Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Mittwoch, 27. Juli 2011

Die "Achse des Guten" sieht keinen Grund zur Defensive

Der Blog "Achse des Guten" will als "liberal" verstanden werden, lässt sich aber weit besser durch eine Liste von inhaltlichen Festlegungen charakterisieren: gegen die Theorie vom anthropogenen Klimawandel und deren politische Konsequenzen, gegen den Islam, für die amerikanisch-europäischen Kriege in Afghanistan und dem Irak, etc. Damit erreicht der Blog laut Werbehinweis beinahe eine Million Leser monatlich.

Nun enthält das Manifest des norwegischen Attentäters Breivik nicht nur viele Formulierungen, die an Inhalte der "Achse des Guten" erinnern, sondern (s. auch ein früherer Beitrag ) Henryk M. Broder, einer seiner Autoren, wird sogar von Breivik zitert. Broder tat das mit einem Witzchen ab. Die "Achse des Guten" bemüht sich (wie Georg Paul Hefty in der FAZ und Eric Gujer in der NZZ), jeden Zusammenhang zwischen der Verbreitung von antimuslimischen Thesen und deren Gebrauch durch Breivik abzustreiten. Bernd Zeller etwa schreibt dort unter der Überschrift "Kein Grund zur Defensive":

Dass sich die Islamkritiker des Verdachtes erwehren, die geistigen Verursacher des Osloer Massakers zu sein, liegt nicht an mangelnder Selbstkritik. An den Unterstellungen ist aus einem offenliegenden Grunde nichts dran, denn: man betrachte die Tat. Die Tat kann nicht als extreme Konsequenz islamkritischer Texte angesehen werden, beim schlimmsten Willen nicht. Diese Deutung erfährt sie erst durch das sogenannte Manifest, genauer gesagt dadurch, dass sich viele diesen Zusammenhang wünschen und ihn durch die Verweise bestätigt sehen. Der Täter hat aber nicht einmal sein eigenes Manifest umgesetzt, geschweige denn die Aussagen oder Tendenzen oder unterschwelligen Anliegen der bösen Blogger. Wir haben einen Sprengstoffanschlag in Oslo und einen Massenmord an Jugendlichen. Den Kausalzusammenhang zu bösen soziologischen Arbeiten und schlimmen Internetforen muss man bitte darlegen, es reicht nicht, dass beides politisch inkorrekt ist. Dass man beides in der Vorstellung nebeneinander hat, ist keine Kausalität, das ist magisches Denken.

Zeller behauptet viel, argumentiert aber schlecht oder gar nicht. "An den Unterstellungen ist aus einem offenliegenden Grunde nichts dran, denn: man betrachte die Tat. Die Tat kann nicht als extreme Konsequenz..." Kann nicht, wieso denn nicht? Und wieso ist die Tat ein offenliegender Grund? (- übrigens ist das ein Sprachmurks sonder gleichen -)

Insofern die mit "Islamkritik" bezeichneten Beiträge eine Kritik wären, könnten sie wirklich auf Unschuld pochen, insofern sie aber tatsächlich auf die Abwertung einer oder mehrerer Gruppen hinauslaufen, sieht es anders aus. Und dass beispielsweise der auch in der Achse des Guten meist gegen seine Kritiker verteidigte Sarrazin in abwertender Weise über muslimische Migranten gesprochen hat (erblich dumm, die Muslime und die Armen als demographische Bedrohung, und, ja, er hat es gesagt : "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." etc.), ist eben unbestreitbar, auch wenn er die Grenze zur Straftat noch nicht überschritten haben mag. Solche Äußerungen wurden in vielen Medien zurechtgelogen zur "Aufforderung zum Dialog"; die Verweigerung der Anerkennung ist aber dessen Ende. Ähnlich steht es mit der Behauptung genetisch bestimmter minderer Intelligenz gewisser Einwanderergruppen, deren übergroße Vermehrung ergo volkswirtschaftlichen Schaden anrichte. Auch darin liegt kein Angebot an die Gemeinten, sie kommen nur als "unser" Problem vor; als genetisches und wirtschaftliches Material werden sie gewogen, gewogen und für zu leicht befunden.

Urteile dieser Art, die verbreitet werden und sich als 'die Wahrheit' ausgeben, deren Kritik wiederum als 'verlogene Korrektheit' beschimpft wird, nisten sich in vielen Hirnen, nicht nur dem Breiviks ein, wenn sie aus der 'Mitte' und von bekannten Personen des öffentlichen Lebens vorgetragen werden. Wieso kann diese Straftat nichts damit zu tun haben? Ist die Verweigerung der Anerkennung nicht eine Voraussetzung von Gewalt? Zeller gibt keine Antwort.

Ein Argumentum ad hominem ist eingestreut: Nur "...dass viele diesen Zusammenhang wünschen..." stelle einen nicht bestehenden Zusammenhang her. Die Motivation derer, die auf einen Zusammenhang hinweisen, hat allerdings, werter Zeller, nichts mit dem Status der so getroffenen Aussagen zu tun. Zellers Text ist nicht etwa deshalb inhaltsarm und schlecht, weil ich ihn mit dieser Erwartung gelesen hätte, denn der Befund lässt sich belegen.

Schließlich konstatiert Zeller, mit Kausalität habe ein solcher Zusammenhang nichts zu tun, sondern mit magischem Denken. Offensichtlich hat Zeller wenig über Kausalität nachgedacht: Prüfen wir gängige Auffassungen von Kausalität: Dass der ideologische Hintergrund der Verunglimpfung des Islam, die sich Kritik nennt, eine notwendige Bedingung für dieses Verbrechen in einem ganzen Satz von Bedingungen darstellt, die zusammen erst hinreichend sind, kann man nur dann abstreiten, wenn man jeden Zusammenhang zwischen der Ideologie von Tätern und ihren Taten abstreitet. Das wird im Ernst niemand tun. Oder nehmen wir die kontrafaktische Auffassung von Kausalität: Hätte es ohne diesen Hintergrund zu dieser Tat kommen können? Sehr voll nimmt den Mund, wer wie Zeller derart apodiktisch verneint. -- Prüfen wir die kausale Hypothese noch einmal anders auf Plausibilität. Fragen Sie sich selbst: Wenn Sie der Fortschrittspartei, Sarrazin, et al. glauben, dass die Muslime sich bedrohlich stark vermehren, noch dazu dumm und integrationsunwillig seien, dass außerdem unsere Gesellschaft verlernt habe, sich zu wehren ("Hurra, wir kapitulieren", Broder), wenn sie das glauben, könnten Sie dann nicht denken "Ich muss etwas dagegen tun!" ? Zur Erklärung von Breiviks Verhalten braucht es freilich noch viel mehr.

In der FAZ weist ein Artikel von Sebastian Balzter darauf hin, dass die norwegischen Wähler diesen Zusammenhang sehen könnten, den Zeller und kommentierende Leser der FAZ so kategorisch abstreiten. Manche Verteidiger der gegen die Migranten gerichteten Strömungen weisen auf deren demokratische Legitimation hin, müssten also auch deren demokratische Deligitimierung bei den nächsten Wahlen als Hinweis akzeptieren, dass etwas nicht in Ordnung war. Balzter schließt mit einem Zitat:

„Verschwörungstheorie und Islamophobie, das ist das Grundgerüst im Weltbild des Terroristen“, sagte Politologe Marsdal am Dienstag dieser Zeitung. „Man darf Handlung und Haltung zwar nicht gleichsetzen. Aber nicht jede Haltung ist unschuldig.“

Montag, 25. Juli 2011

Hier wird erklärt, warum Hefty den norwegischen Anschlag nicht erklären will

(ad: "Keine Erklärung" von Georg Paul Hefty, FAZ 25.6. 2011)

"Es gibt Geschehnisse, die sind nicht zu kommentieren, über die ist nur nachzudenken, und allein schon das ist unbeschreiblich schmerzlich." beginnt Heftys Kommentar, der folgerichtig auch mit diesem Satz enden sollte.

Anschließend stellt er klar, dass es nichts zu erklären gibt: "Das Handeln des Täters ist weder politisch, noch gesellschaftlich, weder religiös noch esoterisch verständlich."

Er wiederholt in verschiedenen Formulierungen, dass es nichts zu erklären gebe, weder bei dem Anschlag in Norwegen, noch bei den Anschlägen der RAF, in Oklahoma 1995 und in New York 2001. Der Täter sei "irrsinnig", "Daher ergibt der Blick auf die von dem späteren Massenmörder bestückten Internetseiten auch keinen wirklichen Aufschluss über die Gründe des Verbrechens." Und weiter: "Was können die verstorbenen Staatsmänner Jefferson und Churchill dafür, dass der Norweger sie zitierte, was kann der legendäre Philosoph John Stuart Mill dafür, dass ein zum Verbrechen Entschlossener sich auf ihn beruft? Der Rückgriff eines Menschen, der Kinder erschießt, ist ebenso hirnrissig und aller logik fern wie die Ermordung von Landsleuten durch einen, der die Nation zu schützen vorgibt."

So weit, so schlüssig. Die Attentate vom 11. September wurden aber von den meisten westlichen Kommentatoren als Ausfluss eines irregeleiteten politischen Islam gedeutet. Die Möglichkeit des bloßen Irrsinns einer kleinen Splitterruppe wurde gar nicht erwogen, als der so genannte "War on Terror" erklärt wurde, bei dem Hefty, wie ich mich zu erinnern glaube (ich lasse mich gerne korrigieren), keineswegs heftig widersprach. Die Begründungen derer, die sich damals zum Attentat bekannten, wurden ernst genommen und zum Beleg dafür genommen, wie 'unsere Feinde' denken. Dieser Krieg wurde im Namen der 'Freiheit' erklärt, zu deren Aposteln nun einmal auch Jefferson und John Stuart Mill gehören. - Es ist übrigens stilistisch und gedanklich missglückt, einen Philosophen als legendär zu bezeichnen; Hefty mag ein Rennpferd gemeint haben. -

Es wäre aufschlussreich, bei einer noch so irren Begründung eines Verbrechens zu fragen, wo es herkommt und was es bedeutet. Und siehe da, schaut man sich Breiviks Ausführungen an an, so entsprechen sie ziemlich genau den Begründungen für den 'War on Terror' einerseits und für die gleichzeitig sich verschärfende Polemik gegen europäische Muslime andererseits. Sarrazin hat geschrieben und gesagt, wirklich geschrieben und wirklich gesagt, unsere türkischstämmige Minderheit sei genetisch dümmer veranlagt und vermehre sich bedrohlich. Die sich gegen Sarrazin gewehrt haben, haben bemerkt, dass derlei nicht nach 'demokratischer Debatte', sondern nach Euthanasie riecht. Denn welche 'diskursive' Lösung bietet sich für die übergroße Vermehrung der Dummen an? Na?

Noch wenige Tage vor dem norwegischen Verbrechen wurde ein unter Beteiligung des ZDF inszenierter Besuch Sarrazins in Kreuzberg in der Presse, insbesondere der Springer-Presse, breitgetreten. Es verhielt sich in Kürze so, dass lauter Protest Sarrazin nicht zum Zuge kommen ließ und schließlich vertrieb. Was wurde daraus nicht alles abgeleitet: intolerant, undemokratisch seien die Kreuzberger Linken und/oder Migranten. Und Sarrazin, als Populist und von Selbstzweifeln ungeschwächter Hetzer, spielte vor ebendieser Presse den beleidigten Demokraten, der doch nur diskutieren will. Die Beschimpfungen, die er den Protestanten an den Kopf geworfen hat, wurden kaum erwähnt - ich habe sie von Augenzeugen - die umgekehrten Beschimpfungen dagegen zum Ausweis dessen, was der Generalverdacht eh schon zu wissen glaubt: dass die muslimischen Migranten keine guten Demokraten seien. Eine faire Analyse hätte darauf hingewiesen, dass sich eine Gruppe, die sich mit biologistischen Argumenten als negativer Standortfaktor charakterisiert sieht, den Mitbürger Sarrazin nicht als akzeptablen politischen Gesprächspartner ansehen mag. Auch muss berücksichtigt werden, dass Sarrazin keine Kapazität auf dem Gebiet ist, über das er sein Abschaffungs-Buch geschrieben hat; dass er statistische Größen in seiner Argumentation falsch interpretiert; als Fakten deklariert, was umstrittene Hypothese ist usw. (s.dieser Blog). Es gibt also gute Gründe, Sarrazin nicht als wissenschaftlichen Gesprächspartner zu akzeptieren.

In den Reaktionen auf die Kritik an Sarrazin herrscht nicht erst seit besagtem Buch die Regel, die Kritiker als Verfechter 'linker Denkverbote' zu kritisieren. Es wird auch unterstellt, diese 'linken Denkverbote' dominierten die politische Debatte. Ebenso schreibt der norwegische (mutmaßliche, geständige) Mörder Breivik, nur verwendet er den laut FAZ im rechtsextremen Milieu verbreiteten Begriff 'Kulturmarxismus'. Wie aber Matthias Hannemann in der selben FAZ anmerkt, ist nicht nur diese These Breiviks in der Mitte zu finden. Wenn Breivik gegen die 'islamische Kolonisierung' Europas schreibt, so klingt das nur allzu bekannt. Breivik zitiert in seinem Manifest unter anderem Henryk M. Broder mit einer einschlägigen These. Broder könnte sich unwohl dabei fühlen; einem Journalisten des Tagesspiegels, der ihn damit konfrontiert, antwortet er aber mit einem Witz. Nun ja, ein Witzchen. Auch Breiviks Attacken gegen den Multikulturalismus oder gegen 'falsche Toleranz' könnten von Broder, Kelek, Sarrazin oder Ulfkotte stammen. - Was den amerikanischen Diskurs über die 'muslimische Gefahr' betrifft, so findet sich dort ebenfalls 'in der Mitte' ein Gemenge aus Liberalismus und antimuslimischen Thesen, dem nicht einmal die Breiviksche Zutat des Christentums fehlt.

Nach dem Attentat traten so genannte 'Terror-Experten' im Fernsehen, auch dem öffentlich-rechtlichen auf, und diagnostizierten die Handschrift des 'islami(sti)schen Terrorismus'. Dabei haben die allermeisten der in Europa begangenen Terroranschläge keinen muslimischen Hintergrund. Wenn es so nahe liegt, radikale Moslems zu verdächtigen, wenn die so gefährlich sind, dann müsste man doch etwas tun, statt nur zu reden? So oder so ähnlich kann Breivik gedacht haben. Als sich die Aussage der 'Experten' wenige Stunden später als falsch herausstellte, kam nicht etwa ein 'mea culpa', sondern es ging ungebrochen weiter im großen Infotainment.


Wir verstehen nun also, warum Hefty dieses Verbrechen als ideologiefreie Tat eines Irren einzelnen darstellen muss. Denn wenn man sich nach den ideologischen Grundlagen der Tat fragt, so ist der antimuslimische Diskurs der 'Mitte' eine davon. Allerdings sind die, die hier gegen den Islam hetzten, dadurch noch keine Mörder. Ebensowenig wären aber radikale Islamisten schon deshalb Mörder, weil einige Mörder sich auf sie berufen.

Heftys Kommentar sieht konsequenterweise keine politische Lösung außer der besseren Polizeiüberwachung und empfiehlt, dass sich Nachbarn mehr beobachten, vulgo bespitzeln.
Da die Behörden dies allein nicht leisten können, wird es darauf ankommen, dass auch einfache Bürger ihre Beobachtungen melden - bei Weltverbesserungsfanatikern wie bei Kinderpornographie.
Wenn Ihnen demnächst jemand merkwürdig vorkommt, rufen Sie doch einfach mal die Polizei an.


In Lüneburg wurde 2009 ein junger Mann zu einer Haftstrafe verurteilt, der in seiner Website Inhalte von jihadistischen Websites verlinkt hatte. Sarrazin geht hingegen gedeckt durch die Meinungsfreiheit hetzen und bezichtigt friedlich protestierende Kritiker, eine intolerante Meinungspolizei zu sein. Etwas stimmt nicht.

Man müsste sich schon entscheiden: Entweder diese Morde sind ein Grund, die anti-muslimische Hetze nicht länger für einen salonfähigen Beitrag zum Diskurs der Mitte zu halten, oder man macht dem radikalen politischen Islam nicht länger die Terroristen zum Vorwurf, die sich auf ihn berufen.

Dieser Blog, der sich zweierlei Maß zum Gegenstand nimmt, handelte schon wiederholt von Hefty. Bei diesem Thema hat er sich übertroffen und viele andere mit ihm.


Postscriptum (26.7.): Auch Eric Gujer in der NZZ lehnt eine 'Erklärung' des Anschlags durch den erstarkenden Rechtspopulismus in einem jedoch insgesamt wesentlich informativeren Kommentar ab. "Doch ist ein solcher Erklärungsversuch nicht mehr weit entfernt von modernem Geisterglauben." und "In Dänemark und Norwegen habe sogenannte Fortschrittsparteien einen festen Platz in der Politik erobert, auch in Schweden und Finnland schafften neue rechtspopulistische Gruppen den Einzug ins Parlament. Diese Parteien sind ausländerfeindlich und bedienen die Angst vor einer Europa verschlingenden islamischen Flut. Hier gibt es Anklänge an das Weltbild von Anders Behring Breivik, dem Attentäter von Oslo, der Norwegen von Muslimen und Marxisten reinigen wollte. Aber vage Parallelen bedeuten noch kein geistiges Komplizentum." Auch Gujer unterstellt einen zu primitiven Begriff von Erklärung. Hätte dieser Täter ohne diesen ideologischen Hintergrund diese Tat begehen können? So fragt man nach einer notwendigen Bedingung in einem ganzen Satz von Bedingungen, die zusammend hinreichend sind, sprich: nach einer Ursache. Die psychopathologische Beschreibung des Täters wird eine andere Ursache liefern. Wenn man, was ich bezweifle, beweisen könnte, dass dieser Mann sowieso gemordet hätte, bliebe immer noch die Frage, warum es gerade diese Gruppe traf. Wäre das Ausmaß des Verbrechens, die furchtbare Selbstermächtigung auch dann so weit gegangen, wenn nicht in der Gesellschaft von Rechts bis Mitte von einem inneren und äußeren Krieg gegen den Islam zu hören wäre? Auch bei Gujer wüsste ich gern, was er über die Beziehung zwischen den Anschlägen von 9/11 und den mehr oder minder radikalen Spielarten des politischen Islam zu sagen hatte. -- Es handelt sich ja um weit mehr als "vage Parallelen" zwischen den Inhalten der rechtspopulistischen Bewegungen und Breiviks Manifest. Das macht erstere, wie oben schon gesagt, nicht zu Mittätern, aber doch zu Stücken einer Erklärung. Man fragt sich, warum Gujer und Hefty das schreiben. Würden sie bei einer antisemitisch motivierten Tat auch antisemitische Agitatoren von Mitschuld freisprechen? "Populismus und Extremismus trennt ein breiter Graben." schreibt Gujer, auch "Aber sie [die Populisten] gefallen sich nur in der Pose des Tabubruchs, sie begehen ihn nicht." Stimmt das für die Gegenwart, und stimmt das historisch? Gibt es nicht vielmehr ein "Diskurskontinuum" von der Mitte bis zur extremen Rechten statt eines Grabens? Und ist nicht die biologistische Beschreibung von Menschen (als durch ihre genetischen Eigenschaften bestimmt) zumindest für Deutschland sehr wohl ein Tabubruch? Und war nicht in der Weimarer Republik ein ebensolches Kontinuum von "gemäßigten" Antisemiten und Revanchisten bis hin zu "radikalen" zu finden, und haben nicht diese gemeinsam den Siegeszug des Nationalsozialismus, aber auch die vielen politischen Morde an Linken und Juden vor der Machtergreifung und deren weitgehende Straflosigkeit erst möglich gemacht?

Freitag, 1. Juli 2011

Kirchhof vereinfacht

Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof ist erneut mit einem Vorschlag, die Steuergesetzgebung zu reformieren, vorstellig geworden. Der Vorschlag sieht einen einheitlichen Steuersatz der Einkommensteuer von 25% vor. Das bedeutet eine gewaltige Senkung des Spitzensteuersatzes (von 45 auf 25 %), für kleine Einkommen würden größere Steuerfreibeträge allerdings einen niedrigeren effektiven Steuersatz bewirken. Kirchhof nennt seinen Entwurf daher das 'sozialste Steuerrecht, das wir je hatten.' Viele Ausnahmen und Schlupflöcher will er abgeschafft wissen, aber auch ohne diese Schlupflöcher wird der effektive Spitzensteuersatz sinken, i.e. die Vielverdiener werden mehr Geld haben. Falls Kirchhof sich nicht wie bei seinem letzten Entwurf verrechnet hat, muss folglich irgendwer mehr bezahlen, der nicht zu den Spitzenverdienern gehört. Kirchhof geht mit der großen 'Vereinfachung' des Steuerrechts hausieren. Sonderregelungen für Sonn- und Feiertagsarbeit entfallen, auch Fahrtkosten können nicht mehr geltend gemacht werden. Wer mit einem kleineren Einkommen pendeln muss, wird also mehr bezahlen, wer mit einem großen Einkommen pendelt, hat durch die Senkung des Steuersatzes insgesamt mehr übrig. So sieht also das sozialste Steuerrecht aus?

Hierzu sagt etwa Thomas Eigenthaler, der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft, in einem Interview der Badischen Zeitung:

Es klingt ja so verlockend, wenn alles angeblich so wunderbar einfach wird. Aber was bedeutet zum Beispiel die Flat Tax von 25 Prozent in der Einkommensteuer? Sie bedeutet, dass all die Bürger, die heute wegen ihrer hohen Bezüge deutlich höhere Sätze bezahlen, eine enorme Entlastung erfahren. Diesen Ausfall im Steueraufkommen der öffentlichen Hand fängt Kirchhof zum Beispiel dadurch auf, dass Arbeitnehmer Fahrkosten nicht mehr geltend machen können oder auf die Zuschläge für Sonntags- und Feiertagsarbeit Steuer fällig wird. Er verteilt also zwischen Arm und Reich zu Lasten der unteren und mittleren Einkommen um. Auch muss man bei den Fahrkosten bedenken, dass das Nettoprinzip zu gelten hat: Was jemand aufwendet, um überhaupt Einkommen erzielen zu können, muss er geltend machen können. Und nur auf das so entstehende Netto ist dann die Steuer anzusetzen.


Vereinfachung war auch jahrelang ein Stichwort, mit dem die FDP ('Wir brauchen einfachere, gerechtere und niedrigere Steuern') Bauernfängerei betrieb. Vielen besonderen Situationen besondere Regelungen angedeihen zu lassen, kann aber sehr wohl gerechter zu sein, als alle über einen Kamm zu scheren. Hosen künftig nur noch in einer Größe anzufertigen wäre ja auch, obzwar einfach, nicht gerechter. Ende des Scherzes. Nun mag die Komplexität des deutschen Steuerrechts durchaus übertrieben sein, dennoch ist Vereinfachung nicht per se ein Wert. Dass eine komplexen Erwerbswelt einer komplexen Besteuerung unterzogen wird, die nur Experten (Steuerberater) verstehen, was soll daran so grundverkehrt sein? Auch dass man des Rechts nur mittels eines Rechtsanwalts Herr wird, ist doch kein Grund, unser Recht radikal zu vereinfachen. Künftig nur noch drei verschiedene Straftatbestände! Flat punishment: alles wird mit fünf Jahren Gefängnis bestraft.

Kirchhof ist von missionarischem Eifer getrieben.

Heute, so sagt er, regiere der Neid. Wenn aber sein Konzept erst einmal Gesetz sei und alle wüssten, dass jeder seine Steuern auch wirklich zahle, "dann können sich die Menschen erstmals am Erfolg des anderen freuen - das wäre Freiheit!"

(Guido Bohsem und Claus Hulverscheidt in der SZ.) Dahinter kann nur ein ausnehmend wirres Weltbild stehen. Freiheit besteht offenbar nicht darin, sich am Erfolg des anderen zu freuen. So schön diese Haltung teilweise ist, mit Freiheit hat sie wenig oder nichts zu tun, sehr viel aber mit einer kritiklosen Bejahung des Erwerbsstrebens. Ob man jemandem finanziellen Erfolg gönnt, hat ja vor allem mit der Bewertung der Quelle seiner Einnahmen zu tun. (Ich beispielsweise gönne Waffenhändlern keinen Cent, auch Einnahmen, die sich der Ausbeutung anderer verdanken, sind mir suspekt. Durch ein neues Steuerrecht wird sich daran selbstverständlich nichts ändern.)

Ein Weltbild, das um Freiheit zu kreisen vorgibt, und dann derart Ungereimtes über Freiheit hervorbringt, kann auch sonst nicht ganz in Ordnung sein. In einem 2008 dem Deutschlandfunk gegebenen Interview spricht Kirchhof unter anderm über Mindestlöhne:

Kirchhof: Wir haben ein Problem der sozialen Gerechtigkeit - einmal, weil die Umsatzsteuer, die indirekte Steuer, so hoch ist. Das trifft die kleinen Leute mit den kleinen
Einkommen. Das trifft die Familie, die ihr ganzes Einkommen konsumieren müssen, um die Kinder ernähren zu können. Und dann muss ja auch derjenige, den wir im Einkommensteuerrecht
verschonen, weil er zu wenig Einkommen erzielt, Umsatzsteuer zahlen. Das heißt, die Umsatzsteuer wirkt dort als eine soziale Schieflage. Was den Mindestlohn angeht, muss man sehr deutlich sagen: Mindestlohn ist etwas Wichtiges, etwas Schönes - der Grundgedanke. Jeder soll von seiner Arbeit leben können, das ist prinzipiell richtig.

Nur, der Staat darf nicht definieren, was der Mindestlohn ist, denn dann würde er bestimmte Arbeitsplätze so verteuern, dass der Unternehmer diese Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr anbietet. Und dann ist etwas sehr Schlimmes passiert, denn jeder Bürger, der arbeiten will, der nicht in der Familie arbeitet sondern im Erwerbsleben arbeitet, möchte gerne dazugehören, er möchte die Anerkennung seiner Arbeit, er möchte die Begegnung, er möchte das Einkommen. Und deswegen auf keinen Fall einen staatlich definierten Mindestlohn!

Liminski: Aber wenn ein Schiedsrichter fehlt, kann es natürlich passieren, dass wegen der Umstände dieser Mindestlohn sehr tief angesiedelt ist. Wir kennen die einzelnen Berufe, die es da gibt, Friseure und so weiter, die praktisch von einem solchen geringen Mindestlohn nicht leben können. Muss nicht doch eine höhere Instanz, eben der Staat, eingreifen, wenn die Tarifparteien es alleine nicht schaffen?

Kirchhof: Ich glaube, auch da muss man genau zuschauen. Etwa bei der Friseuse könnte es sein, ich bin da kein Experte, dass sie über die Trinkgelder so viel hinzu verdient, dass der reale Lohn, den sie empfängt, durchaus die Beträge deutlich übersteigt, über die wir gegenwärtig als Mindestlohn diskutieren. Natürlich muss es eine Maxime geben, der die Angemessenheit des Mindestlohnes definiert. Aber da hatten wir bisher in den sechzig Jahren gute Erfahrung gemacht, wenn wir sagen: Nicht der Staat definiert den Lohn, sondern die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind verantwortlich, den Lohn zu definieren.

Die niedrigen Löhne der Friseurinnen sind belegt, aber wir können uns ja einfach mal die Fakten umlügen, wo sie unserer Doktrin widersprechen und uns durch "ich bin da kein Experte" gegen Kritik absichern. Freiheit ist, wenn der Staat es nicht richten muss: So lässt sich zusammenfassen, was Kirchhof wiederholt gesagt hat. Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, sind ein störendes Detail. -- Der Staat soll doch künftig kein Eigentum mehr schützen. Die einen heuern Wachleute an, die anderen spezialisieren sich auf Einbruchdiebstahl, das regelt sich selbst.

Hütet euch vor den falschen Propheten.