Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 12. August 2013

Nachdenken und Babysitten

Während meine kleine Nichte schläft, lese ich Zeitung.  Sie versteht schon, wie man Schachteln und Reißverschlüsse öffnet, kann alle darin gefundenen Gegenstände auf Essbarkeit prüfen, fremde Hände zur Hilfe holen, wo ihre eigenen zu schwach sind. Sie erkennt Kinder und Tiere und läuft auf diese zu, sogar auf Hunde jeder Größe, furchtlos. Bald kann sie sprechen, und relativ bald kann sie das eine oder andere von dem verstehen, was ich in der Zeitung lese. Dear me.

Alle finden den Anblick der wunderbaren Entfaltung eines Kindes schön, um im Nachsatz Entfaltungsverzicht und Knechtschaft von der künftigen Erwachsenen zu erwarten.  Während sie nämlich schläft und während sie spielt und während sie isst, wird Tag für Tag der Gegensatz zu dieser kindlichen Freiheit im Berufsleben verschärft. Oh wie gerne lassen sie sich alle beim Wahlkampf mit Kindern photographieren, deren Glückschancen sie demontieren.  Wie entzückend sind doch die Kinder auf dem Ponyhof, aber "das Leben ist kein Ponyhof".  Süßliche Niedlichkeit allenthalben, aber Achselzucken, wenn 'eherne Gesetze' der Öknomie die indischen und bengalischen Kinder Steine klopfen und Kleider nähen lassen. Und natürlich dasselbe Achselzucken, wenn hier ein Erwachsener als Leih-Unterschlachter schuftet und kaum davon leben kann.

Ob die Nichte mal zu den 'Niedrigverdienern' gehört oder vielmehr zu den so oft von so großen Ängsten geplagten viel Verdienenden, die ihr Privileg gerne ihrer 'Bildung' zuschreiben, aber natürlich genau wissen, das viele mit vergleichbarer 'Bildung' bereit sind, an ihre Stelle zu treten? Was für ein gigantischer technischer Fortschritt, und was für ein erbärmliches gesellschaftliches Gezappel.

Vielleicht aber wird sie und werden die anderen, die jetzt klein sind, später wieder richten, was wir gerade en gros verbocken. Vielleicht wird ihre Generation ja durch Gespräche, Denken und Lesen völlig richtig zum Schluss kommen, dass wir bis dato von Deppen, Unmenschen  und Verrätern regiert wurden. Und schwupps wird alles anders. Das Leben, soweit es geht, zum Ponyhof.

Das ist nicht historisch gedacht, aber eine ganz gute Kur gegen den bequemen Defaitismus, der geneigt ist, die große Alternativlosigkeit von allem Hässlichen zu unterschreiben und 'Mutti' zum Konsul auf Lebenszeit zu machen.  Dass sich alles ändern wird - sogar zum Bessern - ist möglich, auch wenn ich's jetzt nicht verstehen kann.  Im Rückblick vielleicht, als uralter und zahnloser Onkel der schon recht alten Nichte wird es sich verstehen lassen, wie es kam, dass die Menschheit versuchte, ihre Verhältnisse aufs menschliche Glück auszurichten, und wie es kam, dass die Intellektuellen aufhörten, derartige Weltverbesserung für dumm, Botho Strauß aber für klug zu halten.

Falls sie einmal an Kants Schriften Gefallen findet, könnte sie mir die Frage stellen, die mir ein 'Agamben-Schüler' im Café stellte: welche der Kritiken mir die wichtigste sei; ich antwortete: "die Kritik der praktischen Vernunft" und  glaube mich zu erinnern, beim Reden schon geahnt zu haben, wie mitleidig und herablassend die Blicke ausfallen würden, die ich mir durch diese Antwort verdiente. Vielleicht wird meine Nichte aber fragen "Warum?" und eine Antwort abwarten, statt mich elegant zu verachten. Oder sie wird gar nicht auf die Idee verfallen, solche 'Best-of'-Fragen zu stellen, weil solche eigentlich recht dummen Fragen ausgestorben sein werden. Oder sie wird mir und meiner Generation misstrauen und solche Fragen lieber der Katze stellen.

Zum Glück schläft sie noch, denn wenn sie quengelt, muss ich versuchen, sie zu beruhigen. Und wenn es mir nicht gelingt, wird sie brüllen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Das ist überhaupt einer der wichtigsten Einträge, den ich in einem blog las. Mir fiel grade auf, daß es überhaupt keine einzige Zeitung, die ich kenne, gibt, in der solche Gedanken stehen. Seit langem. (Gutmenschen-Waffe hat die letzten 20 Jahre gewirkt - anderes Thema^^.)

Beinahe alle Medien treiben uns und sich von einem zum nächsten Thema, in 2-3-Wochenwellen. Everything stays the same, the market rules, Kritik daran ist unmöglich.
Wenn Mehrheiten das endlich durchschauen würden (bei facebook durchschauen es die wenigen politisch Interessierten nie - das sind meist haarsträubende Brüllereien), könnte man z.B. aus so vielen Büchern viel lernen.

Manches zur Knechtschaft schreibt etwa Hermann Hesse, weshalb man ja nicht sofort alles von ihm gläubig wiederholen müßte, warum sollte man. Anderes, heute vom konservativen Staub bedeckt, schreibt Rosa Luxemburg, wieder anderes Cechov, da gibt es so viele, viele Richtungen...

Manchmal erscheint mir das, was Du von einem Agamben-Schüler beschreibst, grade wie eine Waffe, damit sich nichts ändert - coolness muß indifferent sein-Stil. Ich kenne das von nicht wenigen Foucault-Leserinnen oder Anbetern. All das wirkte lähmend, fand sich aber "subversiv", ohne es je zu sein.

Immerhin möglich, daß die Nichte, wenn sie 18 sein wird, diese näselnde Indifferenz nicht mehr jeden Tag wird hören müssen. Es scheint seit ein paar Jahren abzunehmen, und blühte in einer Zeit, in der wohl viele dachten, alles ginge immerzu weiter, wie es 1990-2008 schien. Leider entstand genau in dieser Zeit wohl langsam der absurde Gedanke, man müsse nur "cool" sein, und alles, was nur nach "Weltverbesserung" klang, wurde weggegröhlt. Igitt, man müßte sich ja für Sekunden festlegen.

Auch Hesse, auch Cechov etwa (leider hab ich keine der Kant-Kritiken ganz gelesen, weiß also zuwenig) kritisieren ja dies und das an "Weltverbesserung", sind hoffnungsfroher oder eben nicht.
Aber Kritik ist nicht cooles Geplärr, um eine kurze Lachsalve zu "gewinnen", der die gelangweilte, runtergerutschte Miene folgt,, die man tausendfach sah. "Käsig gelb" eben :).

Deshalb verstand ich diese Mode, diese "styles", diese Zündfunk-usw-coolness nie, die so grau, geschichtsfern und zwar nie dumm (man kannte seine PhilosophInnen, oder die merve-Bücher), aber letztlich gelangweilt daherkam. Hoffentlich werden sehr wenige Kinder sowas kennenlernen.