Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Donnerstag, 13. März 2014

Kohlers Welt

Berthold Kohler ist eingemauert in ein polares Weltbild, eine Fortsetzung des kalten Krieges. Er hat sich heute in der FAZ geäußert, so gestanzt, einseitig und eigentlich merkwürdig, dass dieser Blogeintrag sich als eine Art Museum von etwas versteht, das für ausgestorben zu halten angenehm wäre:

Wenn Putin interessierte, was im Westen über ihn gedacht und gesagt wird, dann hätte es sich für ihn gelohnt, der Bundestagsdebatte über die Krim-Krise zuzuhören. Das deutsche Parlament ist bekanntlich alles andere als eine Versammlung von außenpolitischen Scharfmachern. Wenn dort ein anderer Staat gescholten werden soll, dann wendet sich inzwischen nicht mehr nur die Linkspartei lieber Amerika als Russland zu.
Wer deutschen Debatten der letzten Jahre folgt, kann wohl kaum den Eindruck gewonnen haben, dass es lieber gegen Amerika als gegen Russland geht. Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall, und das obwohl die die BRD in den letzten Jahren besondere Hühnchen mit seinen Verbündeten zu rupfen hatte.  Kohlers Behauptung, die sich durch eine leichte Zählung widerlegen ließe, soll implizieren, dass eine seltene Kritik an Russland deshalb auch Hand und Fuß haben müsse.

Doch auch die Linken kamen nach dem üblichen Abarbeiten an Washington und Nato nicht umhin, das Vorgehen des Kremls auf der Krim zu verurteilen. Putins Lügen, Scheinbegründungen und Täuschungsmanöver ziehen selbst bei ihnen nicht mehr. Freilich ist die Linkspartei auch die Kraft, der es am wenigsten darauf ankommt, dass für die deutsche Wirtschaft weiter der Rubel rollt.
Insofern sich Russland in innere Angelegenheiten der Ukraine einmischt, sind völkerrechtliche Prinzipien verletzt, die auch linke Politiker (und im Hinblick auf Irak, Kosovo eigentlich nur diese) einfordern.  Insbesondere wird durch völkerrechtliche Abstraktion auch die vorherige Einmischung Europas und der USA in den ukrainischen Umsturz ebenso fraglich, worauf linke Politiker hingewiesen haben. Schließlich ist die letzte Aussage des Absatzes sehr hübsch und erinnert an den seligen FJS.  "Wo ich schon einmal dabei bin", kann ich, obwohl es thematisch hier nicht hingehört, noch einmal darauf hinweisen, dass die Linken der deutschen Wirtschaft schaden wollen.  Nun redet die Linkspartei aber davon, dass der Rubel, wenn er denn rollt, auch für die Ärmeren rollen sollte.  Wenn es nun so wäre, dass mehr Gerechtigkeit automatisch weniger Wettbewerbsfähigkeit bedeutete, so wäre die vorbehaltlose Bejahung letzterer durch Kohler doch wohl problematisch; ist es aber nicht so, so ist die Aussage Kohlers falsch. Auch ist bei den so genannten 'Reformern' in der Linkspartei, die spätestens bei einer Koalition mit der SPD auch zu Verrätern würden, sowieso die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Wege zur heiligen Kuh.

Die Kanzlerin dagegen muss auch diesen Aspekt bedenken. Dennoch hält sie mit allem Recht an ihrer Linie fest, dass der Westen nicht tatenlos zusehen kann, wie Moskau sich über die Regeln des Völkerrechts und die lange Zeit auch von Russland respektierten Prinzipien der politischen Ordnung in Europa hinwegsetzt. Ginge der Westen nach einer solchen massiven Grenzüberschreitung mit abnehmendem Murren zum Tagesgeschäft über, wäre der russischen Reconquista Tür und Tor geöffnet. 
"Die Kanzlerin" (man sieht förmlich den servilen Kratzfuß) und die anderen deutschen Politiker bedenken in der Tat unentwegt "diesen Aspekt", indem sie gerne moralisieren, aber ungern ein gigantisches Handelsvolumen mit Russland aufs Spiel setzen; auch im übrigen von Krieg und Konflikten letztlich nur Sorgen erwarten, zu Recht.  Von einer russischen Reconquista kann wohl kaum die Rede sein, vielmehr frisst sich die NATO von allen Seiten an Russlands Grenzen.  Und ob nun die Rechte der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ein Vorwand für Russland waren oder nicht, es ist dennoch wahr, dass die ersten Akte der neuen Regierung uneingeschränkt feindselige Signale an diese Bevölkerung aussendeten. Das 'Revolutionsziel', die Oligarchen zu entmachten, dem auch die Ostukraine mit Freuden zustimmen hätte können, wurde durch bloßen Austausch von Oligarchen ebenfalls sogleich verraten. Was Russland tut, dient vermutlich Russlands Interessen; Reconquista sieht anders aus.

Diejenigen Staaten, die 1989 dem sowjetischen Joch entkamen, würden sich unter wachsender Verunsicherung fragen, ob die Beistandsversprechen von Nato und EU auch so viel wert seien wie das Budapester Memorandum von 1994, in dem sich Russland, Großbritannien und Amerika verpflichteten, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Kiew hatte damals im Gegenzug auf die in seinen Grenzen stationierten Atomraketen verzichtet. Putins Griff nach der Krim wird den Staaten mit nuklearen Ambitionen als weiteres Beispiel dafür dienen, dass man sich in Fragen der nationalen Sicherheit nur auf sich selbst und die eigene Atombombe verlassen kann.

Oho, "Joch", schön, dich wieder mal zu lesen!  Seit dem Budapester Memorandum hat sich die NATO weitergefressen und haben NATO-Mitglieder bei mindestens zwei eindeutig völkerrechtswidrigen Kriegen (Kosovo, Irak) mitgemacht.  Gerade der letztere Krieg konnte tatsächlich als Signal verstanden werden, dass nur nukleare Bewaffnung vor Invasion schützt. Nun hat aber Russland im Fall der Krim keine Invasion durchgeführt, sondern einen teilweise legitimen, teilweise illegitimen, von westlichen Mächten beinflussten Sturz der Regierung in Kiev durch einen teilweise legitimen, teilweise illegitimen, von Russland beeinflussten Schritt der Krim beantwortet.  Sich nun zur Verhinderung dieses Schritts die Ukraine nuklear bewaffnet zu wünschen, ist, gegeben das verhältnismäßig geringe Gewaltniveau und die verhältnismäßig große Legitimierung, well, gaga.

Denn sosehr sich der Westen auch solidarisch mit Kiew erklärt: militärisch geht er nicht gegen die Einverleibung der Krim vor. Er hat sie bereits abgeschrieben. Die bisherigen „Sanktionen“ sind Symbolpolitik, mit der die westliche Welt dem Kreml für die Zukunft zeigen will, dass es für sie Werte und Prinzipien gibt, die ihr noch mehr bedeuten als Gas und Profit. Ob Putin das den westlichen Demokratien abnimmt, wird sich schon im Osten der Ukraine weisen.

Ja, natürlich geht niemand militärisch gegen "die Einverleibung der Krim vor"; soweit herrscht eben Vernunft. Das bestreitet wohl auch Kohler nicht, obwohl  er die ganze Zeit sich zu wünschen scheint, es Russland mit Gewalt zu zeigen.  Die unsrigen für ihr tatenloses Gerede zu rügen, scheut er sich aber auch, der kleine Tiger: Werte, Prinzipien!  Da wiederum wird es wieder dünn, denn die Einflussnahme des Westens in der Ukraine hat nun ebenfalls sehr viel mit Interessen, eventuell auch mit Werten zu tun.
Dass Schweigen des Westens zu den inakzeptablen Teilen der Maidan-Bewegung (ja, es gab und gibt dabei Faschisten, eine Minderheit zwar, aber eine gewalttätige) zeigt die Wertevergessenheit der Werte predigenden Bande und gab überhaupt Russland erst die Chance, in seiner Darstellung die Opposition en gros als Faschisten darzustellen. Dass die Triebkraft der Proteste in der Westukraine unter anderem ein großes antirussisches (und zwar rassistisches) Ressentiment ist, kann jeder bestätigen, der dort schon gereist ist: Das ist keine russische Propaganda, und es könnte einem Land, in dem der Nationalsozialismus  über 20 Millionen Menschen getötet hat, durchaus zuzubilligen sein, die Bekämpfung von antirussischem Nationalismus mit Werten zu rechtfertigen.

Den Russen nur Interessen, nie aber Werte zuzutrauen, ist das rassistische Weltbild in seiner Kontinuität vom Nationalsozialismus über den kalten Krieg bis heute. Kohlers Welt ist alt und ranzig, aber in einem Museum sollte sie nicht fehlen.  Könnte Kohler, wie er schreibt, wäre er eine größere Gefahr für den Frieden als Putin. Aber er kann nicht.

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