Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Donnerstag, 17. September 2009

Was stört an Verbrechern?

Man möchte doch meinen, das Verbrechen.

Wenn wir die Berichte über die zwei jungen Männer, die vor zwei Jahren in der Münchner U-Bahn einen Rentner schwer verletzten, mit den Berichten über den jetzigen Mord in der Münchner S-Bahn vergleichen, fällt aber auf, dass im ersten Fall die Entrüstung oft darauf herumritt, dass es sich um Ausländer handelte, im zweiten Fall ging es dagegen um soziologische und psychologische Beurteilung der Täter, die ja "Deutsche ohne Migrationshintergrund" waren. Wann immer eine Kriminalstatistik veröffentlicht wird, die eigens die Ausländerkriminalität ausweist, wird das entsprechend kommentiert und - etwa von Regina Mönch in der FAZ die Berliner Kriminalstatistik 2007- zum Anlass genommen, die Ausländer als Problem zu beschreiben. An dieser Kriminialität scheint nicht sie selbst, sondern die Herkunft der Täter der Skandal zu sein. Bei deutschen Kriminellen ist das nicht so. Im Fall von 2007 liessen sich die Boulevardpresse, aber auch CSU-Politiker und Roland Koch breit über ausländische Straftäter, verschärfte Strafen, Abschiebung etc. aus.

In der seriösen Presse wird nicht ganz so gegeifert, aber man findet zum Beispiel Schirrmacher in der FAZ vom 18. Januar 2008


Die türkisch- und libanesischstämmigen Jugendlichen, die am vergangenen Donnerstag in Berlin einen Busfahrer mit dem Satz „Alles nur Scheiß-Deutsche überall!“ ohne Vorwarnung angriffen und verletzten, können sich aussuchen, was sie sind. Wir selber wissen noch nicht einmal, wie wir sie nennen sollen: Deutsche, Migranten, Deutsche mit Mitgrationshintergrund? Die radikalisierten Täter in München und Berlin wollen in dem Augenblick der Tat und vielleicht sogar überwiegend Nicht-Deutsche sein.

Die Gründe liegen so erkennbar auf der Hand, dass die Debatte darüber geradezu grotesk ist: Den jungen, ganz überwiegend muslimischen Männern verhilft die Ausgrenzung der „Deutschen“, ebenso übrigens wie die der Frauen, zu einem Gefühl der Überlegenheit. Die Deutschen, die sie an der Bushaltestelle sahen, entsprachen erkennbar dem, was sie sich unter normalen Deutschen vorstellen. Der Polizist aber, der das Trio verhaftete und der auf seine türkischstämmige Herkunft hinwies, wurde ebenfalls als „Scheiß-Deutscher“ beschimpft. In diesem Fall aber sollte die Bezeichnung gleichsam die Verachtung für den kulturellen Identitäts-Verrat markieren.


oder Berthold Kohler am 11. Januar 2008:

Ausgangspunkt für die Debatte war ein brutaler Überfall, bei dem sich Opfer und Täter nicht an die von den Ideologen des Multikulturalismus festgelegte Rollenverteilung hielten. Es liegt – nach den üblichen Kriterien – kein Akt von Ausländerfeindlichkeit vor, sondern einer von Deutschenfeindlichkeit.

Und beileibe kein Einzelfall, wie die Statistik zeigt. Nach den berüchtigten „No-go-areas“, über deren Existenz in Ostdeutschland gestritten wurde, muss man in den Großstädten des Westens nicht lange suchen: Unbescholtene Bürger überlegen sich, wann sie noch die U-Bahn benutzen; Schüler, welcher Teil des Pausenhofes noch sicher ist. Daran sind nicht nur die überproportionale Gewalttätigkeit und der Hass junger Männer ausländischer Herkunft schuld.


Schuld daran tragen auch all jene, die mehr Verständnis für Täter als für Opfer zeigen, die vom Versagen aller möglichen Systeme faseln und insgesamt Schlägern und Messerstechern jedweder Herkunft den Eindruck vermitteln, der deutsche Staat komme seiner Pflicht zum Schutz von Leben und Freiheit seiner Bürger bestenfalls zaghaft nach.

Koch hat dieses Zurückweichen zum Thema gemacht, und das ist gut so. Die Parteien könnten das Problem der Ausländerkriminalität weiter verschweigen und kleinreden. Doch damit brächten sie es nicht zum Verschwinden; sie verschafften nur den Extremisten mehr Zulauf, rechts wie links. Denn auch für den Fall, dass Struck wirklich nicht weiß, was in Deutschland vorgeht: Die Deutschen wissen es.


Der Versuch, zu verstehen, wie es zu der Gewalt kommt, wird im einen Fall von Mönch, Koch et al. als "Multi-Kult-Kuschelkurs" abgetan. Jetzt, wo die Täter Deutsche "de souche" sind, bleibt gar nichts anderes übrig, als die Täter genauer zu betrachten. Und siehe da, sie haben noch mehr Eigenschaften, als Deutsche zu sein.

Es gibt in der Kriminalstatistik auch komplexe Modelle, die viele Faktoren berücksichtigen. (siehe etwa Pfeiffer u. Wetzels: The structure and development of juvenile violence in Germany, KFN, Hannover 1999.) Welcher Anteil der Kriminalität wird durch den jeweiligen Faktor erklärt? Solche Analysen sind schwierig, aber unumgänglich, wenn sich überhaupt etwas aus Statistik lernen lassen soll, da Korrelation eben keine Kausalität ist.

Diese statistische Banalität muss leider immer wieder gesagt werden, so oft wird ihr zuwider eine Statistik ausgebeutet: Frauen sind kleiner. Frauen leben länger. Es ergibt sich die Korrelation "Kleine Menschen leben länger". Sollten wir uns also besondere medizinische Programme für grosse Menschen ausdenken? Wie dumm.

Die Bereitschaft, ohne grosse Bedenken, die Grösse "Herkunft" für eine Problemursache zu halten, ist der Xenophobie näher verwandt, als ihr lieb sein kann.

Manche Argumentationsfehler lassen sich im Rahmen komplexerer Modelle aufdecken, aber der Sprung von Korrelation zur Kausalität kann grundsätzlich nur mit Hilfe anderweitiger gegenstandsbezogener Theorien stattfinden. Psychologen sagen uns, dass eigene Gewalterfahrungen als Opfer auch die Gewaltbereitschaft erhöhen. Das scheint auf alle diese Täter zuzutreffen. Ein Zusammhang zwischen sozialer Misere und häuslicher Gewalt ist ebenfalls belegt. In einem umfassenden kausalen Modell könnte man unter den Ursachen womöglich die Kräfte der Politik und der Wirtschaft finden, die Armut und Billiglohn verbreiten, von denen Ausländer übrigens besonders betroffen sind. (In den statistischen Modellen wird ein Teil der Unterschiede in der Delinquenz auf diese Weise erklärt. Es gibt einen Rest, der nicht auf diese Weise 'sozial' erklärbar ist, sondern auf kulturelle Besonderheiten, etwa 'Männlichkeitsvorstellungen' zurückführbar scheint. Die Unterschiede sind aber nicht so dramatisch, dass ein großes Wehgeschrei angemessen scheint. Es gibt sicher viele Probleme, aber keinen Grund, auf bestimmte Gruppen zu zeigen und von diesen zu behaupten, sie seien unser Unglück.) Die Analyse der Ursachen ist eine intellektuelle Pflicht, nichts Schwurbeliges. Was sich mit "man wird doch mal sagen dürfen" zu Wort meldet, ist oft nur Ressentiment. Machen Sie doch mal das Experiment, in solchen Texten "Ausländer" durch "Jude" zu ersetzen, und es wird Ihnen nicht sehr wohl dabei werden. Was glauben Sie wohl, hätte der "Stürmer" aus dieser Meldung gemacht:

Der 23-Jährige habe zugegeben, am vergangenen Sonntag einen 43- jährigen Fernmeldemonteur an einem Münchner U-Bahnhof zusammengeschlagen zu haben, teilten die Beamten mit. Der Auszubildende hatte nach eigenen Angaben auf dem Oktoberfest fünf bis sechs Maß Bier getrunken, bevor er in die U-Bahn stieg. In der Bahn zündete er sich eine Zigarette an, Fahrgäste protestierten. An der Schwabinger Station Giselastraße schoben ihn Fahrgäste, unter ihnen der 43-Jährige, aus der Bahn. Der Raucher spuckte dem Fernmeldemonteur daraufhin ins Gesicht und beschimpfte ihn. Als der 43-Jährige ihm folgte, schlug er ihn nieder und trat ihm gegen den Kopf. Der Mann erlitt eine Gehirnerschütterung, Gesichtsverletzungen, eine Schulter- und Hüftfraktur. [...]Der 23-Jährige, der einen deutschen und einen israelischen Pass besitzt, war wegen Nötigung und Beleidigung aktenkundig.


Immer wieder höre ich in letzter Zeit Sätze in Kohlers Art, man solle "endlich mehr Verständnis für die Opfer als für die Täter zeigen", geäussert von Akademikern oder Künstlern mit Beispielen von türkischen oder arabischen Tätern. Das Bedürfnis nach Verdammung ist offenbar grösser als der Wunsch, etwas zu verstehen, und solange die Gruppen, über die man schwadroniert, keine Juden sind, ist man halt kein Nazi. Wünsche, wohl zu ruhen.

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