Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
Freitag, 13. April 2018
Gift 1
In London wird ein ehemaliger russischer Agent mit seiner Tochter vergiftet. Wenige Stunden behauptet die englische Regierung, es handle sich um ein in der Sowjetunion entwickeltes Nervengift 'Novichok', verantwortlich sei: Russland, d.h. Putin. Die Polizei lässt zwar verlautbaren, die Untersuchung könne lange dauern. Die Formeln dieser Kampfstoffe sind schon seit längerem veröffentlicht, so dass viele Akteure sie synthetisiert haben könnten. Und auch in Russland hat der Staat verhältnismäßig wenig Kontrolle, so dass niemand ausschließen kann, dass Gifte aus militärischen Einrichtungen in die Hände irgendwelcher Mafien gelangen.
Theresa May ist aber sicher, verrät aber nicht, woher sie das wissen will. Internationale Protokolle über den Umgang mit Zwischenfällen, bei denen chemische Kampfstoffe zum Einsatz kommen, kümmern sie nicht. Die europäischen Regierungen, die USA ziehen mit. Russland pocht wiederholt darauf, man müsse Beweise vorlegen, bzw. eine gemeinsame Untersuchung anstrengen. I wo! So ist er halt der Russe.
Ehemals vernünftige Zeitung wie der Guardian brauchen etwa eine Woche, bis sie zum erstenmal eine kritische Äußerung darüber drucken, andere haben es bis heute nicht getan. Keiner der europäischen Politiker, von den amerikanischen zu schweigen, befasst sich mit dem 'cui bono', das gerade nicht für Russland als staatlichen Täter spricht. Keiner spricht den offensichtlichen Widerspruch an zwischen einer Zuschreibung, derzufolge Russland einerseits ein skrupellos rationaler Akteur ist, und der anderen Zuschreibung, derzufolge dieser rationale Akteur für einen einfachen Mord nicht etwa eine Schusswaffe oder ein gewöhnliches Gift, sondern einen chemischen Kampfstoff nimmt (dessen einzig 'sinnvolle' Anwendung die einer Massenvernichtungswaffe im Krieg ist), der direkt auf Russland als möglichen Täter verweist, und eine Methode, die noch dazu versagt. Und warum ein Agent, wenn er denn gefährliches Wissen hätte, erst nach langem Aufenthalt in England ermordet werden sollte, ist ebenfalls unklar.
Es passt nichts zusammen, aber was weiß ich schon? Für jedes diese Argumente ließen sich vielleicht mehr oder minder komplizierte Widerlegungen basteln. Es wäre vernünftig, das Ergebnis einer internationalen Untersuchung abzuwarten und zu akzeptieren. Das aber geschieht nicht; einer Vermutung folgen Sanktionen, diplomatischer Schlagabtausch, Drohungen, Verbalinjurien. Das nun wäre alles ein bisschen lächerlich, wenn es die kritischen Medien gäbe, die das Geschehen analysieren. Dieselben Medien aber, die gerne auf das Internet als Medium der 'fake news' und Verbreiter von allerlei Bullshit herabsehen, verfehlen ihre journalistische Aufgabe. Möge die Forschung einmal ermitteln, woran es eigentlich liegt, an Korruption, Abhängigkeit, Opportunismus oder tatsächlichem Mangel an kritisch geschultem Geist, wer weiß?
Das zugrundeliegende Schema, demzufolge der Russe ohnehin der Böse ist, ist offensichtlich, wird auch gerne von dem schon erwähnten Guardian oder der taz geteilt. Dieser 'Anschlag' wird dann in einer Reihe mit dem (ebensowenig aufgeklärten) Anschlag auf Litwinenko und der Annexion der Krim genannt. So ist er, der Russe! Bei der Krim ist das Völkerrecht plötzlich wichtig und die Tatsache, dass niemand dabei ums Leben kam, scheint vernachlässigbar. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg, die völkerrechtswidrigen Bombardements auf Jugoslawien sind nur zwei Beispiele für die Völkerrechtsverachtung des Westens, die viele Menschen auf dem Gewissen hat. Da aber zählt das Völkerrecht nicht, und die vielen Opfer zählen auch nicht. Wir sind die Guten, der Russe der Böse.
Nun halte ich die gegenwärtige russische Regierung für reaktionär, aber sie ist keineswegs außenpolitisch in dem Maße aggressiv wie die NATO, sondern versucht sich an Bestandswahrung. An den kalten Krieg kann ich mich noch erinnern, die moralischen Einschätzungen waren damals vergleichbar. Anders als heute legten die Akteure damals aber Wert auf diplomatische Protokolle, man wollte nicht leichtfertig Konflikte vom Zaun brechen. Offenbar bewirkt die haushohe militärische Überlegenheit der NATO, dass diese den Krieg nicht mehr fürchtet. Das sollte sie aber.
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