Claudio Magris erhielt im Oktober 2009 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Felicitas von Lovenberg (FAZ) passt das nicht. Magris sei ein so verdienstvoller Autor und habe schon so lange für den Preis nahe gelegen, dass die jetzige Entscheidung für Magris "in ihrer Einfallslosigkeit schon wieder kühn anmute".
Mal geschenkt, dass diese pseudodialektischen Formulierungen à la "Die Suppe schmecke so schlecht, dass sie schon wieder gut schmecke" ganz und gar einfallslos sind, und dass mir jemand, der sich so äußert, eher einfallslos und abgeschmackt, nicht aber kühn vorkommt. Welchen Preisträger hätte sich FvL denn gewünscht? Einen "zeitgemäßeren" anscheinend, wobei die drängenden Fragen der Zeit etwa mit Iran, Israel, der Weltwirtschaftskrise zu tun hätten.
Ihre kleine Liste der Bedrohungen und Katastrophen ist aufschlussreich durch Abwesenheiten: Westliche Staaten führen Krieg in Afghanistan und dem Irak. Eine Art Kulturkampf findet statt, der Verunglimpfungen von Türken, Arabern, Muslimen salonfähig macht. Im Durchschnitt ertrinken täglich drei afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer, und diejenigen, die es lebendig nach Europa schaffen, haben kaum eine Chance, als Flüchtlinge anerkannt und aufgenommen zu werden, so dass ihnen nur die Klandestinität bleibt, in der sie erpresst und ausgebeutet werden: In der ganzen EU putzen sie Klos und ernten sie Gemüse.
Jeder macht bekanntlich andere Listen, weil nun mal jedem anderes wichtig ist. Die Lovenbergsche Liste enthält aber kein einziges Problem, das der deutschen (europäischen, westlichen) Gesellschaft ein schlechtes Gewissen bereiten müsste, die zweite dagegen ausschließlich solche Probleme. Der Stiftungsrat habe "die Chance vertan, den Friedenspreis wieder zu einer Auszeichnung zu machen, mit deren Träger sich die Leser wirklich beschäftigen", so FvL. Hätte es also ein Autor sein sollen, der dadurch Aufmerksamkeit verdient, dass er sich mit einem Thema befasst, das gerade in Mode ist und das uns in kein schlechtes Licht setzt?
Nun ist Magris kein besonders politischer Autor, aber auch nicht ganz unpolitisch. Wenn man so etwas wie ein "Thema" ausmachen würde, dann wäre es ein Leben in kultureller und sprachlicher Vielfalt, mit Toleranz und Neugierde, und eben auch dessen Bedingung, der Friede. Magris hat in seiner Dankesrede vor teilweise verkrampften Gesichtern von den vielen Kriegstoten seit dem zweiten Weltkrieg ("der dritte Weltkrieg hat stattgefunden"), von der Abwehr von Flüchtlingen, der Ausgrenzung von Einwanderern und in einer Anekdote vom neuen Antiislamismus gesprochen. Von der zweiten Liste also, nicht von der Lovenbergschen. Es war, wie nicht anders zu erwarten, eine gelehrte, zitatenreiche und teilweise langweilige, dennoch gute Rede. Dieselben Eigenschaften schätze ich an seinen Büchern, ja, auch die Langeweile, ich lese hin und wieder darin, aber nie viel auf einmal. Sicherlich wird so ein Werk nicht eine große "Aufmerksamkeit, die zur Diskussion einlädt" erhalten, aber wieso ist das ein Mangel? Die Diskussion im Talkshow-Format, die ein Thema im Zeitfenster der höchsten Aufmerksamkeit durchhechelt und danach vergisst, trägt kaum zur Humanisierung bei. Ob bei solchen Diskussionen auch literarische Werke zitiert werden, spielt keine Rolle. FvL überschätzt offenbar die Literatur, wenn sie ihr eine solche Wirkung auf Diskussionen zutraut. Andererseits unterschätzt sie die so gar nicht spektakuläre Möglichkeit, dass humane Bücher den einen oder anderen stillen Leser etwas humaner machen.
Vielleicht ist es ganz anders: FvL kann Magris Bücher nicht leiden und gönnt ihm deshalb den Preis nicht. Das wäre recht, ein mögliches Urteil. Stattdessen aber (schleimiges) Lob "Es ist besonders bitter, diese Entscheidung kritisieren zu müssen, da sie einen allseits geschätzten Autor ehrt. Claudio Magris, dieser elegante, mit seinem historischen, geographischen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Wissen spielende Assoziationsakrobat von der adriatischen Küste...." Was sie da lobt, ist aber gerade das bei Magris Problematische, denn so überbordende Gelehrsamkeit lässt sich nur von wenigen in großer Dosis ertragen. Mir scheint, man muss sich nicht vor so viel Wissensautorität verbeugen, um schätzen zu können, dass es auch solche Literatur gibt, die man nicht immer, aber ad ore incerte lesen mag. Die Hypothese, dass FvL Magris' Bücher eigentlich nicht leiden kann, ist noch nicht verworfen - "... eine von alteuropäischem Habitus getragene Detail- und Beobachtungsfülle, die beeindruckt, aber auch ermüdet".
Beinahe könnte man die Entscheidung des Stiftungsrats "kühn" nennen, weil nämlich die Reaktion eines mode- und eventorientierten Feuilletons "voraussehbar" war. Eine Literaturkritik, die nach zeitgemäßen Themen ruft, ist leider nur ein Wurmfortsatz des Spektakels, das die Literatur zwar immer begleitet hat, aber "vergeht wie die Spreu im Wind." Wirklich kühn ist jedoch ein Preis für einen Autor, den Bildungshuber aus Prinzip nicht ablehnen können, auch wenn sie ihn nicht lesen, nicht. Verdient hat er ihn nicht weniger als die anderen Preisträger und mehr als manche.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
1 Kommentar:
Lovenber ist zur Romantalkshow-Dame geworden, da muß alles zwischen zwei Einspieler passen, damit es bei Ihr durchgeht. Die hier bei Magris gelobte "Langeweile" tut das eben nicht.
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