- Christian Esch schreibt am 25. 7. 2012 in der Berliner Zeitung über den Politowskaja-Prozess:
Staatsanwältin Semenenko ist geschickt im Darlegen ihrer Tatversion, weit geschickter, als russische Staatsanwälte es sonst sind: Sie erhalten ja in Russland vor Gericht sowieso immer Recht, das macht sie nachlässig und überheblich. Aber Geschworenengerichte sind unberechenbar.
und etwas später:
Der Staranwalt tschetschenischer Herkunft hat 2009 den Freispruch von Dschabrail und Ibragim Muradow erwirkt, die laut Anklage ihrem Bruder Rustam Machmudow beim Mord geholfen und das Opfer beschattet haben sollen.
Also, kann man nun in russischen Gerichtsverfahren Freisprüche erwirken oder nicht? Staatsanwälte erhalten also nicht immer recht, aber es kommt gut an beim deutschen Publikum, das nach dem nahtlosen Übergang vom 'slawischen Untermenschen' zum 'sowjetischen Reich des Bösen' sehr gerne in Russland ein irgendwie primitives Reich der Unfreiheit sieht. Ja, sie haben halt nicht Demokratie gelernt, anders als wir. - Wenn mit Chodorkowski einer, der es beim Ende der Sowjetunion irgendwie geschafft hat, sich einen großen Teil der staatlichen Ölindustrie unter den Nagel zu reißen, und der es aus einem normalen Sowjetbürger in 15 Jahren zum Multimiliardär geschafft hat, von russischen Gerichten wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt wird, dann liegt was nahe, na?
Gewiss nicht, dass Chodorkowsky ein Unschuldslamm ist, auch nicht, dass das Gerichtsverfahren nicht den Maßstäben eines solchen genügte. Einzig bot es sich an, Vermutungen darüber anzustellen, warum unter den Oligarchen, die vermutlich alle Dreck am Stecken haben, die einen angeklagt werden und die anderen nicht; und da mag ein politischer Einfluss auf die Justiz eine plausible Erklärung sein. Das aber genügte den westlichen Medien nicht. Diese Beschreibung ist einfach nicht böse genug, um wahr sein zu können. Nun wurde das Verfahren schon zweimal vom Eropäischen Gerichtshof für Menschenrechte geprüft: Als unfair wurde die Haft in sibirischen Lagern gerügt, aber:Bereits 2011 hatte das Straßburger Gericht Russland im Fall Chodorkowski verurteilt. Beweise für ein politisch motiviertes Verfahren sahen die Richter damals aber nicht. Dies betonte das Gericht auch in seiner aktuellen Entscheidung. In dem umstrittenen ersten Prozess spielte politische Motivation demnach keine entscheidende Rolle. Ein Verstoß gegen Artikel 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention sei nicht festzustellen, entschied das Gericht am Donnerstag in Straßburg. (aus: Spiegel-Online).
Jetzt natürlich Geschrei: Das ist zu mild, zu feige, blödes Straßburg, das beweist gar nichts. Hätte der Gerichtshof das Urteil dagen als Verstoß gegen Artikel 18 gewertet, so hätte man das Straßburger Urteil als Beweis für die Einschätzung des despotischen Russlands genommen.
- Gleichzeitig hat das Landgericht Regensburg die Wiederaufnahme der Verfahrens gegen Gustl Mollath abgelehnt.
Er war 2006 nach Vorwürfen, er habe seine Frau misshandelt und Reifen zerstochen, als gefährlich eingestuft worden. Er leide unter der Wahnvorstellung, „Schwarzgeldkreise“, in die seine damalige Frau verstrickt sei, hätten sich gegen ihn verschworen. Später stellte sich heraus, dass die Bank, bei der Frau Mollath beschäftigt war, in einer internen Untersuchung schon 2003 zu dem Ergebnis gekommen war, alle „nachprüfbaren“ Behauptungen Mollaths träfen zu.
Das Landgericht Regensburg sieht in dem Bericht der Bank jedoch keine Rechtfertigung für eine Wiederaufnahme. „Im Wesentlichen“ würden darin Verstöße gegen bankinterne Vorgaben bestätigt; es fänden sich darin aber keine Belege für Schwarzgeldverschiebungen oder Bargeldtransfers. In dem Bericht der Bank wurden allerdings auch Verstöße gegen das Geldwäschegesetz und gegen das Wertpapierhandelsgesetz festgestellt; darauf wird in dem Beschluss des Landgerichts nicht weiter eingegangen. Das Landgericht Regensburg sieht auch in der nach 2006 bekanntgewordene Aussage eines Zeugen, Frau Mollath habe in einem Telefonat gedroht, sie werde, wenn ihr Mann nicht von den Schwarzgeldvorwürfen abrücke, ihm mit Blick auf seinen Geisteszustand etwas anhängen, keinen Grund für eine Wiederaufnahme.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth habe 2006 die Frage, ob Frau Mollath ihren Mann zu Unrecht belaste, „eingehend“geprüft; in dem Urteil heißt es allerdings nur, sie schildere die Vorwürfe „ruhig, schlüssig und ohne Belastungseifer.“
Das Landgericht Regensburg hält auch für unbeachtlich, dass das Urteil 2006 auf ein Attest einer Ärztin gestützt wurde, das in Wahrheit deren Sohn ausgestellt hatte. Der Sohn habe in der Praxis seiner Mutter eine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin absolviert; auf einer Ausfertigung des Attest sei auch ein „i.V.“ zu erkennen. Darunter stand allerdings der Name der Ärztin, nicht ihres Sohnes; die Staatsanwaltschaft Regensburg wertete in ihrem Wiederaufnahmeantrag das Attest deshalb als unechte Urkunde. (Albert Schäffer in der FAZ, 24.7.2013)
Bilanzierend rechtfertigt das Landgericht sein Urteil durch die Abwägung von Rechtssicherheit gegen Einzelfallgerechtigkeit.
Hübsch fände ich, wenn die russischen Stammtische jede Woche die Neuigkeiten vom Fall Mollath, der in ihn verstrickten Politik, Justiz, Medizin und Wirtschaft läsen und kommentierten: Ja, so ist Bayern eben. Das Russland Deutschlands.
Es sollte erlaubt sein, dieses Gericht in diesem Fall für kritikabler zu halten als Straßburg und Moskau.
- Russland beharrt seit Beginn der Kämpfe in Syrien darauf, dass Waffenlieferungen an Aufständische völkerrichtswidrig seien, was sie nun einmal sind. Die meisten anderen Staaten glauben, dass es richtig sei, die Aufständischen zu beliefern. 'Unsere' Position wird dabei immer als die moralische, die russische als die zynisch-interessenorientierte dargestellt. Auch zu einem Zeitpunkt, wo Massaker durch die Aufständischen ebenso bekannt sind wie solche durch die Regierung.
- Jasper von Altenbockum schrieb kürzlich (13.7.) in der FAZ über die Bespitzelung durch die NSA:
Die ganze Wahrheit müsse jetzt auf den Tisch, hieß es; das ist nicht nur deshalb schwierig, weil Geheimdienste [...] schlechte Geheimdienste wären, wenn sie die Wahrheit einfach mal so auf den Tisch legten.
Ja, richtig, wer den Bruch von Rechten durch Geheimdienste einfach abstreitet oder nicht aufklären will, gilt komischerweise als Vertuscher.
[...]
Was die Wahrheit ist, wird im deutschen Snowden-Storm längst zu einem Marionetten-Theater degradiert. Wer da nicht mitspielt, gilt schon fast als Lügner, mindestens aber als Vertuscher.
Doch selbst der beste Schutz von Daten- und Persönlichkeitsrechten wird nichts daran ändern, dass Daten im Internet mehr oder weniger öffentlich sind.
Auch wenn es einen Schutz von privaten Daten gäbe, wären private Daten öffentlich? Was so eine Ideologie doch für ein wirres Zeug hervorbrint.
Wer dagegen etwas tun will, muss sich auch mit dem Exhibitionismus auseinandersetzen, der im Internet gehegt und gepflegt wird.
Nein! Ganz sicher nicht! Thema verfehlt, 5, setzen. Zu schützen, was ich nicht preisgeben will, darf nicht davon abhängen, wer wo wie was von sich preisgibt.
Wenn die 'amerikanischen Freunde' meine privaten Emails lesen, so ist das widerwärtig, wie es auch wäre, wenn die Stasi meine Emails läse. Aber man ahnt schon, der Zweck des Textes ist eine Apologie.[...} sollte aber nicht die Feindbilder zeichnen, die Edward Snowdens eifrige Unterstützer so gerne Kultivieren: den Staat, den Kommerz und Rechtssysteme, die ihnen nicht passen.
Wenn das Briefgeheimnis gebrochen wird, das unser Recht garantieren sollte, und zwar von Staaten und Unternehmen, ohne dass das Recht uns schützte, dann sollte man dennoch gegen Staaten, Unternehmen und das Recht keine Klage führen. -- Übrigens "passt" J.v.A. anscheinend das Grundgesetz ebensowenig wie das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung". Wer sich beschwert über Bespitzelung, da ist er sich sicher, tut's aus niedern Motiven.
Snowden hat jetzt in Russland um politisches Asyl gebeten. Freiheitsliebe, die nicht nur sich selbst berieselt und bespiegelt, sondern die Verantwortung übernimmt, hätte sich einen anderen Platz gesucht.
Wie zum Beispiel Deutschland, dass Snowden stante pede und schwanzwedelnd, unter JvAs Beifall, an die USA ausliefern würde? Oder einen Staat, der zu feige und schwach ist, ein Ansinnen der USA langfristig auszuschlagen?
Das reichlich wahnsinnige Fazit der Altenbockum'schen Ausführungen ist: Wenn Russland einem Verfolgten Asyl gewährt ist das immer noch schlechter, als wenn die USA unsere Emails lesen.
- Ach ja, fast hätt' ich's vergessen: Pussy Riot. Wie lächerlich, zu glauben, die Gruppe sei der Politik um Putin wichtig genug, sie strafen zu wollen. Da gibt es ganz andere Kräfte. Stellen sie sich einfach vor, eine Gruppe zieht sich im Petersdom oder meinetwegen im Regensburger Dom nackig aus und führt ein obszönes Lied auf. Da wären natürlich konservative Kräfte auf der Palme mit dem Wunsch, dies zu bestrafen. Selbst das deutsche Recht ließe in solch einem Fall eine Haftstrafe zu, auch wenn man sich sehr wundern würde, diese verhängt zu sehen. War also die orthodoxe Kirche auf der Palme, und gibt es in Russland Gesetze, die religiöse Andachtsorte vor Verunglimpfung schützen. Rechtsbeugung war nicht vonnöten. (Solche Gesetze halte ich allerdings hie wie da für einen Anachronismus; aber andererseits muss man sich ja nicht unbedingt im Petersdom einen runter holen.)
Wissen Sie noch, wie es war, als auf dem Titelbild der "Titanic" ein jesusförmiger Klopapierrollenhalter abgebildet war mit der Unterschrift "Spielt Jesus noch eine Rolle"? Uj, lustig war's, was für ein Geschrei! Dabei wahrte die Titanic im Vergleich zu Pussy Riot durchaus den Anstand. Das Klopapier war rein und unbenutzt.
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Was so selbstgerecht und einseitig ist, kann nur von der jeweils anderen Seite ignoriert werden. So wird die Welt nicht besser, aber darum ging es trotz moralischen Brusttons nie, es ging um Selbstaufblasung, die am Besten vor der Folie des Schlechten gelingt. -- Ein feineres Beispiel für zweierlei Maß hat der Autor dieses Blogs allerdings schon lange nicht mehr gefunden; hat's also sein Gutes.
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Nachtrag (26.7.): Zweierlei Maße zeigt sich auch im Verhalten 'des Westens' zu Jelzin und Putin. Jelzin hat vorübergehend mit der Armee gegen den Obersten Sowjet regiert, blieb aber stets der westliche Vorzeigedemokrat. Er hat, wie mit längerem Abstand die meisten zugeben, die ökonomische Krise Russlands vertieft und gleichzeitig durch das Verschleudern der Staatsbetriebe die verhängnisvolle Macht der Oligarchen begründet. Auch der Tschetschenien-Krieg 1994-96 geht auf sein Konto. Er blieb aber gleichwohl der 'Vorzeigedemokrat' des Westens. Die Konzentration von so viel Macht in den Händen einiger Oligarchen ist aber eine dauerhafte Hypothek für die russische Demokratie. Eine Regierung, die gegen sie zu regieren versucht, hätte es schwer; regiert sie aber mit ihnen, verliert sie an Legitimität. Welcher Teil des Putin zur Last Gelegten verdankt sich in Wahrheit den unter Jelzin geschaffenen Strukturen?
2 Kommentare:
Sätze in diesem Beitrag, die im November weiterhin gültig sind.
Grade (Ende November) wurden von der schwedischen liberalen Zeitung Dagens nyheter Journalisten in Syrien, als sie das Land verlassen wollten, entführt. Dagens Nyheter hatte noch einseitiger über Syrien seit 2011 berichtet als etwa die auch einseitige FAZ, die aber kurz einmal - in diesem blog zu lesen - auch andere Möglichkeiten untersuchte.
Die Journalisten wurden in einer Gegend entführt, in der die Rebellen vorherrschen. Überhaupt wurden die meisten Journalisten von den "Rebellen", die wir als oh-so-moralisch seit langem unterstützen,, entführt. In diesen Fällen geruhen Blätter wie die "taz" immer zu schreiben, es sei unklar, wer die Entführer sind...
Es bleibt aber bei der klischeehaft einseitigen Berichterstattung. Ähnlich schreibt der Bellizist Stefan Kornelius jüngst wieder in der Süddeutschen zur Situation in der Ukraine. Dort kommt dazu, daß viele in der Mittelschicht der Ukraine keinerlei Ahnung von der massenhaften Verarmung Südeuropas dank Merkels und der Troika "Austeritätspolitik" haben. Man sieht in der EU eine Art heiliges Land. Bizarr ist, was die EU der Ukraine als Gesetz aufnötigen wollte - Gefangene sollten "im Ausland behandelt werden können". Das war ein "Gesetz Timoschenko", und niemand kam in der mainstream-Presse auf die Idee, siehe Anfang des Artikels, solche Absurditäten als Beweis für mangelndes Demokratieverständnis im Westen zu sehen. Daß Timoschenko nicht die edle, unschuldige Göttin ist, zu der nicht nur Hoeneß oder Lahm sie 2012 stilisierten, gibt ein Kornelius oder die ZEIT nicht zu, aber die Artikel sind nicht mehr ganz so devot. Man schweigt einfach, wenn man vorher gelogen hat. Putin, sicher kein sonderlich demokratischer Herscher, ist das 100% Böse, und wir, der Westen, sind die wunderbare Freiheit, die Moral.
Herr Mollath ist nun frei - und Beate Merk hatte tatsächlich die Idee, als die, die für seine illegale Haft zumindest mitschuldig war, die große Befreierin zu spielen. Das fiel dann im August sogar der Süddeutschen auf.
Interessant wird sein, wie in Schweden die vollkommen einseitige Berichterstattung, die dort auch linke Kreise miteinbezog, weitergehen wird. Wieso 150 000 und mehr Menschen sterben mußten, danach wird nicht mal mehr gefragt. Es ist schon bizarr - grade Gruppen, die sich dadurch zusammenhielten, gemeinsam gegen kaum vorhandene "Gutmenschen" zu agieren, das gehörte zum "style" - erfüllen nun faktisch alle Eigenschaften, die sie den bösen, bösen "Gutmenschen" vorwarfen. Moralisch überlegen tun, wohlfeil am Schreibtisch über Menschenleben urteilen, schwarz-weiß denken, sich toll fühlen dabei.
Es ist eine Farce. Ja, im Westen scheinen sich viele Medien wieder im kalten Krieg zu fühlen.
...zur geplanten, nun erst einmal nicht zustandekommenden lex Timoschenko noch kurz - muß man es erwähnen? Was würden die USA, was würde Deutschland sagen, wenn jemand forderte, verurteilte StraftäterInnen sollten per Gesetz in einem andern Land behandelt werden(und natürlich da bleiben dürfen?). Hätte Putin das gefordert - die Kommentare über die Abschaffung des Rechts, die Willkür, hätte man doch gerne gelesen, in der taz, FAZ, Welt, Dagens Nyheter oder in welchen Blättern immer... Hier kam gar niemand auf die Idee, dieses Spezialgesetz infrage zu stellen... Und zu den Gefängnissen schrieb niemand, daß die Ministerpräsidentin der Ukraine, als amnesty einen tatsächlich erschreckenden Bericht über die Situation in ukrainischen Gefängnissen veröffentlichte, 2009 . . . Timoschenko (2005; 2007-2010) hieß.... Niemand will wissen, daß sie eine Oligarchin ist, wie der jetzige Machthaber auch... Es macht einen fassungslos, wie einseitig geschrieben wird, und wie wenige Menschen das überhaupt bemerken.
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