Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Donnerstag, 26. November 2009

Bildung, Integration und so weiter

Es soll um einen Fall gehen, der daran erinnert, wie verbesserungswürdig unsere Institutionen und Gesetze sind. Zunächst aber eine

Vorrede

Unser Fall weist auf einen bestimmten Mangel des Berliner Schulgesetzes hin, der im Widerspruch zu den vielen hochtrabenden Reden über "Bildung" steht. Mit "Integration" hat unser Fall eigentlich nichts zu tun, auch wenn eine Deutsch-Türkin betroffen ist. Dieses Merkmal allein wäre dennoch ausreichend, um eine öffentliche Debatte über den Fall früher oder später auf das Thema "Integration" zu lenken. Da die Mängel des Bildungssystems sich gerade in Berlin so manifestieren, dass besonders viele 'Migranten' 'Bildungsverlierer' sind, bleibt es nicht aus, dass die Debatten immerzu beide Themen ("Bildung" und "Migration/Integration") verschränken, auch wenn sie jeweils das Thema verfehlen: Es wird zu wenig über Systemmängel geredet und zu oft Gruppen eine Schuld zugeschustert.

Bekanntlich ging man mit verblüffender Realitätsferne lange davon aus, dass die "Gastarbeiter nach Hause gehen", wenn man sie hier nicht mehr braucht, "Integration" war geradezu unerwünscht, debattiert wurde über Maßnahmen zur Förderung der Rückkehrbereitschaft. Erst in den 90ern dämmerte es der Politik, dass die meisten von denen, die ihr Arbeitsleben hier verbracht hatten, auch hier bleiben würden, und dass deren Kinder und Enkel ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft Deutsche wären.

Auf einmal ging es also um "Integration", bzw. wurde deren Mangel beklagt. Die nicht "integrierten" Migranten/Ausländer/Gastarbeiter wurden als "Problem" geschildert. Was bei einem "Deutschen" ein individuelles Problem ist (Kriminalität, kein Schulabschluss), wird bei "Migranten" als Migrantenproblem dargestellt. Das pflegt man mehr oder minder schlecht mit Statistiken zu begründen.

Derartige Probleme häufen sich aber auch bei "deutschen" Arbeiterkindern, die am falschen Ort geboren sind. Das spiegelt sich seit kürzerem in den Debatten, in denen nicht nur Ausländer ihr Fett kriegen, sondern auch deutsche "Unterschichten". Gemeinsam werden sie oft als "bildungsferne Schichten", die dieses Land nicht in dem Maße brauche, dargestellt - so viele Klos gibt's auch nicht zu putzen.

Das deutsche Schulsystem ist wiederholt kritisiert worden, sowohl von Innen, als auch von internationalen Einrichtungen (OSZE). Es ist bekannt, dass es schlecht abschneidet, wenn es um die Chancen von Arbeiterkindern oder Migranten geht. Das Gymnasium war Distinktionsmerkmal des Bürgertums, und das ist trotz Verbreiterung der Schicht so geblieben. Ein Bildungssystem sollte es sich nicht leisten können, jemanden verloren zu geben. Unseres tut dies regelmäßig mit einem großen Teil derjenigen, die von der allgemeinen Schulpflicht erfasst werden.

Gerne wird abgewinkt: Das Problem seien nicht unsere Institutionen, sondern DIE. Seltsam, dass es in anderen Ländern anders aussieht, und zwar bei Einwanderern aus denselben Ländern. Voreingenommen sagen viele, es sei schon alles recht "bei uns", nur dass DIE ihre Bringschuld nicht bringen. Die wollen sich nicht integrieren, wollen nicht lernen, ist irgendwie deren Kultur. Manche, wie Regina Mönch von der FAZ, halten mit ihren Ressentiments nicht hinterm Berg. Jetzt kommen sie wieder mit der Hauptschule, dabei ist doch klar, dass die Türken und Araber ein Problem sind. Oder in der Art Sarrazins: Deutsche und türkische Unterschichten sind wirtschaftlicher Ballast, die kann man nur zwingen. OSZE, was kümmert das uns. Mia saan mia.

Diese Feistigkeit lässt sich zwar auch gelegentlich mit Statistiken bzw. der Kritik schlechten Gebrauchs von Statistiken erschüttern. Aber vielleicht noch wichtiger ist, an Einzelfällen zu sehen, was "bei uns" systematisch nicht stimmt, welche Bringschuld das deutsche Gemeinwesen verweigert.

Ein Fall

Es geht um D., 24 Jahre, deutsche Staatsbürgerin und in Berlin als Tochter von Einwanderern aus der Türkei geboren. - Was haben diese Eigenschaften mit D. zu tun? Was kümmert's mich, ob sie Deutsch-Türkin, türkisch-deutsch, türkischstämmige Deutsche, Migrantenkind ist? Keines dieser Wörter ist neutral, denn sie werden verwendet, weil 'Herkunft' als ein so wichtiges Merkmal angesehen wird. "Mein Zahnarzt ist auf Inlays spezialisiert. Er ist Jude." Ist ein bisschen merkwürdig, nicht? "Mein Zahnarzt ist auf Inlays spezialisiert. Er ist Türke." klingt ganz normal. Hat Deutschland wirklich seine antirassistische Lektion aus den Greueln der Nazi-Zeit gelernt? Teils-teils, möchte man sagen. Warum stört bei deutschen Straftätern die Straftat, bei 'ausländischen' Straftätern das Faktum der Herkunft? Weil DIE eigentlich nicht her gehören und dafür, dass man sie hier duldet, besonderes Wohlverhalten und besonderen Assimilationswillen an den Tag legen sollen. Als 'ethnisch Deutscher' darf ich gottlob die Assimilation verweigern und mich in Berlin weiter wie in meinem Dorf benehmen. D. ist also, um es kurz zu machen, eine normale junge Berlinerin. Der Vater war Facharbeiter, die Mutter hatte zeitweise ein Blumengeschäft. Beide waren von Anfang an auch in Vereinen engagiert und sprechen gut deutsch.

Zurück zu D.'s Geschichte:
D. ist überdurchschnittlich intelligent, will aber nach dem Erwerb der mittleren Reife nicht mehr zur Schule gehen. Sie hält sich mit Minijobs über Wasser, besucht vorübergehend eine freies Gymnasium, in dem sie sich allerdings unwohl fühlt. Sie wäre nicht die erst und nicht die letzte Heranwachsende, die vorübergehend orientierungslos ist. Auch in den Jahren des Sich-Durchwurstelns lernt sie viel. Mit ihrem Freund verbringt sie ein halbes Jahr in Syrien, lernt dort Arabisch und macht ein Praktikum beim UNHCR-flüchtlingsprogramm.

Schliesslich wird ihr klarer, was sie tun will. Sie will eine Ausbildung als Erzieherin machen, wobei sie gerade in Berlin mit ihren beiden Muttersprachen, sowie dem Arabischen viel anfangen könnte. Für eine solche Ausbildung wird ein Abitur oder mindestens drei Jahre regelmäßiger Berufstätigkeit verlangt. Aus diesem Grund und weil sie die Option auf ein späteres Studium haben möchte, will sie nun doch die allgemeine Hochschulreife erwerben. In Berlin ist das Abitur im zweiten Bildungsweg aber nur denen zugänglich, die entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder aber drei Jahre regelmäßiger Berufstätigkeit nachweisen können. Erklärt ihr der Schuldirektor und steht auch im Berliner Schulgesetz. Und wie leid's ihm täte, wenn er in ihre schönen dunklen Augen schaue. Glibber, danke. Ohne Ausbildung kein Abitur, ohne Abitur keine Ausbildung? Erst kommt die Wanze und dann die Wanzenordnung, denkste. Und auf der Arbeitsagentur sagte man über eine mögliche Förderung des Abiturs: "Sie hatten ja ihre Chance und haben Sie nicht genutzt." Ja, wenn Geld dahinter wäre, wär's kein Problem, eine Privatschule zu finden. Der verlorene Sohn gutbürgerlicher Eltern kann's immer noch schaffen, D. aber bekommt erst mal eine Bildungshürde vorgesetzt. Wenn du nach drei Jahren Brötchen verkaufen immer noch Abitur machen willst und kannst, sind wir für dich da.


Eine Nachrede


Was haben wir nicht alles gehört in den letzten Jahren: Bildungsoffensive, lebenslanges Lernen, die Wissensgesellschaft. Der mangelnde Bildungswille der bildungsfernen Schichten, das war der Kern vieler Diagnosen unserer Probleme. Wir haben aber kein allgemeines bildungsförderndes System. Sondern noch immer ein Abitur, das für die (erweiterte) Bürgerschicht gedacht ist. Abitur machen mit vom Standard abweichenden Lebensläufen ist ein Luxus, den wir grosszügigerweise unter gewissen Umständen fördern, unter anderen nicht.

Man braucht, um eine Lehrstelle als Schreiner zu finden, in Berlin inzwischen einen guten Realschulabschluss oder ein Abitur. Die achtbaren und anständig bezahlten Berufe für Nicht-Abiturienten werden immer weniger. Ein Hautpschulabschluss in Berlin ist eine Option auf Arbeitslosigkeit. Es kann nicht sein, dass, wer kein Abitur schafft, aussortiert und allenfalls alimentiert wird. Die Würde des Menschen darf ja nicht von Bedingungen an Intelligenz oder den Schulabschlusses abhängig gemacht werden. Es kann aber auch nicht sein, dass man es in einer solchen Lage irgendjemandem erschwert, ein Abitur zu machen. Hurra! und Willkommen! müsste es heißen.

Wie immer es D. ergeht, sie wird ihren Teil zu den entsprechenden Statistiken beitragen. Irgendwer wird sich auf solche Statistiken stürzen und etwas über die Bildung und Erwerbsbiographien von jungen Berlinern oder Menschen mit Migrationshintergrund oder Arbeiterkindern sagen. Was hätte das mit einer jungen Frau zu tun, die als Heranwachsende mit der Schule nicht gut zurechtkam, dann aber wieder etwas werden möchte, und der man es dabei denkbar schwer macht? Wenn man diese Statistken in Einzelfälle aufdröseln könnte, wie oft wohl fände man klare Spuren eines Versagens des Staates und der Gesellschaft? Und der OSZE-Vergleich gibt Grund zur Annahme, dass unser Staat und unsere Gesellschaft in diesen Dingen öfter versagt als Staat und Gesellschaft in Skandinavien. Fürs Protokoll: Unser Staat ist verbesserungswürdig.

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