Können Sie sich noch erinnern, wie nach der Veröffentlichung des Armutsberichts der Bundesregierung vor einem Jahr das Thema „Armut“ etwa drei Wochen durch die Talkshows geschleift wurde? Dort wurde dann immer eine „ausgewogene Runde“ eingeladen. Einerseits durfte der Politologe Christoph Butterwegge, der viel von Armut weiß, den relativen Armutsbegriff und die Wirklichkeit von in reichen Ländern Armen erläutern, andererseits saß da meist auch einer wie Hans-Werner Sinn, der von Armut wenig weiß, und durfte verbreiten, man „jammere auf hohem Niveau“,
Man schaue sich doch zum Vergleich die dritte Welt an! Soviel Pluralität rettet den guten Schlaf derjenigen, die sich erlauben können, Armut zu ignorieren. Alles halb so schlimm, relative Armut, haha!, bei uns gibt's ja keine Arme. Ja, früher hätt man die zum Mittelstand gezählt. (Etwas in dieser Richtung sagte leider auch Helmut Schmidt.)
Das Unbehagen über den Bericht konnte ausgesessen werden. Warum ist Armut jetzt kein Wahlkampfthema? Weil die Armen kaum noch wählen gehen, vielleicht, und weil es schon politischen Mut erfordert, gegen Spott a la Sinn den wohlhabenden Leuten die Beseitigung relativer Armut vorschlagen und ihnen zuzumuten, derlei durch ihre Steuern zu finanzieren.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
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