Können Sie sich noch erinnern, wie nach der Veröffentlichung des Armutsberichts der Bundesregierung vor einem Jahr das Thema „Armut“ etwa drei Wochen durch die Talkshows geschleift wurde? Dort wurde dann immer eine „ausgewogene Runde“ eingeladen. Einerseits durfte der Politologe Christoph Butterwegge, der viel von Armut weiß, den relativen Armutsbegriff und die Wirklichkeit von in reichen Ländern Armen erläutern, andererseits saß da meist auch einer wie Hans-Werner Sinn, der von Armut wenig weiß, und durfte verbreiten, man „jammere auf hohem Niveau“,
Man schaue sich doch zum Vergleich die dritte Welt an! Soviel Pluralität rettet den guten Schlaf derjenigen, die sich erlauben können, Armut zu ignorieren. Alles halb so schlimm, relative Armut, haha!, bei uns gibt's ja keine Arme. Ja, früher hätt man die zum Mittelstand gezählt. (Etwas in dieser Richtung sagte leider auch Helmut Schmidt.)
Das Unbehagen über den Bericht konnte ausgesessen werden. Warum ist Armut jetzt kein Wahlkampfthema? Weil die Armen kaum noch wählen gehen, vielleicht, und weil es schon politischen Mut erfordert, gegen Spott a la Sinn den wohlhabenden Leuten die Beseitigung relativer Armut vorschlagen und ihnen zuzumuten, derlei durch ihre Steuern zu finanzieren.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
Montag, 31. August 2009
Wahlkampf - Zeit der Vergesslichkeit II
Die SPD macht einen bizarr verlogenen Wahlkampf, sie stellt demnächst Vollbeschäftigung in Aussicht. Die Arbeitslosigkeit ist schon lange hoch, daneben gibt es immer mehr Billiglohn und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die so beschönigend wie unklar „der zweite Arbeitsmarkt“ genannte werden. Soll die Verheißung so gedeutet werden, dass zur Not auch alle Arbeitslosen in Ein-Euro-Jobs aus der Statistik verschwinden? Oder, gutwillig, als Bluff?
Wolfgang Engler schreibt im Freitag vom 20. August 2009
Diese Ausführungen wären um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen. Gerade unter der rot-grünen Koalition und durch ihre Reformen ist der Anteil „prekärer Arbeit“ enorm gestiegen. Es gibt Millionen, die zwar in Lohnarbeit stehen, aber dennoch von einer wahrhaften „gesellschaftlichen Teilhabe“ weit entfernt sind. An anderer Stelle redet die SPD zwar von Mindestlöhnen und davon, dass man von seiner Arbeit solle leben können, aber das kann man nach ihren Handlungen in den letzten Regierungen auch alles nicht mehr ernst nehmen. Trauen könnte man ihr allenfalls dann wieder, wenn sie reinen Tisch machen würde und zugeben, dass ihre Politik die Lohnabhängigen verraten hat. So aber signalisiert alles: weiter wie bisher.
Wolfgang Engler schreibt im Freitag vom 20. August 2009
„Seit der [Peter Hartz] vor Gericht stand und als Lügenbaron galt, den das falsche Versprechen eingeholt hatte, die Arbeitslosenzahlen binnen zweier Jahre zu halbieren, verlor er seinen Platz in der sozialdemokratischen Ehrengalerie. Nicht so die große Wende, die er mehr als nur einfädeln half: die Unterwerfung der Masse der Arbeiter und Angestellten unter eine rein angebotsorientierte Beschäftigungspolitik. Mit seinen „Reformen“ senkte Hartz die Schwellen zumutbarer Arbeit so weit, dass die Ablehnung selbst unwürdiger Formen der Lohnarbeit die nackte Existenz in Frage stellte, und er tat dies zum ausdrücklichen Wohlgefallen der Parteiführung. Eine wahrhaft verrückte Partnerschaft für eine um die Arbeitnehmerschaft herum gebaute Volkspartei; offenes Geheimnis ihres Ansehensverlustes; Startsignal für eine gesamtdeutsche Linkspartei.
Hier müsste die Fehlersuche ansetzen, um zu der Ansicht vorzudringen, dass nichts von dem, was seinerzeit erdacht und beschlossen wurde, alternativlos war. Stattdessen beglückte der Kanzlerkandidat der SPD mit dem verzweifelten Versprechen, die Arbeitslosigkeit im Verlauf der nächsten Dekade zu besiegen; eine Neuauflage der Vollbeschäftigungslüge statt der dringend notwendigen Revision des geistigen Inventars. Dem Kandidaten vorzuwerfen, dass er dem Wahlvolk eine Langzeitperspektive präsentiert, hieße den Kleinmut, der Politiker nur allzuoft befällt, wenn von der Zukunft die Rede ist, zur Norm erheben. Der Vorwurf zielt allein aufs Konkrete der „Vision“. Sie erhebt Erwerbsarbeit zur einzigen Garantie gesellschaftlicher Teilhabe. Die Rede von der Vollbeschäftigung dient als Alibi, um von den Alternativen, einem Grundeinkommen beispielsweise, schweigen zu können [...]“
Diese Ausführungen wären um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen. Gerade unter der rot-grünen Koalition und durch ihre Reformen ist der Anteil „prekärer Arbeit“ enorm gestiegen. Es gibt Millionen, die zwar in Lohnarbeit stehen, aber dennoch von einer wahrhaften „gesellschaftlichen Teilhabe“ weit entfernt sind. An anderer Stelle redet die SPD zwar von Mindestlöhnen und davon, dass man von seiner Arbeit solle leben können, aber das kann man nach ihren Handlungen in den letzten Regierungen auch alles nicht mehr ernst nehmen. Trauen könnte man ihr allenfalls dann wieder, wenn sie reinen Tisch machen würde und zugeben, dass ihre Politik die Lohnabhängigen verraten hat. So aber signalisiert alles: weiter wie bisher.
Wahlkampf - Zeit der Vergesslichkeit I
Die Sprüche auf den Plakaten stehen in so großem Widerspruch zu dem, was man weiß, dass man über die Dreistigkeit der Politiker verwundert wäre, wüsste man nicht, dass sie den Wahlkampf Werbeagenturen überlassen.
Frau Schavan etwa schaut mit einem an ein Lächeln gemahnenden Gesichtsausdruck von Plakaten, auf denen steht „Wir haben die Kraft für Bildung“. Merkwürdig sowieso die Formulierung von der „Kraft“ (und der Herrlichkeit, in Ewigkeit?), wo man doch einen guten Willen, gewisse Überzeugungen, Kenntnisse, Fähigkeiten, die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren als politische Tugenden wünschen würde, nicht aber „Kraft“. Wie steht es aber mit der Bildungsbilanz der Ministerin Schavan, dem „Hochschulpaket“, den „Reformen“?
Dazu schrieb am 23 Juli 2009 Bernhard Kempen (Präs. d. dt. Hochschulverbands, Staats- und Völkerrechtler in Köln) in der FAZ:
Immerhin hat das frühere, freiere Studium auch unreflektierte Philosophie-Absolventinnen wie die Schavan hervorgebracht, war demnach so gut auch nicht. Andererseits sollte man die Begabung für ideologische Verblendung, die sich manchal, aber nicht immer, im Theologiestudium zeigt, nicht der damaligen Hochschule, sondern allein ihr, Schavan anrechnen.
Friedemann Vogel (Doktorand in Sprachwissenschaft, Heidelberg) schrieb in derselben Ausgabe der FAZ:
Es ist gut, sich in der Kritik nicht auf den Argumentationsstil der Bildungspolitiker einzulassen. Demnach wäre Bildung eine Invesition, deren Rendite ökonomisch zu messen wäre. Und trotzdem kann man "in diesen Zeiten" nicht (also nie) darauf verzichten, auf die wirtschaftliche Abhängigkeit eines hochentwickelten Landes von seinem Bildungssystem hinzuweisen. Das ist aber nicht alles, eine möglichst für alle Teile der Bevölkerung zugängliche übers Ausbilden hinausgehende Bildung wäre ein WERT, den der Wohlstand dieser Gesellschaft zu realisieren erlaubt. Tut sie es nicht, ist sie wohl barbarisch. Schavan ist faktisch eine Barbarin, es ist nicht gut, das unter schleimig-umständlichen Formulierungen zu verbergen. Sie ist damit in guter Gesellschaft. Das gefährliche an einer Argumentation a la Bildungsökonomen ist auch, dass diese auf ihrem Feld, selbst wenn sie unrecht haben, schwer zu schlagen sind. Es findet sich immer eine Studie, die beweisen wird, dass uns der Bachelor fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts macht o. ä. „Wir sind Barbaren und haben die Kraft...“, einen gehaltvollen und für eine Demokratie wichtigen Bildungsbegriff zu verraten und das Bildungssystem für eine wieder verstärkt so benannte Unterschicht abzuschotten.
Frau Schavan etwa schaut mit einem an ein Lächeln gemahnenden Gesichtsausdruck von Plakaten, auf denen steht „Wir haben die Kraft für Bildung“. Merkwürdig sowieso die Formulierung von der „Kraft“ (und der Herrlichkeit, in Ewigkeit?), wo man doch einen guten Willen, gewisse Überzeugungen, Kenntnisse, Fähigkeiten, die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren als politische Tugenden wünschen würde, nicht aber „Kraft“. Wie steht es aber mit der Bildungsbilanz der Ministerin Schavan, dem „Hochschulpaket“, den „Reformen“?
Dazu schrieb am 23 Juli 2009 Bernhard Kempen (Präs. d. dt. Hochschulverbands, Staats- und Völkerrechtler in Köln) in der FAZ:
"Licht und Schatten liegen bei all dem eng beieinander. Die beiden Hochschulpakte schreiben die Unterfinanzierung der Hochschulen lediglich fort. 5500 oder 6500 Euro, die in den Hochschulpakten jährlich für einen Studienplatz veranschlagt werden, bleiben unter den bisherigen Ausgaben der Hochschulen, die im Jahre 2005 immerhin 7180 Euro pro Studienplatz betrugen. Der vom Wissenschaftsrat auf über 30 Milliarden geschätzte Sanierungsstau ist so immens, dass die Baumittel aus dem Konjunkturpaket weitgehend verpuffen werden. Die Vorgabe des Dresdner Bildungsgipfels vom Oktober 2008, vom Jahr 2015 an zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren, erscheint auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Es bleibt zwiespältig: Einerseits ist am Kernübel des deutschen Bildungssystems, seiner Unterfinanzierung, wenig geändert worden. Andererseits muss es hoffnungsvoll stimmen, dass Schavan nicht ohne berechtigten Stolz darauf verweisen kann, keine Bundesregierung habe in der Geschichte dieser Republik so viel Mittel in Forschung und Lehre investiert wie die noch amtierende. [...]
Schavans Augenmerk galt primär der außeruniversitären Forschung. Zwar pries die Bundesministerin in Interviews den Eigenwert von Bildung. Konkrete Bedeutung für ihre Handlungsweise hatten solche Aussagen aber nicht. Im Gegenteil: Oberste Richtschnur blieb die ökonomische Verwertbarkeit des Wissens. So wurde ein "Hightech-Strategie" ins Leben gerufen und die Forschungsförderung auf anwendungsorientierte, marktgängige und zukunftsweisende Bereiche konzentriert.
Bei Studienanfänger- wie Studienabschlussquoten blieb die Ministerin auf die Arithmetik der OECD-Statistiken fixiert. Qualitätabstriche an der universitären Ausbildung nahm sie zur Kenntnis. Als der Deutsche Hochschulverband nachweisen konnte, dass in der Dekade von 1995 bis 2005 rund 1500 Universitätsprofessuren ersatzlos gestrichen worden waren, verwies sie auf die vermeintliche Kompensation durch den Aufbau von Fachhochschulprofessuren. Hinweise, dass nur die Universitäten eine sich aus der Forschung ständig erneuernde Lehre bieten können, beeindruckten die Ministerin kaum. [...]
Viel zu weit ließ sie schließlich den Bologna-Zug in eine Sackgasse fahren. Während die Studienabbruchquoten stiegen und die Studienmobilität sank, kamen aus Berlin nur Jubelmeldungen und Durchhalteparolen. Schavan, die ehemalige Leiterin des Cusanus-Werkes, fand zunächst kein offenes Ohr für den Frust der Studierenden über das Bulimie-Lernen. Stattdessen folgte sie ihren politischen Reflexen und zeigte den Betroffenen fast bis zum Schluss die kalte Schulter. Es gab kein reflektierendes Wort über die Vereinbarkeit des christlichen Menschenbildes mit der zunehmenden ökonomischen Verzweckung des Studiums, keine Auseinandersetzung der studierten Philosophin mit der Sinnhaftigkeit von studentischen "workloads" mit 40-Stunden-Woche, keine Mahnung, den Bildungsauftrag der Universitäten nicht ihrem Ausbildungsauftrag (gänzlich) zu opfern.
[...]
... die eine gute Forschungsministerin, aber keine Bildungsministerin war."
Immerhin hat das frühere, freiere Studium auch unreflektierte Philosophie-Absolventinnen wie die Schavan hervorgebracht, war demnach so gut auch nicht. Andererseits sollte man die Begabung für ideologische Verblendung, die sich manchal, aber nicht immer, im Theologiestudium zeigt, nicht der damaligen Hochschule, sondern allein ihr, Schavan anrechnen.
Friedemann Vogel (Doktorand in Sprachwissenschaft, Heidelberg) schrieb in derselben Ausgabe der FAZ:
"Wer aus einem "bildungsfernen" Haushalt stammt, wagt immer seltener ein Studium: Zu groß sind die Ängste vor Überschuldung durch Studiengebühren bei einem "sozialen", bei 6,5 Prozent liegenden KfW-Kreditzins und den Risiken auf dem unsicheren Arbeitsmarkt.
[...]
Die Geförderten [Stipendien] kommen dem neuesten Bericht des Hochschul-Information-Systems (HIS) zufolge "überdurchschnittlich häufig aus hochschulnahen" und besserverdienenden Familien. [...]
Doch aus der chronischen unterfinanzierung der Bildungseinrichtungen entstehen noch schwerwiegende Probleme. Deutschlands Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtsausgaben des Staates beträgt laut OECD-Bericht 2008 knapp 10 Prozent (OECD-Durchschnitt: 13 Prozent), die Gesamtbildungsausgaben, gemessen an ihrem Anteil am Bruttoinlandsprodukt, sind sogar zurückgegangen (Bildungsfinanzbericht 2008).[...]
Die Studienpläne sind nicht einmal innerhalb eines Bundeslands kompatibel, was die Mobilität der Studierenden massiv beeinträchtigt. [...]
Die Bildungspolitiker bemerken davon nichts, verweisen stattdessen auf ihre Leuchttürme: Die Mittel der Exzellenzinitiative jedoch sind nicht nur befristet, sie kommen ausschließlich der Forschung zugute. Die Lernenden sehen durch die kurzlebige Finanzspritze keine Verbesserung ihrer Situation, eher eine Verschlechterung. Denn die Drittmittelanträge müssen von den bereits ausgelasteten Lehrenden geschrieben werden. Das kostet Zeit, die ihnen in der Lehre fehlt."
Es ist gut, sich in der Kritik nicht auf den Argumentationsstil der Bildungspolitiker einzulassen. Demnach wäre Bildung eine Invesition, deren Rendite ökonomisch zu messen wäre. Und trotzdem kann man "in diesen Zeiten" nicht (also nie) darauf verzichten, auf die wirtschaftliche Abhängigkeit eines hochentwickelten Landes von seinem Bildungssystem hinzuweisen. Das ist aber nicht alles, eine möglichst für alle Teile der Bevölkerung zugängliche übers Ausbilden hinausgehende Bildung wäre ein WERT, den der Wohlstand dieser Gesellschaft zu realisieren erlaubt. Tut sie es nicht, ist sie wohl barbarisch. Schavan ist faktisch eine Barbarin, es ist nicht gut, das unter schleimig-umständlichen Formulierungen zu verbergen. Sie ist damit in guter Gesellschaft. Das gefährliche an einer Argumentation a la Bildungsökonomen ist auch, dass diese auf ihrem Feld, selbst wenn sie unrecht haben, schwer zu schlagen sind. Es findet sich immer eine Studie, die beweisen wird, dass uns der Bachelor fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts macht o. ä. „Wir sind Barbaren und haben die Kraft...“, einen gehaltvollen und für eine Demokratie wichtigen Bildungsbegriff zu verraten und das Bildungssystem für eine wieder verstärkt so benannte Unterschicht abzuschotten.
Nachtrag zu "Sarkozy kann es nicht hinnehmen": Die Burka
Mohammed Hanif beschreibt (Der Freitag, 20. August 2009) seine Rückkehr nach Pakistan, nachdem er viele Jahre in England als Journalist gearbeitet hatte.
In den westlichen Berichten über Pakistan wird das Land zur Karikatur, obwohl diese Berichte zutreffend von wirklichen Problemen dieses Landes sprechen. Der Fehler liegt eher in allem, über das nicht gesprochen wird, dem normalen Leben, das ja grundsätzlich keine Nachricht wert ist. Sobald ein Aspekt als bedrohlich wahrgenommen wird, überstrahlt dessen Beschreibung alles andere, ähnlich ist es ja mit dem Iran oder Syrien. In Aleppo war ich über die vielen bis auf einen Seeschlitz verschleierten Frauen erstaunt, ähnlich ging es Hanife in Karaschi. Und ähnlich bei ihm wie bei mir die Entdeckung, dass das nicht einfach als Resultat einer Unterwerfung verdammt werden kann, als ob sich die verschleierten Frauen nicht auch hätten entscheiden können. Es ist sehr leicht, zu behaupten, für derlei können man sich bei gesundem Verstand gar nicht entscheiden. Jakob Arjouni lässt seinen deutsch-türkischen Privatdetektiv Kayankaya an einer Stelle bemerken, dass Menschen, die von außerhalb Europas kommen, nie „Gründe“ haben, sondern eine „Kultur“. Ja, das ist wohl deren Kultur.
Wer, aus dem Westen kommend, keine Phase er Selbstgerechtigkeit durchmacht, ist vielleicht nicht ganz aufrichtig, wer aber in der Selbstgerechtigkeit verharrt, ist recht eigentlich dumm. Denn man muss bloß schauen, fragen und zuhören, um etwas weit Komplizierteres zu sehen als „von Patriarchat und religiösem Fundamentalismus unterdrückte Frauen“. In Syrien habe ich Männer und Frauen nach diesen Verschleierungen gefragt und erhielt übereinstimmend die Antwort, dass es sich unter anderem um eine Mode handelt, die sich ähnlich wie in Pakistan erst seit den 80er oder 90er Jahren verbreitet hat. Mir mag die Mode gerne bizarr vorkommen, das ermächtigt mich doch nicht, zu glauben, sie könnten gar keine Gründe haben. Die hiesigen Moden kommen mir ja oft nicht weniger bizarr vor, nur hatte ich mehr Zeit, mich nolens-volens dran zu gewöhnen.
Hanife bemerkt weiter, dass sich das Leben der meisten um praktische Fragen dreht, um die häufigen Stromausfälle in Karatschi, und lustigerweise um dasselbe auch in Aleppo. Die Bereitschaft, Vorurteile aufzugeben, sollte selbstverständlich sein für einen Journalisten. Aber es gibt so etwas wie Moral-Kartelle in Presse und „Blogosphäre“, die schnell bereit sind, mit Vorwürfen zu kommen, einer sei auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, entschuldige Unrecht und Unterdrückung, und sei gerade dadurch hochmütig und kein Humanist, dass er in fremden Ländern auf die hiesigen Maßstäbe verzichte. Der Vorwurf enthält aber oft eine petitio principii. Prämisse: Die Burka ist nicht das Ergebnis von Freiheit, sondern von Zwang und Unterdrückung. Folgerung: Jegliches Verständnis für die Burka rechtfertigt demnach Zwang und Unterdrückung. Nur ist es eben nicht so einfach; die Rechthaber wird's nicht kümmern, dass ihre Prämisse nicht stimmt. Wer die Prämisse nicht teilt, ist halt nur auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, etc.
(Hagen Rether: "Ja natürlich Kuschelkurs, was denn sonst?")
„In altmodischer britischer Manier möchte ich um Besonnenheit bitten, Die Nachrichten vom unmittelbar bevorstehenden Niedergang Pakistans sind vorschnell.“
In den westlichen Berichten über Pakistan wird das Land zur Karikatur, obwohl diese Berichte zutreffend von wirklichen Problemen dieses Landes sprechen. Der Fehler liegt eher in allem, über das nicht gesprochen wird, dem normalen Leben, das ja grundsätzlich keine Nachricht wert ist. Sobald ein Aspekt als bedrohlich wahrgenommen wird, überstrahlt dessen Beschreibung alles andere, ähnlich ist es ja mit dem Iran oder Syrien. In Aleppo war ich über die vielen bis auf einen Seeschlitz verschleierten Frauen erstaunt, ähnlich ging es Hanife in Karaschi. Und ähnlich bei ihm wie bei mir die Entdeckung, dass das nicht einfach als Resultat einer Unterwerfung verdammt werden kann, als ob sich die verschleierten Frauen nicht auch hätten entscheiden können. Es ist sehr leicht, zu behaupten, für derlei können man sich bei gesundem Verstand gar nicht entscheiden. Jakob Arjouni lässt seinen deutsch-türkischen Privatdetektiv Kayankaya an einer Stelle bemerken, dass Menschen, die von außerhalb Europas kommen, nie „Gründe“ haben, sondern eine „Kultur“. Ja, das ist wohl deren Kultur.
„So schien mir zum Beispiel bei meiner Rückkehr, als ob ein beträchtlicher Teil des Landes beschlossen hätte, sich unter schwarze Hijabs und Burkas zu flüchten. Sie scheuten nicht vor mir zurück, sondern hatten lediglich beschlossen, dass es cool sei, sich zu kleiden wie die Frauen aus der arabischen Wüste.
Die Burkafizierung der pakistanischen Frauen hatte schon Jahre zuvor begonnen. Als Besucher hatte ich immer angenommen, es handle sich um einen Anfall saisonaler Frömmigkeit. Ich bin in einem pakistanischen Dorf aufgewachsen, in dem die erste Burka in den Achtzigern als Zeichen von Unzüchtigkeit betrachtet wurde. Wer sich entschieden hatte, sein Gesicht zu verhüllen, war doch wohl ganz bestimmt abartig oder verbarg irgendeine neue Perversion, die aus irgendeiner großen Stadt gekommen war. Auch meine verstorbene Mutter dachte so.
Wenn ich nach meiner Rückkehr aus London am Strand von Karatschi spazieren ging, steigerte ich mich in selbstgerechten Zorn über diese jungen Frauen, die in schwarzen Burkas am Strand herumhingen, wo sie doch eigentlich in der Schule sein oder in irgendeiner Moschee für unser aller Seelenheil beten sollten. Dann aber sah ich genauer hin und stellte fest, dass viele mit einer Verabredung da waren. Einige knutschten sogar bei helligtem Tage mit bärtigen Männern herum. Wenn man von Kopf bis Fuß mit einer schwarzen Robe verhüllt ist, ist das schon ein Spektakel – eines, das die gerade richtige Mischung von Chance und Herausforderung bietet. Als meine Frau und ich vor ein paar Tagen am Strand spazieren gingen, entdeckten wir ein Paar, das sämtliche Möglichkeiten der Burka erkundete. Er lehnte sich an ein Motorrad, das arabische Meer umfloss ihre Füße.“
Wer, aus dem Westen kommend, keine Phase er Selbstgerechtigkeit durchmacht, ist vielleicht nicht ganz aufrichtig, wer aber in der Selbstgerechtigkeit verharrt, ist recht eigentlich dumm. Denn man muss bloß schauen, fragen und zuhören, um etwas weit Komplizierteres zu sehen als „von Patriarchat und religiösem Fundamentalismus unterdrückte Frauen“. In Syrien habe ich Männer und Frauen nach diesen Verschleierungen gefragt und erhielt übereinstimmend die Antwort, dass es sich unter anderem um eine Mode handelt, die sich ähnlich wie in Pakistan erst seit den 80er oder 90er Jahren verbreitet hat. Mir mag die Mode gerne bizarr vorkommen, das ermächtigt mich doch nicht, zu glauben, sie könnten gar keine Gründe haben. Die hiesigen Moden kommen mir ja oft nicht weniger bizarr vor, nur hatte ich mehr Zeit, mich nolens-volens dran zu gewöhnen.
Hanife bemerkt weiter, dass sich das Leben der meisten um praktische Fragen dreht, um die häufigen Stromausfälle in Karatschi, und lustigerweise um dasselbe auch in Aleppo. Die Bereitschaft, Vorurteile aufzugeben, sollte selbstverständlich sein für einen Journalisten. Aber es gibt so etwas wie Moral-Kartelle in Presse und „Blogosphäre“, die schnell bereit sind, mit Vorwürfen zu kommen, einer sei auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, entschuldige Unrecht und Unterdrückung, und sei gerade dadurch hochmütig und kein Humanist, dass er in fremden Ländern auf die hiesigen Maßstäbe verzichte. Der Vorwurf enthält aber oft eine petitio principii. Prämisse: Die Burka ist nicht das Ergebnis von Freiheit, sondern von Zwang und Unterdrückung. Folgerung: Jegliches Verständnis für die Burka rechtfertigt demnach Zwang und Unterdrückung. Nur ist es eben nicht so einfach; die Rechthaber wird's nicht kümmern, dass ihre Prämisse nicht stimmt. Wer die Prämisse nicht teilt, ist halt nur auf Multi-Kulti-Kuschelkurs, etc.
(Hagen Rether: "Ja natürlich Kuschelkurs, was denn sonst?")
Freitag, 7. August 2009
Sarkozy kann es nicht hinnehmen
Die Burka ist auf dem Territorium der französischen Republik nicht willkommen. [...] In unserem Land können wir es nicht hinnehmen, dass Frauen hinter einem Maschengitter gefangen sind, abgeschnitten von jedem sozialen Leben, jeder Identität beraubt.
sagte Nicolas Sarkozy im Juni. Dass Frankreich von Burkas überschwemmt würde, kann niemand behaupten. Mit solchen markigen Sätzen, die das Feindbild "Islam" betreffen, kann ein Politiker dennoch punkten, wie unsachlich er dabei auch wird ("Jeder Identität beraubt"?), und wieviel er auch verschweigt.
Wir können es nämlich hinnehmen, dass in "unserem Land" (Frankreich oder auch irgendein ein anderes europäisches Land) Hunderttausende bis Millionen von Migranten und Migrantinnen klandestin von schlecht bezahlter Arbeit leben, abgeschnitten vom sozialen Leben, weil "wir" ihnen die Legalisierung verweigern. Ist ja auch "notre pays" und nicht "le leur". Wir können es auch hinnehmen, dass unsere Kleidung von Asiatinnen für zwanzig Cent pro Stunde, achtzig Stunden pro Woche, genäht wird, die "jedes sozialen Lebens beraubt sind" vor lauter ungerecht bezahlter Arbeit. Aber das ist ja Öknomie, gelt, die Näherinnen sind zwar unterdrückte Frauen, aber nur als Näherin, nicht als Frau unterdrückt, gelt?
Der aufgeklärte Säkularismus, der "jeden nach seiner Facon" selig werden lässt, wird von den Sarkozys zugunsten eines Kulturkampfs fallen gelassen: Der Staat als Erzieher derjenigen, die die falschen Werte haben. Und das sind natürlich die Moslems, nicht Christen, Juden oder Buddhisten. Ob die jeweilige Trägerin einer Burka sich dazu entschieden hätte oder solches nur unter dem Druck patriarchaler Strukturen getan hätte, wäre für die Frage, ob eine Einmischung rechtens wäre, wichtig. "Niemand würde sich aber für eine Burka entscheiden" sagt der gesunde Menschenverstand, der flugs das eigene Urteil extrapoliert. Kürzlich sprach ich mit einer Professorin in Aleppo, gerade weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine sich in der Hitze freiwillig komplett bedeckt. (In Aleppo sieht man neben westlich gekleideten und sogar besonders aufgebrezelten Frauen alle Grade der Verschleierung bis hin zur totalen, die nur den Augenschlitz freilässt und noch die Haut der Hände mit schwarzen Handschuhen bedeckt.) Sie teilte mir nun mit, dass, während sie ihr Haar frei trägt und a la francaise gekleidet ist, ihre Schwestern sich für je verschiedene Grade der Verschleierung entschieden haben, dass es ihrem Urteil nach oft eine individuelle Entscheidung wäre. Außerdem teilte sie mir mit, dass vor dreißig Jahren praktisch keine total Verschleierten in Aleppo zu sehen waren, es sich um eine neue Entwicklung handle. Über deren Gründe stellte sie keine Mutmaßungen an. Es sind also nicht "noch" "rückständige" Familienstrukturen, sondern - zum Teil wenigstens - bewusste Rückwendungen auch der Frauen selbst.
Aber das kann doch nicht! Sie entschuldigen es auch noch! Schrecklich!
Aber man muss ja, um etwas als legitime Selbstbestimmung anzuerkennen, keineswegs die Motive nachvollziehen können. Mir ist ja vieles ein Rätsel, was meine Mitmenschen tun. Werde ich FKK verbieten wollen, weilich eher schamhaft bin? Verbieten wir doch nicht nur Habit von Nonnen und Mönchen, sondern die ganzen Orden. Kann man sich denn vorstellen, dass sich einer oder eine freiwillig für komplette sexuelle Enthaltsamkeit, Unterordnung unter eine strenge Hierarchie oder gar lebenslanges fast komplettes Schweigen entscheidet? Tun aber Leute. Es gibt Spielarten des Christentums und des Judentums, die Frauen ganz bestimmte Rollen zuweisen. Verbieten? Dagegen polemisieren? Wir können es nicht hinnehmen, dass Frauen und Männer sich Metalldinger durch die Haut schieben, so dass die intolerante Mehrheit gar nicht umhin kann, sich mit Schaudern abzuwenden und die solchermaßen gezeichneten zu isolieren. Oder?
Sarkozy ist natürlich gar kein Kämpfer für irgendwelche Werte, sondern ein Opportunist, der den dumpf seine Ressentiments bebrütenden Teil Frankreichs, dem entsprechenden Deutschlands nicht unähnlich, bedient. Durch Bevormundung und das Beschwören von Werten, die man gleichzeitig bricht, durch zweierlei Maß also, tut er den Werten nichts Gutes. Sie riechen dann immer mehr nach Imperialismus, nach Herrschaft, Ausbeutung und Krieg, und das haben sie nicht verdient.
Abonnieren
Posts (Atom)