Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 27. September 2010

Sarrazin doch erwähnen, II

In den Printmedien wechseln sich Unterstützung und Kritik von Sarrazins Thesen noch ab; in den Internetforen herrschen ein Meinungsbild und ein Diskussionsverhalten vor, die nicht als 'Mob' zu bezeichnen schwer fällt. Die von Sarrazin falsch erklärten und schlecht verstandenen statistischen Zusammenhängen bieten nun allen, die aus reinem Ressentiment gegen Türken oder Moslems sind. die Gelegenheit, zu behaupten "Aber es ist doch Fakt, dass...".

Selbstverständlich gibt es im Netz auch viele fundierte Kritiken mit jeweils wenigen Lesern - denn der praktizierende Rassist sucht ja Belege für das, was er ohnehin zu wissen glaubt, und liest nichts anderes. Wer an die Aufklärung glauben mag, der sieht in der Massenkommunikation vor allem den Sieg des lautesten Gebrülls. Die viel beschworene Vielfalt des Internets führt bei polemischen Fragen gerade nicht dazu, dass sich Wahrheiten durchsetzen. Es ist dennoch nicht richtig, Irrtümer und Gemeinheiten unkommentiert stehen zu lassen, auch wenn die Kommentare nichts bewirken. Das Geschäft des Geistes ist langsam, große Irrtümer gehen erst mit ihren Trägern unter. Solange eine Abwertung von eingewanderten Minderheiten nicht nur salonfähig, sondern üblich ist, werden auch Parteien diese Ressentiments bedienen. Ich hätte zwar gehofft, Deutschland hätte aus der Geschichte seiner u. a. rassistischen Verbrechen mehr gelernt, aber das war eine eitle Hoffnung. Es kann einen wirklich grausen vor den Debatten der Amazon-Kunden oder auch der FAZ-Leser. Wenn türkischstämmige Mitbürger die Zeitung aufschlagen oder im Internet lesen, bleibt ihnen nur der Schluss, sie seien hier 'nicht willkommen' - mögen sie auch hier geboren sein. Einige Kommentare sind auf den ersten Blick weniger rassistisch: 'Es gehe halt um Gruppen, die ökonomisch untragbar sein, ob nun deutsche Unterschichten oder türkische. Fakt sei...' Wer glaubt, dass diese Art der Abwertung und Pauschalisierung besser sei, irrt meines Erachtens. Es ist bei allem 'Fakt ist...' eine Hetze, die stets vergisst, dass, wer Probleme verursacht, meist auch welche hat. Wenn staatliches Handeln zur Lösung beider Arten von Problemen beitragen kann, umso besser. Es verstößt aber gegen die gute Sitte, wenn derlei im Modus der 'Maßnahme' gegen die missliebigen Gruppen aufgefasst wird, mit "Härte" (Merkel) oder "Strenge" (Gabriel). Gabriel zeigt in seinen Äußerungen die nun schon seit langem aktenkundige Charakterschwäche der SPD-Führung. Zwar wendet man sich gegen Sarrazin, will aber dann doch angesichts der Meinungsumfragen selbst einiges in dieser Richtung sagen, um nicht diejenigen SPD-Wähler zu brüskieren, die glauben, dass die Ausländer unser Unglück sind.

Diejenigen, die mit ihrem "Fakt ist..." auf die Türken/Muslime/etc. zeigen, haben die Bedeutung der statistischen Fakten ebensowenig verstanden wie Sarrazin. Dessen Fehlinterpretation der Größe 'heritability' (die auf 1. Unbildung, 2. mäßige Intelligenz, 3. bösen Willen, 4. Faulheit schließen lässt) habe ich bereits in einem früheren Beitrag skizzenhaft aufgezeigt. Eine genauere Analyse (von Volker Eichener) findet sich hier.
Eichener weist insbesondere auf ein weiteres "Faktum" hin: Unter guten ökonomischen und sozialen Bedingungen, die die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten erlauben, ist die Korrelation zwischen der Intelligenz der Eltern und der der Kinder viel größer als unter schlechten. Also kommt auch mit STATISTIK nichts anderes heraus, als der ANSTAND geboten hätte: Jedem die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen.

Und, weil man es nicht oft genug sagen kann:

Auch für Menschen, die ein statistisches Intelligenzmaß für eher dumm erklärt, muss es ein würdiges Leben geben können. Auch wäre ein anständige Dummer weit besser als ein kluger Böser. Die "Fakt ist..."-Kommentare im Internet sind sowohl merkwürdig dumm als auch böse. Denen ist mein türkischer Gemüsehändler in beiden Hinsichten über.


p.s. Der Kulturkampf gegen die deutschen Türken/Muslime wird an verschiedenen Fronten geführt. Der Jurist Karl Doehring schrieb vor wenigen Tagen in der FAZ, der Islam sei nun einmal nicht grundgesetzkonform, deswegen gehöre auch kein Islamunterricht an die Schulen. (Nicht grundgesetzkonformen Auslegungen des Christentums bin ich auch schon begegnet.) Es geht Doehring nicht um Straftaten, denn um die kümmert sich die Justiz ohnehin, sondern um den Geist des Grundgesetzes, dem der 'Islam' widerspreche. Doehring ist damit weit weg vom liberalen Rechtsstaat und recht nah an Carl Schmitt. Die Debatten zeigen zum Beispiel, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung - darunter auch Christen - in Fragen der Gleichbehandlung nicht dem "Geist des Grundgesetzes" entspricht. Solange sie aber keine Straftaten begehen, dürfen sie das eben. Man kann die Händer über'm Kopf zusammenschlagen, aber mehr nicht.

Patrick Bahners hat kürzlich in der FAZ das neueste Buch Alice Schwarzers kommentiert, in dem diese im Namen des Feminismus gegen den Islam mobil macht, Sarkozys 'Härte' lobt und sich in siegreichem Gestus endgültig vom Minderheitenschutz verabschiedet. Bahners' lesenswerter Kommentar findet sich hier. (Bahners lässt inmitten von so viel Getöse hoffen, dass Toleranz und Humanismus dem Bildungsbürgertum noch nicht völlig abhanden gekommen sind.)

1 Kommentar:

Georg Fries hat gesagt…

Vielen Dank für den link zu Volker Eichener! Ich hab in einem "Spektrum der Wissenschaft"-blog kurz vor der Sarrazin-Debatte den Beitrag eines gebildeten Blogger gelesen, der "zuwenig Sarrazin - zu spät" als These schreibt. Das denken viele immer noch. Die "Fakt ist doch, daß..." Thesen konnte man im September in Deutschland hundertfach überall hören. Grauenhaft...
Ja, leider muß man Sarrazin nach und leider immer noch während dieser wüsten Volkskeiferei, unterstützt schon 2009 von Helmut Schmdit, Volker Schlöndorff, Henryk M. Broder, Peter Sloterdijk usw., doch erwähnen.
Es fällt auf, daß niemand der Bewunderer alter Sarrazinscher Hetzartikel sich jetzt vom Buch distanziert...