Gestern wurde also gefeiert, gestern, am 9. November, und gleichzeitig ein bisschen der Reichspogromnacht gedacht. Eine grinsende Moderatorin fragte einen ernsten Historiker kurz nach selbiger, der wurde noch ernster, dann ging die Feier weiter.
Nun ist der Fall einer Mauer ja allemal eine Feier wert. Aber wieso die Selbstbeweihräucherung? Die Bundesrepublik Deutschland ist seit dem Fall der Mauer nicht nur an mehreren Kriegen beteiligt gewesen, sondern pikanterweise auch an der Abschottung der EU-Außengrenze gegen Flüchtlinge. Von denen sind nach Schätzungen von 'pro asyl' seit dem Jahr 2000 über 23000 gestorben, die meisten davon im Mittelmeer. In einigen Fällen haben EU-Grenzschützer die Menschen, die verstarben, mit Gewalt von dem Zaun vertrieben, den sie überklettern wollten (Ceuta), so dass selbige versuchten, durch eine Bucht zu schwimmen und dabei ertranken.
Ach ja, vielleicht sind sie ihnen die Zahlen der Toten an der innerdeutschen Grenze entgangen: Es waren weit unter Tausend. Allein 2014 verstarben mehr Menschen beim Versuch, die Grenze zur EU zu überwinden. Geschossen wurde nicht, man überließ die Arbeit den Fischen und Krebsen. Die Rechtfertigung klingt so: Wir haben die Flüchtlinge nicht dazu aufgefordert, sich aufs Meer zu wagen; üble Schlepper haben sie dazu gebracht. Helle Aufregung dagegen über den Zynismus von noch lebenden Vertretern der DDR, die sagen, niemand habe die an der Mauer Erschossenen dazu gezwungen, zu versuchen, sie illegal zu überqueren. Eine ähnliche Logik, nur dass sie im Fall der gegenwärtigen EU wesentlich mehr Opfer gefordert. Nichts davon wird in der großen Selbstbeweihräucherung des gestrigen Tages erwähnt. Biermann hackt selbstgefällig auf die Linkspartei ein; die nun eben nicht die SED ist. Der Vorwurf an Linke-Politiker, die alt genug sind, in der DDR schon erwachsen gewesen zu sein, besteht in Wahrheit darin, nicht vollends mit dem 'S' der SED gebrochen zu haben, während Biermann Leuten nichts vorwirft, die sich Karriere halber gut mit der DDR arrangiert hatten, wie Merkel, Gauck und Wanka, um in der BRD erneut wunderbar gewendet die Karriere fortzusetzen. Biermann übersiedelte 1953 freiwillig in die DDR und wurde 1976 ausgebürgert. Diese Ausbürgungung - durch engstirnige Behörden - war die schlimmste Repressalie, die er persönlich in der DDR erfuhr, wo er ansonsten studierte, Theater und Musik machte. (Dissidenz wurde üblicherweise dadurch bezahlt, nicht studieren zu können.) Seit er wieder in der BRD wohnt, wuchert er mit dem Kapital seiner DDR-Dissidenz.
Er hat sich inzwischen ex post in ein polares Weltbild eingeschossen, dessen Feind es nicht mehr gibt. In der BRD gibt er sich staatstragend, keine Spur von Dissidenz. Die oben erwähnten Zehntausende ertrunkener Flüchtlinge, für die -- ja, ja! -- auch unsere Regierung die Verantwortung trägt, kein Wort. Lieber sich im Glanze der längst gefallenen Mauer suhlen. Er ein "Drachentöter", die Linkspartei "Drachenbrut". Wahrlich, ein Riesenzwerg. Die Linkspartei stellt immer wieder lehrreiche Anfragen an die Regierung, darunter auch eine Anfrage zur Zahl der toten Flüchtlinge.
Biermann bedauerte, dass die BRD nicht am letzten Irak-Krieg teilnahm, denn dann, so seine These, hätte Saddam Hussein vorher aufgegeben. Oder eben nicht, dann wären wir halt dabei gewesen bei diesem großen Morden, das einen disfunktionalen Staat produziert hat, um dessen Zerfallsprodukte bis auf weiteres Krieg geführt wird, und unzählige Flüchtlinge, von denen manche dann im Mittelmeer enden. Der Krieg ist gewiss der größte Drache, der sich von Menschenblut nährt, und Biermann doch inzwischen eher selbst ein kleiner Drache. Oberst Klein ließ in Afghanistan auf einen Schlag annähernd so viele Leute töten wie an der Berliner Mauer 1961-89 erschossen wurden. Oberst Klein wurde inzwischen befördert. Biermann umarmt Merkel, Biermann umarmt Gauck. Alles ist in bester Ordnung. Wir feiern. Biermann besoffen von so viel Anerkennung, endlich angekommen in der Bejahung.
(Übergibt sich.)
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.
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