Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Dienstag, 24. April 2018

Gift 2, noch ein Nachtrag

Dass der Westen das Völkerrecht nur bemüht, um Militäreinsätze und Sanktionen zu rechtfertigen, ansonsten aber das in erster Linie zur Verhinderung von Kriegen geeignete Völkerrecht ignoriert, wurde hier in den letzten Beiträgen dargestellt. Und doch, spreche ich mit freundlichen, gebildeten, aber politisch nicht besonders interessierten Kollegen, wird diese Behauptung mit einem skeptischen Lächeln beantwortet und anschließend beispielsweise von Russland angefangen, das ja das Völkerrecht mir der Annexion der Krim gebrochen habe etc. Darauf ich, in der Krim sei immerhin kein Schuss gefallen, auch sei das nachträgliche Votum für den Anschluss an Russland vermutlich sogar korrekt zustande gekommen, so dass dieser Verstoß vielleicht sogar als geheilt gelten könne. Im Gegensatz dazu stürben bei völkerrechtlichen Bombardements eben doch Menschen, es sei in viel eindeutigerer Weise völkerrechtswidrig. Erneut skeptisches Lächeln. Außerdem rechtfertige ein Völkerrechtsverstoß nicht einen anderen ("keine Gleichheit im Unrecht"; "aber der Peter hat doch auch ein Fenster kaputtgemacht".) Augenbrauen hoch. So ist er, unser Kleiner, er regt sich gern auf! Zitiere ich Quellen, werden diese bezweifelt. Denn so, wie ich darüber spreche, stand es nicht in der Zeit, der FAZ, der Süddeutschen Zeitung oder Spiegel Online, obwohl auch diese großenteils nicht anders konnten als den letzten Luftangriff auf Syrien für völkerrechtswidrig zu halten, wenn sie ihn auch meistens irgendwie für richtig hielten.

Alas!

Nun kann ich immerhin noch eine Quelle angeben, die nicht so ohne weiteres lächelnd wegzubügeln ist: den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages. Ja, steht dort, die Angriffe auf Syrien seien völkerrechtswidrig gewesen, würden aber von den Staaten, die sie vertreten, politisch-moralisch legitimiert.

Erfreulicherweise wird in der Stellungnahme auch darauf hingewiesen, dass das Völkerrecht als argumentatives Instrument stumpf in der Hand derjenigen werde, die es, wo es ihnen passe, brechen.
In den völkerrechtlichen Kommentaren zur alliierten Militäroperation gegen Syrien ist in die- sem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass das Einstehen für eine regelbasierte internationale Ordnung und ihre zentralen Eckpfeiler (wie insbesondere das völkerrechtliche Gewaltverbot) auch von einer entsprechenden klaren und unmissverständlichen Artikulation von Rechtsauffassungen begleitet werden müsse. Politische und rechtliche Glaubwürdigkeit hingen überdies davon ab, dass bei der völkerrechtlichen Beurteilung von Militäroperationen (Beispiele: Russische Krim-Annexion von 2014, NATO-Operation im Kosovo 1999, Militärschläge von NATO-Bündnispartnern gegen Syrien 2018) nicht mit zweierlei Maß gemessen werde.


Und dafür sei dem wissenschaftlichen Dienst Dank! Nun ist aber das Völkerrecht als ein Recht ohne zugehörige Gerichte wirklich nur ein Phantom, und wenn mächtige Staaten lange genug so oder so handeln, wird eben irgendwann eine völkerrechtliche Norm draus; denn gegen mächtige Staaten lässt sich keine Norm durchsetzen. Und so wird in der Stellungnahme auch konstatiert:
Ob sich mit den Militäreinsätzen von 2017 und 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in der Zukunft ein neuer Ausnahmetatbestand vom Gewaltverbot für Fälle von „humanitär begründeten Repressalien“ herausbilden wird, ist nicht gänzlich auszuschließen.
Wenn das Völkerrecht sich wirklich weiter aus einem zwischenstaatliche Gewalt abwendenden zu einem zwischenstaatliche Gewalt begründenden entwickelt, werde ich freilich auch unter die Völkerrechtsnihilisten gehen müssen. Im Grunde sehen wir eine weitere Varianten des schon von J. Fischer zur Rechtfertigung der völkerrechtswidrigen Angriffe auf Jugoslawien bemühten Prinzips, dass eine 'Schutzverantwortung' bestehe, in deren Namen und zur Wahrung der Menschenrechte das Völkerrecht gebrochen werden könne. Sieht man aber, mit wie vielen teilweise oder ganz erfundenen menschenrechtlichen Causis schon Militäreinsätze gerechtfertigt wurden, handelt es sich in Wahrheit um eine Abdankung des Völkerrechts. 'Menschenrechte' eignen sich perfekt dafür, die politische Öffentlichkeit mit PR-Kampagnen gegen diesen oder jenen Akteur aufzuhetzen. Sieh doch nur, die armen Kinder! Wir müssen einfach bomben! Im Falle Ex-Jugoslawiens wurde das Wirken von PR-Agenturen dankenswerterweise durch Beham/Becker untersucht, im allgemeinen kommt's nur raus, wenn jemand einen Fehler macht oder ein Whistleblower auspackt ('Cambridge-Analytics').

Es handelt sich überhaupt um eine Zeit, in dem man ungestraft 'menscheln' darf, um Gewalt zu rechtfertigen, während gleichzeitig Millionen von (auch dank uns, unsere Kriege, unsere Beiträge zur Veränderung des Klimas, dazu gewordenen) Flüchtlingen in Lagern versauern, weil die Menschlichkeit so weit eben doch nicht geht. Man kann das Wort 'Mensch' bald schon nicht mehr hören.

Mittwoch, 18. April 2018

Gift 2, ein Nachtrag

Außer verlässlichen internationalen Institutionen bräuchte eine friedlichere Welt auch guten Journalismus, der das allgemeine Vertrauen in diese Institutionen begründen könnte oder aber auch die Institutionen, die es nicht verdienen, anprangern. Guter Journalismus ist auf eigene Recherchen angewiesen, es genügt nicht, dieser oder jener Quelle zu glauben, zumal nicht, wenn so viele ein Interesse daran haben, falsche Quellen in die Welt zu setzen.

Robert Fisk war als vielleicht der erste westliche Journalist nach dem behaupteten Angriff mit chemischen Waffen in Douma. Sein Bericht schließt einen solchen Angriff noch nicht aus, schwächt aber bereits dessen wahrscheinlichkeit. Fisk war als einziger westlicher Journalist Zeuge des Massakers in Hama, das Assads Vater veranstalten ließ. Er ist nicht dafür bekannt, Massaker schönzureden, aber lässt sich auch nicht von einer vorgefassten Meinung dazu nötigen, ein Massaker zu vermuten.

Falls es keinen chemischen Angriff durch die Regierung in Douma gegeben hat, war die Begründung der USA, Frankreichs und des vereinigten Königreichs für ihr Bombardement falsch. Warten wir's ab. Guter Journalismus könnte helfen, hier Klarheit zu schaffen. Fehlen dann noch die verlässlichen Institutionen. Erlogene Gründe für den Krieg gegen den Irak haben keine Prozesse, keine völkerrechtlichen Sanktionen nach sich gezogen. Hier würden erst recht keine Sanktionen folgen. Wir sind so gut, dass wir auch, wenn wir lügen und bomben noch gut sind. Wir können auch auf Verdacht Sanktionen verhängen; nur ein Schuft könnte gegen uns Sanktionen verhängen.

Die Chance, die sinnlosen Rüstungsausgaben der Welt für sinnvolle Entwicklungen, erneuerbare Energie, Gesundheit, Bildung zu verwenden, wird durch solches Verhalten vertan. Es gibt eine mentale Voreingenommenheit, die uns Sünden des Handelns strenger beurteilen lässt als Sünden der Unterlassung. Es ist aber falsch, anzunehmen, dass spätere Generationen nicht auf unsere Gräber spucken werden. Im Rückblick kann es schwerer wiegen, versäumt zu haben, die Welt zu verbessern, als es noch Zeit war. Man muss keine furchtbare Kassandra sein, um dieses 'als es noch Zeit war' mit Inhalt zu füllen.

Die gegenwärtige Politik mag auch nicht verkommener sein als die frühere, das wäre zuzugestehen. Aber sie gibt sich einen viel moralischeren Anstrich, und damit ist sie mindestens verlogener geworden.

Montag, 16. April 2018

Ein syrischer Kollege

Ein syrischer Kollege glaubt, dass es ganz am Anfang tatsächlich den Ansatz zu einer syrischen Revolution gab, und er glaubt weiter, dass diese syrische Revolution ihre Hoffnung auf amerikanische Hilfe setzte. Für die syrische Regierung hat er nicht viel übrig, traut ihr im übrigen auch chemische Angriffe und alles übrige zu.

Und doch ist er sicher, dass die Syrer nach acht Jahren vor allem Frieden wollen, auch wenn dieser Friede wohl gegenwärtig nur mit Assad zu haben wäre.

Weiter beschreibt er das Verhalten der syrischen Regierung so, dass diese am Anfang des Aufstands die Führer einer wirklichen Opposition eliminiert habe und so bewusst eine Situation herbeigeführt habe, in der die Gegner sich als Terroristen bezeichnen lassen.

Ich kann nichts davon überprüfen oder widerlegen. Aber so stellte sich die Lage einem damaligen Studenten aus Damaskus dar.

Es bleibt die rückblickende Frage, was denn einer berechtigten Revolution geholfen und nicht nur einen endlosen Bürgerkrieg befeuert hätte, wenn die Sache einer solchen Revolution gerecht war. Die Antwort könnte dieselbe wie in vielen anderen Fällen zu sein: Es wäre besser gewesen, keine Waffen in dieses Land zu liefern, um einem Bürgerkrieg auf Dauer zu unterhalten. Das betrifft einerseits den Iran und Russland, andererseits aber die USA, Saudi-Arabien, die Türkei und Quatar. Auch Heckler&Koch-Gewehre haben ihren Weg nach Syrien gefunden. Wenn die Kräfteverhältnisse anfangs einer Revolution günstig gewesen wären, wenn etwa ein Teil der Armee und ein großer Teil der Bevölkerung sich deren Seite geschlagen hätte, so hätte sie gewinnen können oder eben nicht. Nach kurzer Zeit aber spiegelten die Kräfteverhältnisse nur noch die der sich einmischenden Mächte, so dass kein Ausgang mehr sich als 'Sieg der Syrer' deuten lässt. Fließen keine Waffen nach, ist es auch leichter, alle Parteien zu Verhandlungen zu bringen.

Neben dem Feuer stehen und es mit Öl versorgen war vermutlich eine der schlechtesten Möglichkeiten.

Freitag, 13. April 2018

Gift 2

Kaum ließ Obama verlautbaren, der Einsatz chemischer Waffen durch Assad sei die rote Linie, bei deren Überschreiten die USA in den Krieg eintreten werden, wurde von Oppositionellen bei zwei Gelegenheiten eben das behauptet. Die russische Regierung vermittelte damals die Aushändigung und Vernichtung der chemischen Waffen, die sich im Besitz der syrischen Armee befanden. Um die chemischen Angriffe, die stattgefunden haben sollen, wurde es recht still. Russland behauptete, bei Untersuchungen eine chemische Signatur von ursprünglich in libyschem Besitz gewesenen Giften gefunden zu haben, die dann in die Hand von islamistischen Rebellen gekommen seien. Nun ist Russland ebenso Partei wie alle anderen, es gibt aber auch keinen Grund, ihnen weniger als den anderen zu glauben.

Jetzt also steht die syrische Regierung kurz vor der Rückeroberung des Siedlungsgebiets um Damaskus. Ausgerechnet jetzt also soll sie Chlorgas verwendet haben, und zwar in völlig irrationaler Weise nicht für einen Massenmord, sondern in sehr viel kleinerem Umfang, der sich auch mit konventionellen Waffen erreichen lässt. Es passt nicht recht zusammen, zumindest das 'cui bono' weist eher auf die Aufständischen oder die diese unterstützenden Mächte als auf Damaskus. Die Berichte über den Angriff stammen aus zwei Quellen, die beide Partei sind, auch wenn sie im Gewand einer NGO kommen. Es wäre also auch in diesem Fall ratsam, mit Urteilen vorsichtig zu sein. Es mag sein, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen eine unabhängige Untersuchung -- durch die OPCW -- schwierig ist, aber so sähe nun einmal das einzige gegen reine Propaganda gefeite Protokoll aus. Wir dürfen uns an erfundene Weapons of Mass Destruction im Irak erinnern, wir dürfen uns an falsche kuwaitische Opfer erinnern, an den erfundenen Hufeisenplan und an einen Jamie Shea, der durch die Welt reiste mit seinem Vortrag "How to Sell a War". Diese Erinnerung bedeutet, dass an einem größeren Militäreinsatz der USA in Syrien interessierte Parteien selbstverständlich auch an der Fabrikation eines Casus Belli interessiert sind, dass solche Fabrikationen vorkamen und auch diesmal der Fall sein können.

Eine weitere Erinnerung wäre angebracht: Massenvernichtunswaffen können Kriege entscheiden, Sadam Husseins Einsatz von Giftgas in Halabja und gegen den Iran war skrupellos, aber nicht irrational. Diese Einsätze wurden damals vom Westen übrigens gebilligt oder beschwiegen, denn da war Hussein noch 'unser' Tyrann. Die Einsätze, die in Syrien behauptet wurden, sind allesamt so klein, dass sie keine 'sinnvollen' Anwendungsfälle für Giftgas darstellen.

Das alles bedeutet nun nicht, dass ein Einsatz solcher Waffen durch die syrische Armee unmöglich wäre. Aber er ist nicht sehr wahrscheinlich, und keiner derjenigen, die jetzt zum Krieg trommeln, weiß wohl Genaueres, weil weder Frankreich (Macron), noch GB (May), noch die USA (Trump) eigene Geheimdienstleute in der Ost-Ghuta vor Ort haben, und weil die Berichte und Belege der Weißhelme und der Syrian American Medical Society eben keine unbezweifelbaren und unparteiischen Belege sind. Es wäre ein Mindestgebot, die Ergebnisse der OPCW abzuwarten, und wenn die keinen klaren Hinweis auf einen Angriff durch die Regierung geben, das auch zuzugeben.

Falls aber in den USA, in Frankreich und im Vereinigten Königreich schon beschlossen wurde, zum höchst moralischen Einsatz zu blasen, darf gefragt werden, wieso diese Akteure gleichzeitig Saudi-Arabien gestatten, Jemeniten zu ermorden. Und es darf bemerkt werden, dass das syrische Desaster sich auch der durchweg völkerrechtswidrigen Einmischung der USA, der Türkei, Saudi-Arabiens in Syrien und der Unterstützung diverser Milizen verdankt, von denen nicht wenige dann zu IS geworden sind. Völkerrecht wird aber nur gerne als Kriegsgrund bemüht, nicht aber, wie es sein sollte, als Kriegshinderungsgrund. Übrigens ist Russland auf Bitte der syrischen Regierung im Einsatz, und das ist, ob es uns gefällt oder nicht, völkerrechtskonform. Aus solchen Beispielen speist sich die Verachtung des Völkerrechts durch die USA, das ist sogar teilweise verständlich. Und doch verwenden sie das Völkerrecht gerne zur Ächtung anderer.

Es wäre schwer zu realisieren, gewiss, aber müsste die 'Weltgemeinschaft' nicht ermitteln, welcher Anteil der Syrer einen Frieden unter einem den Bürgerkrieg gewinnenden Assad einem fortgesetzten Bürgerkrieg vorzöge; ein demokratisches Votum der Syrer also, an dem sich ablesen ließe, ob weitere militärische Einmischungen etwas anderes sein könnten als Machtmissbrauch? Wenn die USA zu bomben anfangen, werden sie ja behaupten müssen, dass sie 'den Syrern' gegen 'Assad' beistehen. Wie viele Syrer wollen das eigentlich?

Im letzten Absatz standen nur müßige Gedanken und rhetorische Fragen. Bei moralischem Geseier, Waffenlieferungen und Bombardements geht es offensichtlich nicht darum, was die Syrer wollen, sondern darum, was die beteiligten Mächte wollen. Das gilt für Russland, aber selbstverständlich auch für die USA, die Türkei, Saudi-Arabien und die halbherzig den USA Schützenhilfe leistende europäische Union. Im Nachhinein wird sich vielleicht einmal feststellen lassen, wessen Wirken desaströser oder weniger desaströs für Syrien war. Der Irakkrieg empfiehlt die USA jedenfalls nicht als Kandidaten für segensreiche Interventionen.

Die deutsche Regierung hat immerhin die Beteiligung an einem Militärschlag in Syrien ausgeschlossen, gleichzeitig aber erklärt, sie sehe Syrien in der Verantwortung.

Huch!
Während ich schreibe, erfahre ich, dass der Militärschlag stattgefunden hat, ohne Untersuchung, ohne Beweise. Die deutsche Regierung erklärt aber doch den Schlag für angemessen. Die Medien reagieren verhalten, während sie doch andererseits seit Trumps Wahl gerne ausführlich auf dessen Unverantwortlichkeit und Unberechenbarkeit eingehen. Es finden sich auch vorsichtige Formulierungen, aber doch so gut wie keine fundamentale Kritik und kein ernsthafter Versuch, dahinter zu kommen, was Spin und Propaganda, was Wahrheit ist. Es zählt offensichtlich kein Recht, keine völkerrechtliche Prozedur, sondern allein die Macht zu handeln. Wenn Russland nun eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats fordert und mit der UN die Relikte des Völkerrechts ins Spiel bringen will, so ist es vollkommen im Recht und "wir" vollkommen im Unrecht. Seltsamerweise ist die politische Kultur so weit verkommen, dass diese Einschätzung es allenfalls in kleine Zeitungen mit wenig Verbreitung schafft. Wie kann der Russe es wagen, gegen uns völkerrechtliche Argumente vorzubringen! Ha!

Das vermutlich schlimmste an dem gegenwärtigen Geschehen ist die Auswirkung auf alle Mächte, die voraussehen können, in Konflikte mit den USA und ihren Verbündeten zu kommen. Sie erkennen, dass nur Rüstung, Schrecken, Gewaltdrohung sie wird schützen können, da es kein Völkerrecht mehr gibt. Sie werden entsprechend handeln und Mittel, die für Nützliches verwendet werden können, in Rüstung versenken. Bisher stehend die USA alleine für fast die Hälfte der Rüstungsaufgaben. Durch die Verwendung, die sie von ihren Gewaltmitteln machen, treiben sie andere in die nämliche Barbarei.

Gift 1

In London wird ein ehemaliger russischer Agent mit seiner Tochter vergiftet. Wenige Stunden behauptet die englische Regierung, es handle sich um ein in der Sowjetunion entwickeltes Nervengift 'Novichok', verantwortlich sei: Russland, d.h. Putin. Die Polizei lässt zwar verlautbaren, die Untersuchung könne lange dauern. Die Formeln dieser Kampfstoffe sind schon seit längerem veröffentlicht, so dass viele Akteure sie synthetisiert haben könnten. Und auch in Russland hat der Staat verhältnismäßig wenig Kontrolle, so dass niemand ausschließen kann, dass Gifte aus militärischen Einrichtungen in die Hände irgendwelcher Mafien gelangen.

Theresa May ist aber sicher, verrät aber nicht, woher sie das wissen will. Internationale Protokolle über den Umgang mit Zwischenfällen, bei denen chemische Kampfstoffe zum Einsatz kommen, kümmern sie nicht. Die europäischen Regierungen, die USA ziehen mit. Russland pocht wiederholt darauf, man müsse Beweise vorlegen, bzw. eine gemeinsame Untersuchung anstrengen. I wo! So ist er halt der Russe.

Ehemals vernünftige Zeitung wie der Guardian brauchen etwa eine Woche, bis sie zum erstenmal eine kritische Äußerung darüber drucken, andere haben es bis heute nicht getan. Keiner der europäischen Politiker, von den amerikanischen zu schweigen, befasst sich mit dem 'cui bono', das gerade nicht für Russland als staatlichen Täter spricht. Keiner spricht den offensichtlichen Widerspruch an zwischen einer Zuschreibung, derzufolge Russland einerseits ein skrupellos rationaler Akteur ist, und der anderen Zuschreibung, derzufolge dieser rationale Akteur für einen einfachen Mord nicht etwa eine Schusswaffe oder ein gewöhnliches Gift, sondern einen chemischen Kampfstoff nimmt (dessen einzig 'sinnvolle' Anwendung die einer Massenvernichtungswaffe im Krieg ist), der direkt auf Russland als möglichen Täter verweist, und eine Methode, die noch dazu versagt. Und warum ein Agent, wenn er denn gefährliches Wissen hätte, erst nach langem Aufenthalt in England ermordet werden sollte, ist ebenfalls unklar.

Es passt nichts zusammen, aber was weiß ich schon? Für jedes diese Argumente ließen sich vielleicht mehr oder minder komplizierte Widerlegungen basteln. Es wäre vernünftig, das Ergebnis einer internationalen Untersuchung abzuwarten und zu akzeptieren. Das aber geschieht nicht; einer Vermutung folgen Sanktionen, diplomatischer Schlagabtausch, Drohungen, Verbalinjurien. Das nun wäre alles ein bisschen lächerlich, wenn es die kritischen Medien gäbe, die das Geschehen analysieren. Dieselben Medien aber, die gerne auf das Internet als Medium der 'fake news' und Verbreiter von allerlei Bullshit herabsehen, verfehlen ihre journalistische Aufgabe. Möge die Forschung einmal ermitteln, woran es eigentlich liegt, an Korruption, Abhängigkeit, Opportunismus oder tatsächlichem Mangel an kritisch geschultem Geist, wer weiß?

Das zugrundeliegende Schema, demzufolge der Russe ohnehin der Böse ist, ist offensichtlich, wird auch gerne von dem schon erwähnten Guardian oder der taz geteilt. Dieser 'Anschlag' wird dann in einer Reihe mit dem (ebensowenig aufgeklärten) Anschlag auf Litwinenko und der Annexion der Krim genannt. So ist er, der Russe! Bei der Krim ist das Völkerrecht plötzlich wichtig und die Tatsache, dass niemand dabei ums Leben kam, scheint vernachlässigbar. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg, die völkerrechtswidrigen Bombardements auf Jugoslawien sind nur zwei Beispiele für die Völkerrechtsverachtung des Westens, die viele Menschen auf dem Gewissen hat. Da aber zählt das Völkerrecht nicht, und die vielen Opfer zählen auch nicht. Wir sind die Guten, der Russe der Böse.

Nun halte ich die gegenwärtige russische Regierung für reaktionär, aber sie ist keineswegs außenpolitisch in dem Maße aggressiv wie die NATO, sondern versucht sich an Bestandswahrung. An den kalten Krieg kann ich mich noch erinnern, die moralischen Einschätzungen waren damals vergleichbar. Anders als heute legten die Akteure damals aber Wert auf diplomatische Protokolle, man wollte nicht leichtfertig Konflikte vom Zaun brechen. Offenbar bewirkt die haushohe militärische Überlegenheit der NATO, dass diese den Krieg nicht mehr fürchtet. Das sollte sie aber.

Lebt Mahmoud Suleyman noch?

Zwei Jahre vor dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges war ich zwei Monate in Aleppo. Die 'Graue' war wirklich eine graue Stadt, vor allem im Winter. Als sich der erste Vorfrühling zeigte, wollte ich einen Ausflug machen und etwas Grünes sehen. Ich suchte mir auf einer schlechten Landkarte ein Ausflugsziel für einen Tagesausflug, es sollte einen Fluss geben und nicht zu weit von Aleppo entfernt sein. So verfiel ich auf Afrin und nahm einen halsbrecherisch fahrenden Minibus von einem der Busbahnhöfe. In Afrin angekommen spazierte ich aus der Stadt in Richtung auf die Felder, die tatsächlich schon grün waren, kam zu einem Flüsschen. Da ich weiter wandern wollte, durchwatete ich das schleimige Gewässer und ging dann weiter auf einen Hügel zu. Dort waren einige Menschen mit einem Wagen und einem Traktor. Die riefen mir etwas zu, das ich nicht verstand, und winkten mich heran. Ich ging also zu ihnen, und wir kommunizierten in meinem bruchstückhaften Arabisch und ihrem bruchstückhaften Englisch. Es war schwierig, aber ich verstand, dass es sich um kurdische Bauern handelte, die gerade Nevroz feierten. Sie luden mich zu sich nach Hause ein. Obwohl ich nicht vorgehabt hatte, irgendwo zu übernachten und auch kein Gepäck dabei hatte, ging ich mit ihnen.
Mein Gastgeber, Mahmoud Suleyman aus Kafr-Schil, besaß etwa fünfhundert Olivenbäume und eine eigene Ölpresse. Aus den Pressrückständen machte er Holzkohle zum Schischa-Rauchen. Wir redeten weiter mit Händen und Füßen, dann gingen wir die Berühmtheit des Dorfs besuchen, einen Künstler, der große Betonskulpturen herstellt, aber vor allem dafür berühmt ist, vor Jahren auf einem Motorrad um die Welt gefahren zu sein. Auch konnte der Mann Englisch. Dann gingen wir zurück zum Bauernhof, wo die Vorbereitungen für das abendliche Fest im Gange waren. Es wurde gegrillt und viel gegessen. Es kamen allerlei Verwandte und auch ein paar Bekannte. Einer war Jeside, wie sie mir erklärten, die anderen Sunniten, aber es spiele keine Rolle, sie seien alle Kurden. Über Politik haben wir, da die Verständigung schwierig war, kaum unterhalten. Etwas mehr über Landwirtschaft, da mein Vater Bauer war und es mich wirklich interessiert.
Ich kann mich an viele Details des Tages erinnern, bekomme aber die Reihenfolge nicht mehr zusammen. Irgendwann saß ich mit Mahmoud, seiner Frau, den Kindern und ein paar Verwandten in einem großen Raum auf flachen Sitzkissen, die rundum liefen. Dort gab es auch einen Fernseher, in dem vorübergehend eine kurdische Sendung lief.
Irgendwann ging ich ins Bett, ich hatte einen Raum für mich und schlief gut, nachdem ich die laut tickende Wanduhr unter einer Decke begraben hatte. Am morgen vergaß ich die Wanduhr wieder auszupacken und frage mich immer noch, was sie sich gedacht haben, als sie sie fanden, denn sie schienen viel bessere Nerven als ich zu haben und konnten sich vielleicht nicht vorstellen, dass einen das Ticken verrückt macht.
Am morgen dann gab es zum Frühstück Fladenbrot, Olivenöl, Gewürze, Oliven, Käse. Zum Abschied schenkte mir Mahmoud Suleyman noch eine Flasche Olivenöl. Das Olivenöl war köstlich, ja das beste, das ich je gekostet habe. In Italien könnte Mahmoud dafür Höchstpreise erzielen.
Ich weiß nicht ob Mahmoud noch lebt. Ich war ganz erleichtert, als die Kurden Afrins ihr Territorium zu kontrollieren begannen. Sie wollten nichts erobern und nicht vom allgemeinen Chaos und islamistischen Gruppen erobert werden. Unter den vielen Akteuren im syrischen Bürgerkrieg zählen die Kurden Afrins für mich zu den vernünftigsten. Bis vor kurzem durfte ich daher denken, dass Mahmoud noch lebt. Nach der türkischen Invasion haben die türkische Armee und irgendwelche Milizen von ihren Gnaden in Afrin das Sagen. Was Mahmoud betrifft, bin ich inzwischen weniger optimistisch. Die türkische Aktion wurde von den USA, von der NATO, von der EU, von Deutschland letztlich abgenickt. Der Westen, der sich noch bei jedem Unrecht, an dem er beteiligt ist, auf die Menschenrechte beruft, steht völlig nackt da, nichts verdeckt Lüge, Heuchelei und Komplizenschaft mit Verbrechen. Welch eine Schande.