offenbar viel aus der Nazizeit gelernt. Wir können nämlich schöne Reden zu Gedenktagen halten, Wohlfühlreden, in denen das einstige Grauen unsere jetzt so guten Manieren unterstreicht. Da klatscht dann auch jeder, nicht aber bei einem deutsch-jüdischen Schriftsteller, der den Nazis und manchem anderen entronnen ist, wenn er von einer wünschenswerten Zukunft der BRD spricht, die bereit wäre, auch aus der DDR trotz ihrer Fehler zu lernen. Man bedenke, dass hier ein Oppositioneller, der in der DDR jahrzehntelang nicht publizieren konnte, spricht - und es dennoch für richtig hält, die DDR nicht in die Pfanne zu hauen. Man klatscht aber nicht. Das Wort "Kleingeister" scheint zu klein, es waren Kleinstgeister in zum Teil riesigen Körpern.

Freitag, 15. Januar 2010

Arbeitshaus und Hartz IV

Dass die alte Zeit keineswegs gut war, muss kaum erwähnt werden. Aus der von zeno.org dankenswerterweise digitalisierten ersten Auflage
des Brockhaus (1837) lesen wir den folgenden Eintrag über Arbeitshäuser (Hervorhebungen von mir):

Arbeitshäuser sind Anstalten, in welchen arbeitslose Menschen zu jeder Zeit gegen einen angemessenen Lohn oder gegen Verpflegung Beschäftigung finden. Da, wie schon das Sprichwort sagt, Müßiggang aller Laster Anfang ist, so haben von jeher solche Anstalten höchst vortheilhaft gewirkt. Vor der Unterstützung der Armen durch Almosen haben sie den großen Vorzug, daß sie nicht blos augenblickliche Armuth lindern, sondern dieselbe auch für die Zukunft abwenden, indem sie den Verarmten vor Müßiggang schützen und den der Arbeit bereits Entwöhnten wieder an Thätigkeit gewöhnen. Der Aufenthalt in solchen Anstalten ist entweder ein freiwilliger oder ein gezwungener, weshalb man sie in sogenannte freiwillige oder Armen- und in Strafarbeitshäuser oder Correctionsanstalten eintheilt. Wohleingerichtete Armenarbeitshäuser gewähren in der Regel den Armen ein gesundes Local und im Winter Heizung und Licht, ohne ihnen von ihrem Verdienste dafür Abzüge zu machen; Männer und Frauen arbeiten in gesonderten Zimmern und die Kinder, um der nöthigen Aufsicht willen, in der Nähe der Ältern. etc.

Und aus der sechsten Auflage von Meyers Konversationslexikon (1905) erfahren wir unter
anderem:

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch steht das Arbeitshaus in engster Verbindung mit der Überweisung an die Landespolizeibehörde, einer Nebenstrafe, auf die nach § 361, Nr. 3–8, gegen Landstreicher, Bettler und gegen Frauenspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, erkannt werden kann. Die Überweisung kann auch gegen denjenigen ausgesprochen werden, der sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand gerät, in dem zu seinem Unterhalt oder zum Unterhalte derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß. Auch wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten, und wer nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweites Unterkommen verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß er solches, der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet, nicht vermocht habe, kann durch Richterspruch der Landespolizeibehörde überwiesen werden. Letztere erhält dadurch (§ 362) die Befugnis, die verurteilte Person entweder bis zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden

Einerseits fallen die Armen zusammen mit Spielern, Landstreichern, Prostituierten in eine Klasse von Leuten, die man bestraft, andererseits beansprucht man, sie zu ihrem eigenen Nutzen zu korrigieren . Die einzige relevante Ursache von Armut ist für die Vertreter solcher Maßnahmen das Laster bzw. eine Charakterschwäche, und nicht etwa auch eine Wirtschaftsordnung, die Armut produziert.

Ja, finstere Zeiten, mag man denken. Arbeitshäuser gab es in der BRD bis 1969. (In der amerikanischen Besatzungszone wurden sie vorübergehend abgeschafft, Adenauers BRD führte sie aber flächendeckend wieder ein.) Auch in der DDR gab es Arbeitshäuser für "Alkoholiker", "Asoziale" etc. (laut Wikipedia, dort mit Quellenangaben).

Also nicht so lange her, die finsteren Zeiten. Das seit den 90er Jahren in den USA praktizierte und in Deutschland etwa von Roland Koch vertretene Konzept workfare lässt sich so charakterisieren:

1. Es besteht eine Verpflichtung zur Teilnahme an dem Konzept Workfare. Eine Verweigerung zieht das Risiko der Verminderung oder Streichung von Sozialleistungen nach. Die Verpflichtung hat Auswirkungen auf die Rechte der Betroffenen. Es verdeutlicht die implizite Annahme, der Grund für Arbeitslosigkeit liege nicht primär in einem Fehlen an Arbeitsplätzen, sondern am Mangel an Motivation und Anstrengung bei den Betroffenen.
2. Der Schwerpunkt von Workfare liegt auf der Aufnahme von Arbeit und weniger auf Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen oder sonstigen Formen der Aktivierung. Ob dabei als Ziel die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt oder der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit relevant ist, wird dabei zunächst offen gelassen.
3. Workfare ist entweder eine Bedingung zum Erhalt von Sozialleistungen oder aber stellt einen adäquaten Ersatz (z.B. durch eine Lohnzahlung) für diese bereit. Voraussetzung zur Teilnahme ist wie bei Sozialleistungen eine individuelle Bedürftigkeit der Betroffenen. (zit. nach wikipedia, dort mit Quellenangaben.)

Es ist häufig von "Aktivierung" die Rede, offensichtlich sind aber Bestrafung, Zwang und Einsparungen im Zentrum der Maßnahme. Und die zugrundeliegende Theorie von den Ursachen der Armut ist just dieselbe wie beim Arbeitshaus. ("Es verdeutlicht die implizite Annahme, der Grund für Arbeitslosigkeit liege nicht primär in einem Fehlen an Arbeitsplätzen, sondern am Mangel an Motivation und Anstrengung bei den Betroffenen.") Sind die Schikanen nur groß genug, muss jeder seine Arbeitskraft unter noch so schlechten Bedingungen verkaufen. Kein Lohn kann zu niedrig sein, keine Behandlung zu schlecht. Ein solches abgespecktes Sozialsystem will den Warencharakter des Menschen. Und der Gleichgewichtspreis dieser Ware für die jeweils Ärmsten ist die bloße Lebenserhaltung.

Und wie könnte man nun nicht an "Fördern und Fordern" denken, den Slogan hinter Hartz IV? Zwar geht Hartz IV nicht so weit wie "workfare", aber Maßnahmen/1-Euro-Jobs sind in den meisten Fällen kein Sprungbrett in den "ersten Arbeitsmarkt". (Ich habe die Absicht, in einem weitern Blog einfach nur absurde Geschichten von Maßnahmen zu sammeln, weil sich bei diesen Geschichten die Frage, inwiefern hier "gefördert" wird, erübrigt.) Ich sage ausdrücklich nicht, dass wir schon bei "workfare" angekommen sind, aber es wird ja derzeit daran gearbeitet, mehr Sanktionen und eine niedrigere Schwelle für Zumutbarkeit einer Arbeit einzuführen.

Der Schoß, der Arbeitshäuser gebar, ist fruchtbar noch. Vom Arbeitshaus, das übrigens auch die Nationalsozialisten ausgiebig "nutzten", wenden sich moderne Menschen mit Abscheu ab und bejahen dann doch überraschend oft Maßnahmen, die dasselbe, nur ohne Haus, bezwecken. Es gibt eine perspektivische Selbstüberschätzung, die eigene Zeit für so fortschrittlich zu halten, die der anderen Selbstüberschätzung, den eigenen Kulturraum für überlegen zu halten, ähnelt.

Mittwoch, 13. Januar 2010

Die Politik wünscht sich Feldprediger

Reinhard Bingener (FAZ vom 13. Januar 2010) macht, um Margot Käßmann zu schelten, eine Unterscheidung zwischen "politischer Rede" und "religiöser Rede" auf. Über letztere sagt er unter anderem:

"Dieser rhetorische Akt, der auch eher subtil als geifernd vollzogen werden kann und der sich in der Verkündigung Jesu wie bei den Propheten des Alten Testaments findet, schafft im strengen Sinne erst eine Moral, weil er eine Norm aufrichtet, an der sich das moralisch Gute messen lässt."

Politische Rede sei was anderes und müsse irgendwie realpolitisch sein. Käßmann nun beruft sich auf eine Schrift, in der sich die Kirche von der Theorie des gerechten Krieges verabschiedet und von einem "gerechten Frieden" spricht. Bei Bingener klingt die hämische Frage mit, was solche Käßmanns denn gegen Al Qaida zu tun gedenken. (Nun, vielleicht beten, wenn man dran glaubt?) Bingeners Fazit: Schuster, bleib bei deinem Leisten, halte salbungsvolle Reden, aber wende sie ja nicht auf die Gegenwart an.
Im Wortlaut:

"Eigentlich sollte doch gelten: Die Unterscheidung von Prophetie und Politik sollte nicht erst von außen an eine evangelische Kirche herangetragen werden."


Bei den Propheten des Alten Testaments klingt das mitunter so (Amos 1)

" 1. Dies ist's, was Amos, der unter den Hirten zu Thekoa war, gesehen hat über Israel zur Zeit Usias, des Königs in Juda, und Jerobeams, des Sohnes Joas, des Königs Israels, zwei Jahre vor dem Erdbeben.

2. Und er sprach: Der Herr wird aus Zion brüllen und seine Stimme aus Jerusalem hören lassen, daß die Auen der Hirten jämmerlich stehen werden und der Karmel oben verdorren wird.

3. So spricht der Herr: Um drei und vier Frevel willen der Damasker will ich ihrer nicht schonen, darum daß sie Gilead mit eisernen Zacken gedroschen haben;

4. sondern ich will ein Feuer schicken in das Haus Hasaels, das soll die Paläste Benhadads verzehren.

5. Und ich will die Riegel zu Damaskus zerbrechen und die Einwohner auf dem Felde Aven samt dem, der das Zepter hält, aus dem Lusthause ausrotten, daß das Volk in Syrien soll gen Kir weggeführt werden, spricht der Herr. usw."


Ach ja, auch in Innenpolitik mischen sich derlei Propheten (Amos 8):

" 1. Der Herr zeigte mir ein Gesicht, und siehe, da stand ein Korb mit reifem Obst.

2. Und er sprach: Was siehst du, Amos? Ich aber antwortete: Einen Korb mit reifem Obst. Da sprach der Herr zu mir: Das Ende ist gekommen über mein Volk Israel; ich will ihm nichts mehr übersehen.

3. Und die Lieder in dem Palaste sollen in ein Heulen verkehrt werden zur selben Zeit, spricht der Herr; es werden viele Leichname liegen an allen Orten, die man in der Stille hinwerfen wird.

4. Hört dies, die ihr den Armen unterdrückt und die Elenden im Lande verderbt

5. und sprecht: "Wann will denn der Neumond ein Ende haben, daß wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, daß wir Korn feilhaben mögen und das Maß verringern und den Preis steigern und die Waage fälschen,

6. auf daß wir die Armen um Geld und die Dürftigen um ein Paar Schuhe unter uns bringen und Spreu für Korn verkaufen? usw."


Wir bemerken, dass sehr wohl und ganz konkret von Politik die Rede ist, weil Prophetie nun einmal von der Welt handelt. Und zweitens ist die Rede nicht subtil, weder bei Amos noch bei den meisten anderen des Alten Testaments. Aber immerhin wird da Krieg verkündigt, also könnte so ein Prophet ja auch gelegentlich sagen, der Herr spreche so: Ich will verderben die paschtunischen Turbanträger in den Bergen um drei und vier Frevel willen.

Aber Käßmann würde sich auch nicht auf das Alte Testament stützen, um sich von der Lehre vom gerechten Krieg zu verabschieden, sondern wohl eher aufs Neue. Und da findet sich durchweg die Verdammung von Gewalt. Es ist wohl nicht nötig, die Bergpredigt abzudrucken, aber anscheinend leiden sich religiös gebende Bellizisten an schlechtem Gedächtnis. Matthäus 5:


"9. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.


38. Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: "Auge um Auge, Zahn um Zahn."

39. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.


43. Ihr habt gehört, daß gesagt ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen."

44. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen,

45. auf daß ihr Kinder seid eures Vater im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte."


Aber kann man mit den Neuen Testament nicht doch Krieg rechtfertigen? Wie es die Päpste bekanntlich bei der Ausrufung der Kreuzzüge getan haben.


Matthäus 10

"
34. Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.

35. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter.

36. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.

37. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.

38. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert."


Von Krieg ist wohl nicht die Rede, sondern davon, dass Jesus die Religion über alle anderen Beziehungen stellt, insbesondere auch über familiäre. Vielleicht kann man aber die Trennung von Religion und Politik noch irgendwie rauspräparieren? (Markus 11)

"
14. Und sie kamen und sprachen zu ihm: Meister, wir wissen, daß du wahrhaftig bist und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen, sondern du lehrst den Weg Gottes recht. Ist's recht, daß man dem Kaiser Zins gebe, oder nicht? Sollen wir ihn geben oder nicht geben?

15. Er aber merkte ihre Heuchelei und sprach zu ihnen: Was versucht ihr mich? Bringet mir einen Groschen, daß ich ihn sehe.

16. Und sie brachten ihm. Da sprach er: Wes ist das Bild und die Überschrift? Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers!

17. Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Und sie verwunderten sich über ihn.
"


Nein, auch das gelingt nicht. Man bekommt nur heraus, dass das religiöse Gebot nach Jesu Auffassung dem Zahlen von Steuern nicht im Wege steht.


Und warum nun diese ganzen Zitate, wo mir Gott doch wurscht ist? Weil ja Bingener so tut, als wär er Christ, und eine christliche Autorität gegen Frau Käßmann entfalten will und es immer lehrreich ist, jemanden bereits an den eigenen Maßstäben scheitern zu sehen. Man sieht, Bingener kann sich gar nicht auf das Evangelium berufen, allenfalls auf die Geschichte christlicher Institutionen, die oft patriotisch, bellizistisch, opportunistisch waren. Das institutionalisierte Christentum hat über die Jahrhunderte viel Mord und Totschlag gerechtfertigt oder angezettelt und dabei eine umständliche Exegetik bemüht, allein als Minderheitenströmung ist eine pazifistische Lesart nie ausgestorben, an welche Käßmann anknüpft. Dass dies 'christlicher' als die Apologie von Kriegen sei, darf auch ein Nichtchrist behaupten. - Ich will nach den Meldungen über Käßmanns Besuch bei Guttenberg hoffen, dass sie sich nicht gewissermaßen "einbetten" lässt und in den Schoß des üblichen Burgfriedens zurückkehrt, der für die Feldprediger des ersten Weltkriegs so schön und brechreizerregend von Karl Kraus dokumentiert wurde.

(Weltgericht II, S. 51, Frankfurt a. M. 1988) Pastor Philipps sprach: "Krieg ist eben die 'Ultima ratio' das letzte Mittel Gottes, die Völker durch Gewalt zu Raison zu bringen, wenn sie sich anders nicht mehr leiten und auf den gottgewollten Wegen führen lassen wollen. Kriege sind Gottesgerichte und Gottesurteile in der Weltgeschichte ... Darum ist es aber auch der Wille Gottes, daß die Völker im Kriege alle ihre Kräfte und Waffen, die er ihnen in die Hand gegeben hat, Gericht zu halten unter den Völkern, zur vollen Anwendung bringen sollen."


Diese wagemutige Auslegung und grässliche Homiletik erscheint heute als so absurd unchristlich wie sie war. Über Bingeners Kommentar wird dereinst gerade so zu urteilen sein. Das Christentum kriegsfähig zu machen war stets nur unter Aufgabe des Christentums möglich.


Wie viele von den als bella iusta deklarierten Kriegen der Vergangenheit sehen die Historiker heute noch so? Problem: Beide Seiten fanden ihre bella ja iusta. Der Versuch, noch den Zustand des krassesten Unrechts in die Form des Rechts zu bringen, hat die Spindoktoren der Jahrtausende erfreut und ist erst im Friedensgebot der UN völkerrechtlich überwunden. Aber indem man Kriege durch die UN legitimieren lässt, kriegt man sie doch wieder "gerecht". Die Legitimation durch den Sicherheitsrat ist jedoch in einem demokratischen Legtitimationsverständnis brüchig. Regelmäßig lehnt ja die Vollversammlung ab, was der Sicherheitsrat beschließt. Aber selbst wenn man noch diesen Mechanismus abnickt, ist die völkerrechtlichen Einschätzung des Afghanistan-Kriegs, der langsam auch so heißen darf, keineswegs so klar, wie es Bingener hinstellt. Die Einschätzung, der Krieg sei völkerrechtswidrig, lässt sich zumindest vertreten, und ebenso, dass in diesem Krieg Kriegsverbrechen auch "von unserer Seite" begangen werden. Zurücl also zu Frau Käßmann: Soll sie ein juristisches Gutachten einfordern, wenn sie ein christliches Friedensgebot auf diesen Krieg anwendet? Nee, moralische Reden sollen schön abstrakt und anwendungsfern bleiben, sonst werden sie "Politik".

Und so lernen wir aus Bingeners Tirade nichts über das Völkerrecht, nichts über das Christentum, jedoch etwas über das traditionelle Verhältnis von beiden: Das Christentum darf der Realpolitik nicht im Wege stehen. - Und mag sich Adenauer beim Wiederbewaffnen der Bundesrepublik auch für einen katholischen Christen gehalten haben, ist das Bewaffnen eines erstmals unbewaffneten Lands alles, nur nicht christlich, so dass die damalige CDU-Fraktion in der Hölle gut vertreten wäre, wenn es sie denn gäbe, die Hölle. - Es gibt sie nicht, es gibt nur irdische Approximationen, z.B. ein Land wie Afghanistan, wo seit dreißig Jahren Krieg herrscht, dank der Sowjetunion, dank der Mujaheddin, dank der Warlords, dank der USA, dank der Taliban, dank der NATO.

Dienstag, 12. Januar 2010

Nochmals Sarrazin

Nachdem Sarrazins nach Herkunft und sozialer Lage diskriminierende Äußerungen in Lettre in einer ersten Welle Bestürzung, in einer zweiten Bestätigung hervorriefen, kehrte Ruhe ein. Wenn die einen so sagen und die anderen so, ist im Grunde nichts geschehen. Die zweite Welle war darum bemüht, Sarrazin als Ehrenmann darzustellen, der bekanntlich kein Rassist sei, und der zwar dies und jenes gesagt, damit aber etwas anderes gemeint habe, was man "ja mal sagen dürfen müsse". Es sei 'halt' sympathisch, wenn einer rede (=schwadroniere?), wie ihm der Schnabel gewachsen sei, und so weiter. Zu Recht versteht unsere Gesellschaft beim Schwadronieren keinen Spaß, wenn's antisemitsch wird, zu Unrecht gibt es verhaltenen Beifall, wenn über Türken, Araber, Unterschichten schwadroniert wird. Sarrazins die Berliner nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen bewertende Tirade enthielt aber einiges, das durch noch so viel Auslegung nicht vom Rassismusvorwurf frei gesprochen werden kann. Wie war das noch: Unsere Einwanderer seien leider keine osteuropäischen Juden mit 15% höherem Intelligenzquotienten, sondern allenfalls Gemüse verkaufende bildungsferne Türken und Arabern & mithin ein Problem?

Es ist erfreulich, dass diese Einschätzung jetzt auch auf ein Gutachten verweisen kann, das von Gideon Botsch (Moses-Mendelssohn-Zentrum) im Auftrag der Spandauer SPD angefertigt wurde, und das eben zu dem Schluss kommt, das Interview enthalte rassistische Äußerungen. Eine Zusammenfassung findet sich in der SZ, leider wurde das ganze Gutachten meines Wissens (noch?) nicht veröffentlicht. Botsch verwendet die Rassismus-Definition von Albert Memmi:
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß der Rassismus die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers ist, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll.

Verallgmeinernd und verabsolutierend urteilt Sarrazin über das verhalten ethnischer Gruppen, denen jedoch (Intelligenzquotient) teilweise minderwertige biologische Eigenschaften zugerechnet werden. Statt verbesserbare Mängel etwa unserer Schulen und unseres Umgangs miteinander zu suchen, wird auf Türken und Araber gezeigt, wodurch allein schon ihnen Schaden angetan wird, von dem Schaden der durch solche Diskurse gestützten Schikanen ganz abgesehen. (Waren Sie schon mal bei der Ausländerbehörde?) Einzig das letzte Bestimmungsstück der "Rechtfertigung einer Aggression" ließe noch Freiraum für Deutelei. Wer aber in den Debatten der letzten Jahre die Forderungen nach harten Strafen oder Abschiebung bei von Migranten begangenen Straftaten verfolgt hat, wird die Äußerungen Sarrazins durchaus in einem Kontext der Aggression sehen. (Wenn das Gutachten publiziert wird, wird man im einzelnen sehen, wie Botsch die Äußerungen unter die Rassismus-Bestimmungen subsumiert.)


Reaktionen? Die antiislamische Website "pi - politically incorrect" setzt "Gutachten" in Anführungszeichen, in den Kommentaren wird dann eingedroschen auf die Moslemverteidiger. Bei der großteils antisemitischen und auch sonst rassistischen Website "fact-fiction" klingt es ganz ähnlich, nur dass da zusätzlich noch über das angeblich "jüdische" Institut hergezogen wird. Man verlinkt von der antisemitischen Website auch gerne "pi" und antideutsche Seiten. Ob sich deren Betreiber der traurigen Allianzen mit Antisemiten bewusst sind, die sie mit ihrem Moslem-Bashing eingehen?

Verallgemeinernde Abwertungen von Gruppen brauchen wir nicht. Schlüssig ist allein, sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen Xenophobie, Muslimophobie etc. zu sein.