Wieder Paris, wieder ein Anschlag
auf die ganze freie Welt. Nur zehn Monate nach dem Attentat auf
„Charlie Hebdo“ erschüttert eine noch blutigere Tat die französische
Hauptstadt und die übrige Menschheit, jedenfalls den Teil von ihr, den
man zivilisiert nennen kann. Der "11. September Frankreichs" wird der konzertierte Terrorangriff mit seinen vielen Toten und Verletzten genannt. (Berthold Kohler, FAZ, "Im Weltkrieg", 15.11.2015).
Ein Verbrechen in seinem Zusammenhang
Eines Vorweg: Es ist eine Tugend des Verstands, Handlungen und Situtationen auf Ursachen und Wirkungen zu untersuchen. Das entgegengesetzte Laster ist an Gestalten wie Berthold Kohler (FAZ) und Seehofer (CSU) zu sehen. Wer das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht bedenkt, wird immer wieder dazu beitragen, genau das anzurichten, was angeblich vermieden werden soll.
Eine Tugend der Urteilskraft wiederum ist, "das rechte Maß" beim Handeln und beim Urteilen zu finden. Diese Tugend aber kann nicht am einzelnen Gegenstand ausgebildet werden, sondern nur am Ganzen. Wer sie nicht hat oder nicht haben will, kann bald das eine Verbrechen oder die eine gute Tat grotesk überhöhen, bald achselzuckend über andere, größere Taten hinweggehen.
Es gab nun also terroristische Anschläge in Paris, durch die mindestens 129 Menschen ums Leben gekommen sind. Dazu bekannt hat sich der IS, dessen Existenz sich nachweislich den westlichen Kriegen und Einmischungen im Irak, Libyen und Syrien verdankt. In Syrien wurden noch bis vor kurzem die Vorläufergruppierungen des IS von den USA und ihren Verbündeten unterstützt (siehe zum Beispiel die
Zusammenfassung im Guardian.) Der Krieg im Irak hat, je nach Schätzung einige Hunderttausend bis über eine Million Menschen das Leben gekostet, davon viele, sogar die meisten, Zivilisten, bzw. "Unschuldige". Und selbiger Krieg hat einen gescheiterten Staat produziert, in dem 2015 wöchentlich mehr Menschen (auch Unschuldige) sterben als vorgestern in Paris gestorben sind. Die desolaten Verhältnisse begünstigen nicht nur den (möglicherweise recht dünnen) ideologischen Hintergrund des IS, sondern vor allem die Bereitschaft von Männern, die seit Jahren im Krieg leben, sich wenigstens für Krieg bezahlen zu lassen, und zwar durch den IS.
Der Bürgerkrieg in Syrien ist auch nicht ohne Waffenhandel zu erklären. Es ist bekannt, dass auch deutsche Waffen ihren Weg in diesen Krieg gefunden haben -- auf Fotos wurden immer wieder Gewehre von Heckler & Koch identifiziert. Die BRD beliefert unter anderem Quatar und Saudi-Arabien, die nun ihrerseits diverse islamistische Gruppen in Syrien bewaffnet haben. Unter Gabriel hat die Bundesregierung mehr Waffenexportgenehmigungen erteilt als je zuvor.
Unschuldige sterben auch jede Woche dort, wo die USA mit Hilfe von völkerrechtlich ganz inakzeptablen Drohnenangriffen "gegen den Terror" kämpfen.
Und nicht zuletzt lässt die EU jedes Jahr einige Tausend Menschen im Mittelmeer ersaufen, die vor just den Konflikten, für die wir Mitverantwortung tragen, fliehen. Es handelt sich hier, wie der oberste Bundesrichter Thomas Fischer in einer Kolumne für die Zeit aufgedröselt hat, um irgendwas zwischen Mord durch Unterlassung und unterlassene Hilfeleistung. Die EU könnte ja Visen vergeben. Und sie hätte "Mare Nostrum" verlängern können.
Kurzum, das Unrecht, das in Gestalt der Attentate von Paris begangen wurde, steht in einem Kontext globalen Unrechts, zu dessen Akteuren auch "wir" gehören. Der Zweck dieser Einbettung ist nicht der einer Rechtfertigung (die kann es weder für das durch IS begangene Unrecht, noch für das durch uns begangene Unrecht geben), sondern ein Beurteilungsrahmen für die Angemessenheit der möglichen Reaktionen. Diese Attentate gehören strafrechtlich verfolgt, soweit sich die Verantwortlichen nicht bereits selbst in die Luft gesprengt haben. Als Antwort die wahnhafte Reaktion der USA nach 9/11 zu wiederholen ("war on terror") und etwa ein weiteres Land in die Luft zu sprengen, wird verlässlich die Wahrscheinlichkeit solcher Anschläge erhöhen.
Auch das voraussehbare Argument, die Gefahr für
uns liege ja nicht in der Brutalisierung halber Kontinente, sondern nur in der Einwanderung der solchermaßen Brutalisierten, mithin müsse die Einwanderungen aus Sicherheitsgründen schleunigst begrenzt werden, das nicht nur Rechtsextreme, sondern auch Söder, Seehofer (CSU) oder Reinhard Müller (FAZ) vorbringen, ist erstens falsch und zweitens widerwärtig. Erstens kann niemand die Grenzen so dicht machen, dass Leute, die kämen,
um ein Attentat zu begehen, aufzuhalten wären. Die meisten kommen aber zweitens, um ihr Leben zu retten bzw. sich ein neues Leben aufzubauen. Diese Menschen abzuweisen bedeutet einen massiven Verstoß gegen die Werte, die wir angeblich haben, und ist auch wieder eine Kollektivstrafe gegen Hunderttausende, die nichts für die Attentate können. Die Attentäter wiederum haben eine Kollektivstrafe an mindestens 129 Menschen, die nichts dafür können, vollstreckt. Kollektivstrafen sind auf allen Seiten widerwärtig.
Vorhang auf für Berthold Kohler
Die Engführung der Logik der Terroristen mit der Logik der westlichen Staaten, Gesellschaften, Parteien ist beabsichtigt. In den Reihen der Terroristen müssen wir uns Redner vorstellen, die so klingen wie
Berthold Kohler (Kommentar "Im Weltkrieg", 15.11), nur auf arabisch und mit jeweils umgedrehten Vorzeichen. Jeder einzelne Satz von Kohlers jüngstem Kommentar beleidigt die Intelligenz und die Humanität. Eigentlich erübrigt sich eine ausführliche Kommentierung. Es müsste genügen, zu sagen: Lesen Sie und speien Sie. Ich kommentiere aber doch, für die Akten:
Wieder Paris, wieder ein Anschlag auf die ganze freie Welt.
Schon dieser erste Satz ist ein Popanz. Wieder ein Anschlag auf verschiedene Orte in Paris. "Die ganze freie Welt", so sah auch der willkürlich den Gegenstandsbereich aufblähende Propagandabegriff aus, der zur Rechtfertigung des Irakkrieges angeführt wurde, und zu dessen Ergebnissen auch dieser Anschlag gehört (im Sinne von Kausalität, "kontrafaktische Definition": IS, und damit diesen Anschlag, gäbe es fast sicher nicht, hätte es diesen Krieg nicht gegeben).
Die Botschaft der Anschläge auf Amerika war: Der islamistische
Terrorismus hat dem Westen den Krieg erklärt – und er ist dazu fähig,
ihn in die Herzen der westlichen Metropolen zu tragen. Die blutige
Mitteilung von Paris lautet: Ihr könnt uns auch anderthalb Jahrzehnte
danach immer noch nicht daran hindern. Eure Mühen und Opfer im „Krieg
gegen den Terror“, ob auf fremder oder eigener Erde, waren vergebens.
Alle Achtung, unsere Mühen und Opfer waren vergebens. Da aber doch der IS unter anderem die Frucht dieser Mühen und Opfer ist, verdankt sich zumindest dieser Anschlag unseren Mühen und Opfern und ja, wenn auch in klitzekleinem Format, Berthold Kohler, der in diesem Ton die Kriege propagierte, ohne die die Toten von Paris wahrscheinlich noch lebendig wäre. Hier, wie meist: Sprich von der Veantwortung der anderen, nicht von der eigenen. Ignoriere die Kausalität, wo du selbst zu den Ursachen von etwas Bösem gehörst, und reite auf ihr herum, wo die anderen etwas verursacht haben. Die Grenzen von "wir" und die "anderen" zieht jeder Hetzer anders, bei Kohler ist wir "USA -- NATO -- Deutschland", und das nennt er halt die "freie Welt."
In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine
Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber
diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es
immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich
friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es
also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze
Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen
auszulöschen.
Man kann kontrovers diskutieren ... gewiss. Selbst Kohler kann nicht abstreiten, dass es den IS ohne den Irak-Krieg nicht gäbe. Aber die Ursache spielt ja keine Rolle, wenn das Ungeheuer nun einmal da ist und nun mit Waffen bekämpft werden muss. Kohler ist eigentlich immer für die jeweiligen Kriege des Westens, sogar für die, die der Westen mit guten Gründen nicht führt. Um das "Ungeheuer Saddam" zu töten wird ein Land zu Klumpen geschossen. Daraus erwächst das nächste Ungeheuer, jetzt kann man nur weiterschießen, so die Logik. "Man kann kontrovers diskutieren" ist aber doch sehr mager als Selbstreflektion, und beim Weiterschießen ist nun die Frage, wie und auf wen. Russland etwa betreibt die Stärkung der syrischen Regierung gegen alle Rebellen, von denen die meisten Islamisten und viele bei IS sind. Die USA, ihre Verbündeten und auch ihr geliebter Kohler wollen das aber auch nicht. Der IS ist das Böse, und Russland ist das Böse, auch wenn Russland eines der wenigen Länder ist, die schlüssig in der Logik handeln, den IS zu bekämpfen. Der Autor dieser Zeilen kennt Syrien zumindest aus längerer eigener Anschauung, und damit besser als Kohler, würde einen schlechten Frieden für Syrien einem guten Krieg vorziehen. Das eigentlich Böse an allen bisherigen Einmischungen in Syrien war, den Krieg in die Länge zu ziehen. Und wenn es so wäre, dass die gegenwärtigen Machtverhältnisse einen Frieden nur unter Assad möglich machen, dann wäre es eben ein Frieden unter Assad. Eine Umfrage der Washington Post zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Syrer das so sieht.
Erfreut über den russischen Anteil am Krieg kann ich aber nicht sein; allerdings müsste Kohler es sein, stünde ihm nicht ein doppeltes Feindbild im Wege. Er sieht nur "die freie Welt im Krieg gegen das Böse".
Wie wird der Terror von Paris in Ländern wirken, die eher der Ansicht
zuneigen, wer selbst nicht bombardiere, werde auch nicht bombardiert?
Nun, dass Attentate des IS sich gegen Länder richten, die sich an den Bombardements gegen den IS beteiligen, ist doch wohl die Logik des Krieges (und des Terrorismus), der ja gerade Kohler das Wort redet. Vermutlich erwischt es Russlands als nächstes Land; was wohl Kohler dann schreibt ? Einstweilen fürchtet er jedoch, dass die Kampfkraft des Westens beschädigt werde -- ohne doch den Nachweis antreten zu können, diese sei bisher für etwas gut gewesen.
Mehr denn je kommt es jetzt auf die Geschlossenheit des Westens an. Und
darauf, dass er seinen Willen und seine Fähigkeit demonstriert, seine
Werte zu schützen. Das wird angesichts des Ausmaßes der Bedrohung und
der Asymmetrien des Konflikts nicht gänzlich ohne Einschränkungen der
Freiheiten möglich sein, die es zu verteidigen gilt, gegebenenfalls auch
mit eigenen Truppen in Syrien. Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf
nicht zu bestehen sein. Obsiegen kann in der Konfrontation mit dem
Terrorismus nur, wer sich von ihm nicht einschüchtern und erpressen
lässt.
Seine Werte. Soso. Wertemäßig stellen die Kriege in Irak/Afghanistan/Libyen ein Desaster da. Die Lüge zur Förderung von Kriegen hat noch immer gerne zum Schwulst gegriffen: "epochaler Kampf","obsiegen", man findet derlei in Karl Kraus' Dokumentation der österreichischen und deutschen Propaganda für den ersten Weltkrieg. Die Nichterwähnung Russlands, das ja genau das tut (IS bekämpfen), was Kohler will, ist auch hier auffällig.
Der Flüchtling als potentieller Feind
Am Schluss kommt die befürchtete Volte: Dass die Einwanderung uns gefährde. Kohler endet so:
Doch kam auch mit diesen Zügen schon eine Angst ins Land: dass
Deutschland sich bei dem Versuch, fremde Kulturen und Konflikte zu
integrieren, hoffnungslos übernimmt und danach nicht mehr so sein kann,
wie es sein will. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (auch
Solidarität mit den Armen und Verfolgten der Welt) sind längst auch
deutsche Ideale. Doch noch ein vierter Wert gehört dazu, ohne den alles
andere nichts ist – Sicherheit. Die Deutschen haben nichts gegen ein
freundliches Gesicht an der Spitze ihrer Regierung. In solchen Zeiten
aber wollen und müssen sie ein anderes sehen: ein hartes.
Oh ja, es kracht hier nur so vor Brüderlichkeit. Dieser Absatz ist in einem Maße verlogen, dass doch bitte die Götter selbst Kohler strafen mögen. Wir lassen weiter die Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen, betreiben die Abschiebung möglichst vieler (Kosovo, Serbien, Afghanistan), lassen seit Jahrzehnten wieder eine Armutsschicht in Deutschland entstehen, und sollen jetzt "Härte" zeigen gegen Flüchtlinge, an deren Fluchtursachen wir mit Schuld sind.
Selbst wenn "das Ungeheuer IS" nur noch militärisch zu beseitigen wäre (woran ich zweifle), wären Akteure mit der unreflektierten Selbstgerechtigkeit eines Kohler so gefährlich wie das Ungeheuer selbst, ja Fleisch von selben Fleische. Da Kohler die Handlungen, die zur Entstehung des IS geführt haben, mit ähnlich wilhelminischem Vokabular gerechtfertigt hat, trägt er sein Quentchen Mitschuld an den Toten von Paris. Könnten die Toten noch sprechen, würden sie wohl davon abraten, auf Kohler zu hören. Kohler hätte wohl gerne eine Weltkrieg, so klingt's. Wenn dann Millionen in ihrem Blut ersaufen, sind die Toten von Paris gerächt, bravo, kleiner Mann!
Die Toten soll man beklagen und begraben, die Täter
strafrechtlich zur Verantwortung ziehen. Wer sich aber aus den Toten
Argumente backt, um künftig noch viel mehr Menschen und Staaten in den
Orkus zu ziehen, der ist ein schlechter Mensch.
Und noch eine letzte Bemerkung: Einen Tag vor den Anschlägen in Paris kostete ein Anschlag in Beirut mehr als vierzig Menschen das Leben. Wie groß war die Reaktion unserer Presse? Vierzig tote Menschen im Libanon und 129 tote Menschen in Frankreich kann man eben nicht vergleichen. Meines Wissens hat Kohler darüber kein Wort verloren. Bei der Gelegenheit wurde also nicht "die ganze freie Welt" angegriffen? Der Libanon hat im Vergleich zu seiner Größe viel mehr Flüchtlinge aufgenommen als wir, aber dadurch wird man ja noch nicht Mitglied unserer Wertegemeinschaft.