Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Freitag, 15. Januar 2010

Arbeitshaus und Hartz IV

Dass die alte Zeit keineswegs gut war, muss kaum erwähnt werden. Aus der von zeno.org dankenswerterweise digitalisierten ersten Auflage
des Brockhaus (1837) lesen wir den folgenden Eintrag über Arbeitshäuser (Hervorhebungen von mir):

Arbeitshäuser sind Anstalten, in welchen arbeitslose Menschen zu jeder Zeit gegen einen angemessenen Lohn oder gegen Verpflegung Beschäftigung finden. Da, wie schon das Sprichwort sagt, Müßiggang aller Laster Anfang ist, so haben von jeher solche Anstalten höchst vortheilhaft gewirkt. Vor der Unterstützung der Armen durch Almosen haben sie den großen Vorzug, daß sie nicht blos augenblickliche Armuth lindern, sondern dieselbe auch für die Zukunft abwenden, indem sie den Verarmten vor Müßiggang schützen und den der Arbeit bereits Entwöhnten wieder an Thätigkeit gewöhnen. Der Aufenthalt in solchen Anstalten ist entweder ein freiwilliger oder ein gezwungener, weshalb man sie in sogenannte freiwillige oder Armen- und in Strafarbeitshäuser oder Correctionsanstalten eintheilt. Wohleingerichtete Armenarbeitshäuser gewähren in der Regel den Armen ein gesundes Local und im Winter Heizung und Licht, ohne ihnen von ihrem Verdienste dafür Abzüge zu machen; Männer und Frauen arbeiten in gesonderten Zimmern und die Kinder, um der nöthigen Aufsicht willen, in der Nähe der Ältern. etc.

Und aus der sechsten Auflage von Meyers Konversationslexikon (1905) erfahren wir unter
anderem:

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch steht das Arbeitshaus in engster Verbindung mit der Überweisung an die Landespolizeibehörde, einer Nebenstrafe, auf die nach § 361, Nr. 3–8, gegen Landstreicher, Bettler und gegen Frauenspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, erkannt werden kann. Die Überweisung kann auch gegen denjenigen ausgesprochen werden, der sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand gerät, in dem zu seinem Unterhalt oder zum Unterhalte derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß. Auch wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten, und wer nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweites Unterkommen verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß er solches, der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet, nicht vermocht habe, kann durch Richterspruch der Landespolizeibehörde überwiesen werden. Letztere erhält dadurch (§ 362) die Befugnis, die verurteilte Person entweder bis zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden

Einerseits fallen die Armen zusammen mit Spielern, Landstreichern, Prostituierten in eine Klasse von Leuten, die man bestraft, andererseits beansprucht man, sie zu ihrem eigenen Nutzen zu korrigieren . Die einzige relevante Ursache von Armut ist für die Vertreter solcher Maßnahmen das Laster bzw. eine Charakterschwäche, und nicht etwa auch eine Wirtschaftsordnung, die Armut produziert.

Ja, finstere Zeiten, mag man denken. Arbeitshäuser gab es in der BRD bis 1969. (In der amerikanischen Besatzungszone wurden sie vorübergehend abgeschafft, Adenauers BRD führte sie aber flächendeckend wieder ein.) Auch in der DDR gab es Arbeitshäuser für "Alkoholiker", "Asoziale" etc. (laut Wikipedia, dort mit Quellenangaben).

Also nicht so lange her, die finsteren Zeiten. Das seit den 90er Jahren in den USA praktizierte und in Deutschland etwa von Roland Koch vertretene Konzept workfare lässt sich so charakterisieren:

1. Es besteht eine Verpflichtung zur Teilnahme an dem Konzept Workfare. Eine Verweigerung zieht das Risiko der Verminderung oder Streichung von Sozialleistungen nach. Die Verpflichtung hat Auswirkungen auf die Rechte der Betroffenen. Es verdeutlicht die implizite Annahme, der Grund für Arbeitslosigkeit liege nicht primär in einem Fehlen an Arbeitsplätzen, sondern am Mangel an Motivation und Anstrengung bei den Betroffenen.
2. Der Schwerpunkt von Workfare liegt auf der Aufnahme von Arbeit und weniger auf Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen oder sonstigen Formen der Aktivierung. Ob dabei als Ziel die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt oder der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit relevant ist, wird dabei zunächst offen gelassen.
3. Workfare ist entweder eine Bedingung zum Erhalt von Sozialleistungen oder aber stellt einen adäquaten Ersatz (z.B. durch eine Lohnzahlung) für diese bereit. Voraussetzung zur Teilnahme ist wie bei Sozialleistungen eine individuelle Bedürftigkeit der Betroffenen. (zit. nach wikipedia, dort mit Quellenangaben.)

Es ist häufig von "Aktivierung" die Rede, offensichtlich sind aber Bestrafung, Zwang und Einsparungen im Zentrum der Maßnahme. Und die zugrundeliegende Theorie von den Ursachen der Armut ist just dieselbe wie beim Arbeitshaus. ("Es verdeutlicht die implizite Annahme, der Grund für Arbeitslosigkeit liege nicht primär in einem Fehlen an Arbeitsplätzen, sondern am Mangel an Motivation und Anstrengung bei den Betroffenen.") Sind die Schikanen nur groß genug, muss jeder seine Arbeitskraft unter noch so schlechten Bedingungen verkaufen. Kein Lohn kann zu niedrig sein, keine Behandlung zu schlecht. Ein solches abgespecktes Sozialsystem will den Warencharakter des Menschen. Und der Gleichgewichtspreis dieser Ware für die jeweils Ärmsten ist die bloße Lebenserhaltung.

Und wie könnte man nun nicht an "Fördern und Fordern" denken, den Slogan hinter Hartz IV? Zwar geht Hartz IV nicht so weit wie "workfare", aber Maßnahmen/1-Euro-Jobs sind in den meisten Fällen kein Sprungbrett in den "ersten Arbeitsmarkt". (Ich habe die Absicht, in einem weitern Blog einfach nur absurde Geschichten von Maßnahmen zu sammeln, weil sich bei diesen Geschichten die Frage, inwiefern hier "gefördert" wird, erübrigt.) Ich sage ausdrücklich nicht, dass wir schon bei "workfare" angekommen sind, aber es wird ja derzeit daran gearbeitet, mehr Sanktionen und eine niedrigere Schwelle für Zumutbarkeit einer Arbeit einzuführen.

Der Schoß, der Arbeitshäuser gebar, ist fruchtbar noch. Vom Arbeitshaus, das übrigens auch die Nationalsozialisten ausgiebig "nutzten", wenden sich moderne Menschen mit Abscheu ab und bejahen dann doch überraschend oft Maßnahmen, die dasselbe, nur ohne Haus, bezwecken. Es gibt eine perspektivische Selbstüberschätzung, die eigene Zeit für so fortschrittlich zu halten, die der anderen Selbstüberschätzung, den eigenen Kulturraum für überlegen zu halten, ähnelt.

1 Kommentar:

Georg hat gesagt…

Immerhin gibt es inzwischen - das war in den letzten Jahren oft nicht so - sehr lauten Protest gegen dieses jämmerliche Menschenbild z.B. Roland Kochs. Aber eben auch wirkliche Anhänger. Man vergleiche den widerwärtigen Artikel in der WELT vom 13.1.2010, in dem Stefan Borstel sich daherträumt, wie wunderbar Hartz4 und Niedriglöhne wären...:

www.welt.de/politik/deutschland/article5837470/Wofuer-Niedrigloehne-Hartz-IV-und-Zeitarbeit-gut-sind.html

Aber auch da - bevor die Kommentarfunktion von der WELT abgeschaltet wurde, hagelte es inzwischen laute Kritik, und 91% fanden den Artikel - schlecht. Das ist für WELT-Leser ungewöhnlich, und erfreulich.


Das Problem ist ungeheuer schwierig zu lösen - viele, die in allen Altersgruppen CDU/FDP oder die Schrödersche/Clementsche SPD wählten, oder die Fritz Kuhnschen/Özdemirschen Grünen, profitieren von Gedanken wie denen Roland Kochs. Versucht wird eine Spaltung der Gesellschaft, und insgeheim wissen viele Wohlhabendere, daß Koch genau das will - ihnen Steuer"lasten" ersparen.
Dazu kann es für Konservative nichts besseres geben als unsere mehrheitlich postmodern/indifferenten Medien. Sarrazin, Enkes Selbstmord, Schweinegrippe als "Gefahr für die ganze Welt", "Schneechaos", jetzt Roland Kochs Absurditäten - nach 2-3 Wochen alles vergessen, vorher hysterisch aufgeblasen, auch in Zeiten, in denen bei "Hysterie" gewiß niemand mehr an "Gebärmutter" denkt. (Und von der Uni kommen wohlfeile Sprachkritiken, wer "Hysterie" schreibe, sei frauenfeindlich, da man damit "Gebärmutter" meine. Auch das freut die real existierenden Konservativen, es lenkt so schön ab, und verschiebt das Thema in feinsinnig-unempirische Avantgarde-Nörgelei).

Immerhin - es regt sich Widerstand. Die Leut, nachdem die Arbeiter nicht mehr politisch interessiert sind, und die Unis mehrheitlich 20 Jahre Entwicklung verschlafen haben, sind noch nicht ganz so unsozial, wie es in anderen neoliberalen Ländern leider üblich ist. Und das ist die Hoffnung, glaube ich jedenfalls^^. Alle blogs, die sich sozialen Themen widmen, sind deshalb sehr wichtig, wie immer die Linken untereinander sich verstehen mögen. Nur eine langfristig denkende Bewegung hat gegen eine Übermacht an Ignoranz, elitärem Desinteresse und gelackter Medien-Hysterie eine Chance. Wir wissen im Grunde alle, daß all unsere Kommentare, so wenig sie gelesen werden, ersetzen, daß es noch immer keine gute Zeitung gibt, und die Leute, die in die Medien gehen, zu riesengroßen Teilen aus der postmodern-indifferenten Ecke kommen, aus den eingeschlafenen Kulturwissenschaften und der um sich selbst kreisenden, dandy-haften Philosophie (man versteht den Karrieredruck, aber die Folgen sind fatal).
Kein Arbeiter, nirgendwo, findet gute Beiträge, wenn er in einer Arbeitspause eine Zeitung aufschlägt. Fast, so grauslig ist es geworden, ist es egal, ob er BILD liest oder Frau Bovensiepen in der Süddeutschen, oder Herrn von Borstel in der WELT, Broder im Spiegel, irgendwelche Popdiskursler in der Taz, oder, oder, oder... Nur "von unten" kann es besser werden. Und das wird es, wie es aussieht. Dann wird ein Gerede wie von Roland Koch eines Tages nicht mehr vergessen werden wie das "Schneechaos" oder die Schweinegrippe.