Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Freitag, 18. September 2009

Wie man Zweifel abtut

Ein harmloses Beispiel: Ich wundere mich, dass die Illegitimität des Wahlergebnisses im Iran von fast allen westlichen Medien noch vor der Auszählung behauptet wurde (und die Legitimität des afghanischen Wahlergbnisses sogar gegen die Berichte der Wahlbeobachter so lange wie möglich behauptet wird.) Und ich beschränke mich nicht aufs "Wundern", sondern spekuliere auch ein bisschen, dass interessierte Akteure die Berichterstattung manipulieren. Man kann Nachrichtenagenturen Meldungen unterjubeln, man kann Journalisten "briefen", für die Jugoslawienkriege gibt es sogar ein Buch über diese Methoden (Jörg Becker & Mira Beham: Operation Balkan). Dennoch könnte man mich auch als "Verschwörungstheoretiker" abtun, und da schwingt mit: irrational und faschistoid.

Nun haben "Verschwörungstheoretiker" zwar den absurdesten Schwachsinn ersonnen, aber andererseits auch immer mal wieder rechtbehalten. Die Jugoslawienkriege sind so ein Fall. Der so genannte "Hufeisenplan" der Serben, der den völkerrechtswidrigen Einsatz der NATO im Kosovo rechtfertigte, war eine Fälschung. An den Akteuren des Kriegers, die die Fälschung glauben wollten oder anfertigen ließen, ist kein Makel hängengeblieben. Damals wurden die Gegner des Einsatzes als Komplizen von Menschenrechtsverletzungen geschmäht, gegen Zweifel an der Echtheit des Hufeisenplans wurde unter anderem auch der Vorwurf der "Verschwörungstheorie" erhoben. Vielleicht ist an den Zweiflern ebensowenig ein Makel hängengeblieben, aber eine Entschuldigung und Richtigstellung derer, die aus Unwahrheiten Kriegsgründe machten, wäre fällig gewesen, es gab sie aber nie.

Und so will ich eine kleine Lanze brechen für Zweifler. Es gibt Situationen, in der das Interesse mancher an Lügen und Manipulation sehr groß ist. Man darf misstrauisch sein und auch gelegentlich über Unsichtbares Hypothesen aufstellen, ohne deshalb gleich als "Verschwörungstheoretiker" zu gelten.


Nach diesem selbst erteilten Freibrief will ich auch gleich noch ein bisschen spekulieren: Wenn vor den Wahlen arg viele Aufschwungsmeldungen in die Zeitungen lanciert werden, will es mir scheinen, dass jemand die CDU unterstützen möchte. (Die positiven Meldungen kommen unter anderem vom IfO.)

p.s. Man kann zwar keine scharfe Grenze ziehen zwischen Spinnerei und vernünftiger Hypothese, aber das ist ja bei fast allen Unterscheidungen so. Wenn die Hypothesen des Zweiflers plausibler sind als die der Nachricht, kann was dran sein. Die "klassischen" Verschwörungstheorien machen dagegen so viele Annahmen über geheime Absprachen ("jüdische Weltverschwörung", "überall Freimaurer", "Mondlandung ein Medienkomplott"), dass auch das weiche Kriterium sie leicht als Lüge entlarvt. Der Haken an einer Unterscheidung anhand von "Plausibilität" ist natürlich, dass der Antisemit die jüdische Verschwörung immer für plausibel hält, oder der salonfähigere Anti-Islamist supergefährliche weltumspannende Terrornetzwerke unbedingt glaubt, auch wenn man dann Leute vor Gericht bringt, die den dümmstmöglichen Sprengstoff in der Badewanne herstellen.

Donnerstag, 17. September 2009

Was stört an Verbrechern?

Man möchte doch meinen, das Verbrechen.

Wenn wir die Berichte über die zwei jungen Männer, die vor zwei Jahren in der Münchner U-Bahn einen Rentner schwer verletzten, mit den Berichten über den jetzigen Mord in der Münchner S-Bahn vergleichen, fällt aber auf, dass im ersten Fall die Entrüstung oft darauf herumritt, dass es sich um Ausländer handelte, im zweiten Fall ging es dagegen um soziologische und psychologische Beurteilung der Täter, die ja "Deutsche ohne Migrationshintergrund" waren. Wann immer eine Kriminalstatistik veröffentlicht wird, die eigens die Ausländerkriminalität ausweist, wird das entsprechend kommentiert und - etwa von Regina Mönch in der FAZ die Berliner Kriminalstatistik 2007- zum Anlass genommen, die Ausländer als Problem zu beschreiben. An dieser Kriminialität scheint nicht sie selbst, sondern die Herkunft der Täter der Skandal zu sein. Bei deutschen Kriminellen ist das nicht so. Im Fall von 2007 liessen sich die Boulevardpresse, aber auch CSU-Politiker und Roland Koch breit über ausländische Straftäter, verschärfte Strafen, Abschiebung etc. aus.

In der seriösen Presse wird nicht ganz so gegeifert, aber man findet zum Beispiel Schirrmacher in der FAZ vom 18. Januar 2008


Die türkisch- und libanesischstämmigen Jugendlichen, die am vergangenen Donnerstag in Berlin einen Busfahrer mit dem Satz „Alles nur Scheiß-Deutsche überall!“ ohne Vorwarnung angriffen und verletzten, können sich aussuchen, was sie sind. Wir selber wissen noch nicht einmal, wie wir sie nennen sollen: Deutsche, Migranten, Deutsche mit Mitgrationshintergrund? Die radikalisierten Täter in München und Berlin wollen in dem Augenblick der Tat und vielleicht sogar überwiegend Nicht-Deutsche sein.

Die Gründe liegen so erkennbar auf der Hand, dass die Debatte darüber geradezu grotesk ist: Den jungen, ganz überwiegend muslimischen Männern verhilft die Ausgrenzung der „Deutschen“, ebenso übrigens wie die der Frauen, zu einem Gefühl der Überlegenheit. Die Deutschen, die sie an der Bushaltestelle sahen, entsprachen erkennbar dem, was sie sich unter normalen Deutschen vorstellen. Der Polizist aber, der das Trio verhaftete und der auf seine türkischstämmige Herkunft hinwies, wurde ebenfalls als „Scheiß-Deutscher“ beschimpft. In diesem Fall aber sollte die Bezeichnung gleichsam die Verachtung für den kulturellen Identitäts-Verrat markieren.


oder Berthold Kohler am 11. Januar 2008:

Ausgangspunkt für die Debatte war ein brutaler Überfall, bei dem sich Opfer und Täter nicht an die von den Ideologen des Multikulturalismus festgelegte Rollenverteilung hielten. Es liegt – nach den üblichen Kriterien – kein Akt von Ausländerfeindlichkeit vor, sondern einer von Deutschenfeindlichkeit.

Und beileibe kein Einzelfall, wie die Statistik zeigt. Nach den berüchtigten „No-go-areas“, über deren Existenz in Ostdeutschland gestritten wurde, muss man in den Großstädten des Westens nicht lange suchen: Unbescholtene Bürger überlegen sich, wann sie noch die U-Bahn benutzen; Schüler, welcher Teil des Pausenhofes noch sicher ist. Daran sind nicht nur die überproportionale Gewalttätigkeit und der Hass junger Männer ausländischer Herkunft schuld.


Schuld daran tragen auch all jene, die mehr Verständnis für Täter als für Opfer zeigen, die vom Versagen aller möglichen Systeme faseln und insgesamt Schlägern und Messerstechern jedweder Herkunft den Eindruck vermitteln, der deutsche Staat komme seiner Pflicht zum Schutz von Leben und Freiheit seiner Bürger bestenfalls zaghaft nach.

Koch hat dieses Zurückweichen zum Thema gemacht, und das ist gut so. Die Parteien könnten das Problem der Ausländerkriminalität weiter verschweigen und kleinreden. Doch damit brächten sie es nicht zum Verschwinden; sie verschafften nur den Extremisten mehr Zulauf, rechts wie links. Denn auch für den Fall, dass Struck wirklich nicht weiß, was in Deutschland vorgeht: Die Deutschen wissen es.


Der Versuch, zu verstehen, wie es zu der Gewalt kommt, wird im einen Fall von Mönch, Koch et al. als "Multi-Kult-Kuschelkurs" abgetan. Jetzt, wo die Täter Deutsche "de souche" sind, bleibt gar nichts anderes übrig, als die Täter genauer zu betrachten. Und siehe da, sie haben noch mehr Eigenschaften, als Deutsche zu sein.

Es gibt in der Kriminalstatistik auch komplexe Modelle, die viele Faktoren berücksichtigen. (siehe etwa Pfeiffer u. Wetzels: The structure and development of juvenile violence in Germany, KFN, Hannover 1999.) Welcher Anteil der Kriminalität wird durch den jeweiligen Faktor erklärt? Solche Analysen sind schwierig, aber unumgänglich, wenn sich überhaupt etwas aus Statistik lernen lassen soll, da Korrelation eben keine Kausalität ist.

Diese statistische Banalität muss leider immer wieder gesagt werden, so oft wird ihr zuwider eine Statistik ausgebeutet: Frauen sind kleiner. Frauen leben länger. Es ergibt sich die Korrelation "Kleine Menschen leben länger". Sollten wir uns also besondere medizinische Programme für grosse Menschen ausdenken? Wie dumm.

Die Bereitschaft, ohne grosse Bedenken, die Grösse "Herkunft" für eine Problemursache zu halten, ist der Xenophobie näher verwandt, als ihr lieb sein kann.

Manche Argumentationsfehler lassen sich im Rahmen komplexerer Modelle aufdecken, aber der Sprung von Korrelation zur Kausalität kann grundsätzlich nur mit Hilfe anderweitiger gegenstandsbezogener Theorien stattfinden. Psychologen sagen uns, dass eigene Gewalterfahrungen als Opfer auch die Gewaltbereitschaft erhöhen. Das scheint auf alle diese Täter zuzutreffen. Ein Zusammhang zwischen sozialer Misere und häuslicher Gewalt ist ebenfalls belegt. In einem umfassenden kausalen Modell könnte man unter den Ursachen womöglich die Kräfte der Politik und der Wirtschaft finden, die Armut und Billiglohn verbreiten, von denen Ausländer übrigens besonders betroffen sind. (In den statistischen Modellen wird ein Teil der Unterschiede in der Delinquenz auf diese Weise erklärt. Es gibt einen Rest, der nicht auf diese Weise 'sozial' erklärbar ist, sondern auf kulturelle Besonderheiten, etwa 'Männlichkeitsvorstellungen' zurückführbar scheint. Die Unterschiede sind aber nicht so dramatisch, dass ein großes Wehgeschrei angemessen scheint. Es gibt sicher viele Probleme, aber keinen Grund, auf bestimmte Gruppen zu zeigen und von diesen zu behaupten, sie seien unser Unglück.) Die Analyse der Ursachen ist eine intellektuelle Pflicht, nichts Schwurbeliges. Was sich mit "man wird doch mal sagen dürfen" zu Wort meldet, ist oft nur Ressentiment. Machen Sie doch mal das Experiment, in solchen Texten "Ausländer" durch "Jude" zu ersetzen, und es wird Ihnen nicht sehr wohl dabei werden. Was glauben Sie wohl, hätte der "Stürmer" aus dieser Meldung gemacht:

Der 23-Jährige habe zugegeben, am vergangenen Sonntag einen 43- jährigen Fernmeldemonteur an einem Münchner U-Bahnhof zusammengeschlagen zu haben, teilten die Beamten mit. Der Auszubildende hatte nach eigenen Angaben auf dem Oktoberfest fünf bis sechs Maß Bier getrunken, bevor er in die U-Bahn stieg. In der Bahn zündete er sich eine Zigarette an, Fahrgäste protestierten. An der Schwabinger Station Giselastraße schoben ihn Fahrgäste, unter ihnen der 43-Jährige, aus der Bahn. Der Raucher spuckte dem Fernmeldemonteur daraufhin ins Gesicht und beschimpfte ihn. Als der 43-Jährige ihm folgte, schlug er ihn nieder und trat ihm gegen den Kopf. Der Mann erlitt eine Gehirnerschütterung, Gesichtsverletzungen, eine Schulter- und Hüftfraktur. [...]Der 23-Jährige, der einen deutschen und einen israelischen Pass besitzt, war wegen Nötigung und Beleidigung aktenkundig.


Immer wieder höre ich in letzter Zeit Sätze in Kohlers Art, man solle "endlich mehr Verständnis für die Opfer als für die Täter zeigen", geäussert von Akademikern oder Künstlern mit Beispielen von türkischen oder arabischen Tätern. Das Bedürfnis nach Verdammung ist offenbar grösser als der Wunsch, etwas zu verstehen, und solange die Gruppen, über die man schwadroniert, keine Juden sind, ist man halt kein Nazi. Wünsche, wohl zu ruhen.

Donnerstag, 10. September 2009

Frau Teflon

"Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror. Er ist von dort gekommen und nicht umgekehrt."

erklärte Frau Merkel. Und deshalb sind die seit Anfang des Jahres durch Luftangriffe der NATO getöteten ca. 800 Zivilisten irgendwie auch Opfer der Terroristen vom 11. September. Dass Zivilisten bei den Tanklastzügen standen, scheint inzwischen zwar klar, aber Merkel wendet sich gegen "Vorverurteilungen". Das klingt vorsichtig, sachlich, ist aber nach Sachlage einfach nur ein Verzögern des Eingeständnisses, dass sehr wohl Zivilisten dran glauben mussten. Wichtig ist, die erste Empörung auszusitzen, später ist es dann keine Nachricht mehr.
"Wir trauern um jeden Menschen, der in Afghanistan unschuldig zu Tode kommt."

Ja, fein. Es kommen aber jede Wochen Zivilisten auch durch Nato-Einsätze um. Wir trauern demnach um die Leute, die wir umgebracht haben. Und deswegen sind unsere Soldaten zwar Töter, aber nie Mörder, gell? Die Erregbarkeitsschwelle ist aber inzwischen sehr hoch. Die Hohlheit von Merkels Worten wirft ihr niemand vor, gefährlich wäre es dagegen, etwas zu sagen. Dass sich Profillosigkeit auszahlt, liegt unter anderem an einem merkwürdig zahmen Journalismus. Na ja, einige der Phrasen werden's in die "Briefe an die Leser" der Zeitschrift "Titanic" schaffen. Soweit die kritische Öffentlichkeit.
Einen Tag später, als die zivilen Opfer noch weniger bezweifelt werden können, verspricht Merkel noch mehr Aufklärung und sagt wieder so einen typisch merkelschen Satz
„Mir ist es sehr wichtig, dass die Soldaten wissen, dass wir hinter ihnen stehen und sie unsere politische Unterstützung haben.“

Das ist ja aber auch das mindeste, wenn man sie hinschickt in einen Krieg, den man so zu nennen sich weigert. Ob die Soldaten auch bemerken, dass Merkel ihnen,indem sie ihnen "Rückendeckung" gibt, die Verantwortung zuweist? Wir, die Regierung haben keine Fehler gemacht, allenfalls habt ihr Fehler gemacht, ABER wir stehen hinter euch als eure Regierung. Verantwortlich seid natürlich ihr, nicht wir. Diese Teflon-Sätze sind ein wahres Wunder an Abwälzung und Nicht-Festlegung. Wie wär's denn mal so:
Wenn Zivilisten verbrutzelt wurden, ist in erster Linie die Regierung verantwortlich und nicht die Soldaten, die sie schickt. Wo gehobelt wird, fallen natürlich Späne, und aus der Luft lässt sich ein Zivilist nun mal schlecht von einem Kämpfer unterscheiden, das ist uns klar. Wir trauern natürlich nicht um diese ganzen wildfremden Toten, das sag ich nur so.

Binders Haupt

The first images of alleged al-Qaeda mastermind Khalid Sheikh Mohammed at Guantanamo Bay have appeared on the internet.

meldet die BBC und lässt anschließend Jarret Brachman zu Wort kommen:
But the images have appeared in recent days on extremist websites, according to Jarret Brachman, former research director at the Combating Terrorism Center of the West Point US Military Academy. He said the images - which emerge on the eve of the eighth anniversary of the 9/11 attacks - could inspire extremists.
"What's problematic for me is it really humanises the guy," Mr Brachman told AP news agency.

Ja, man soll demnach seine Feinde dehumanisieren? Wenn das der Geist ist, in dem der so genannte "war on terror" geführt wird, ist er ja ganz so, wie sich die Karikatur die Terroristen vorstellt. Einen Verbrecher als Menschen zu bezeichnen und zu zeigen entschuldigt ja nicht sein Verbrechen. Hegel wählt in seiner polemischen Schrift "Wer denkt abstrakt?" eben dies Beispiel eines Mörders, der für ein abstraktes und schlechtes Denken nur ein Mörder ist. Die Hinrichtung des Mörders ist die Strafe für den Mord, sie bezieht sich auf den Mörder als Mörder. Ein nicht so armes und abstraktes Denken kann den Mörder zugleich noch als etwas anderes sehen.
Ich brauche für meinen Satz nur Beispiele anzuführen, von denen Jedermann zugestehen wird, daß sie ihn enthalten. Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? wie kann [man] so schlechtdenkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid auch wohl etwas nicht viel Besseres! Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt.

Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte. – Es kann wohl Leute geben, die, wenn sie solches hören, sagen werden: der will diesen Mörder entschuldigen! Erinnere ich mich doch, in meiner Jugend einen Bürgermeister klagen gehört [zu haben], daß es die Bücherschreiber zu weit treiben und Christentum und Rechtschaffenheit ganz auszurotten suchen; es habe einer eine Verteidigung des Selbstmordes geschrieben; schrecklich, gar zu schrecklich! – Es ergab sich aus weiterer Nachfrage, daß Werthers Leiden verstanden waren.

Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen. Ganz anders eine feine, empfindsame Leipziger Welt. Sie bestreute und beband das Rad und den Verbrecher, der darauf geflochten war, mit Blumenkränzen. – Dies ist aber wieder die entgegengesetzte Abstraktion. Die Christen mögen wohl Rosenkreuzerei oder vielmehr Kreuzroserei treiben, das Kreuz mit Rosen umwinden. Das Kreuz ist der längst geheiligte Galgen und Rad. Es hat seine einseitige Bedeutung, das Werkzeug entehrender Strafe zu sein, verloren und kennt im Gegenteil die Vorstellung des höchsten Schmerzes und der tiefsten Verwerfung, zusammen mit der freudigsten Wonne und göttlicher Ehre. Hingegen das Leipziger [Kreuz], mit Veilchen und Klatschrosen eingebunden, ist eine Kotzebuesche Versöhnung, eine Art liederlicher Verträglichkeit der Empfindsamkeit mit dem Schlechten.

Ganz anders hörte ich einst eine gemeine alte Frau, ein Spitalweib, die Abstraktion des Mörders töten und ihn zur Ehre lebendig machen. Das abgeschlagene Haupt war aufs Schaffot gelegt, und es war Sonnenschein; wie doch so schön, sagte sie, Gottes Gnadensonne Binders Haupt beglänzt! – Du bist nicht wert, daß dich die Sonne bescheint, sagt man zu einem Wicht, über den man sich erzürnt. Jene Frau sah, daß der Mörderkopf von der Sonne beschienen wurde und es also auch noch wert war. Sie erhob ihn von der Strafe des Schaffots in die Sonnengnade Gottes, brachte nicht durch ihre Veilchen und ihre empfindsame Eitelkeit die Versöhnung zustande, sondern sah in der höheren Sonne ihn zu Gnaden aufgenommen.

Alte, ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, entgegnet diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Eiern sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im Spital gestorben, – schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemd an; man weiß wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere nicht wären, war jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße manche im Stockhause, – flick sie sich nur die Löcher in den Strümpfen! – Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt und subsumiert sie nach Halstuch, Mütze, Hemd usf. wie nach den Fingern und anderen Partien, auch nach [dem] Vater und der ganzen Sippschaft, ganz allein unter das Verbrechen, daß sie die Eier faul gefunden hat; alles an ihr ist durch und durch mit diesen faulen Eiern gefärbt, dahingegen jene Offiziere, von denen die Hökersfrau sprach – wenn anders, wie sehr zu zweifeln, etwas daran ist –, ganz andere Dinge an ihr zu sehen bekommen mögen. [zitiert nach zeno.org]


Khalid Sheikh Mohammed sitzt in Guantanamo für seine Beteiligung an dem Anschlag, ein Mörder, in dem auch noch etwas anderes zu sehen nach Brachman gefährlich ist. George W. Bush muss, je nach Rechnung, Hunderttausende oder über eine Million Tote im Irak und Afghanistan verantworten, er ist nach der umgekehrten Abstraktion aber nur demokratisch gewählter Präsident. Geht's noch?

Warum heißen sie Wasserleute?

Weil sie die Kutschentüren aufmachen.


Dieses Beispiel für unbefriedigende Erklärungen aus dem Roman "Peter Simple" von Captain Marryat, den ich in meiner Jugend gern gelesen habe, fällt mir jedesmal ein, wenn ich eines der Schilder sehe:

Weil Arbeit faire Löhne braucht: SPD.

Warum eigentlich SPD, wenn gerade unter der SPD Billiglohn sich dermaßen verbreitet hat?