Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Mittwoch, 19. März 2014

Parteigeist, Meinung, Wahrheit

Wer schreibt?


Wenn ich mich zu den Geschehnissen in der Ukraine äußere, so habe ich eine Meinung. Dass ich weder der neuen ukrainischen Regierung, noch der alten, noch der EU, noch den USA, noch Russland zur Folgsamkeit verpflichtet bin, garantiert selbstverständlich nicht, dass meine Meinung der Wahrheit entspricht. Und wäre ich Partei, hätte ich deshalb längst noch nicht Unrecht. Es ist aber dennoch wichtig, von einem Sprecher oder Schreiber zu wissen, ob er bloß eine Meinung hat oder selbst Partei ist.

Andreas Umland schreibt seit längerem über die Ukraine. Er selbst ist DAAD-Lektor an der Kiew-Mohyla-Akadamie, die 1992 auf Initiative von US-Bürgen, die aus der Ukraine stammen, gegründet wurde, wobei es zum Programm gehört, dieser neuen Universität den namen einer alten Akademie zu geben, die in sowjetischer Zeit nicht existierte. Diese Universität, die 1994 wieder den Rang einer staatlichen Universität erhielt, und die unter anderem auch von George Soros' Open Society Foundations unterstützt wird, war ein zentraler Ausgangspunkt der orangenen Revolution und ist auch mit den neuerlichen Ereignissen verbunden. Ihr Präsident Serhij Mironowytsch Kwit ist  Bildungsminister im neuen Kabinett. Victor Juschtschenko ist Ehrendoktor der Universität. Heißt das nun, Umland sei Partei? ich weiß nicht. Eingebettet in eine Hochburg der bis-dato-Opposition die Ereignisse zu erleben, verbürgt jedenfalls nicht Neutralität. Anderseits hat er natürlich viel mehr Gelegenheit eigene Beobachtungen zu machen als einer, der nur wenig Zeit in der Ukraine verbracht hat und ansonsten auf die Synopse verschiedener Quellen angewiesen ist.


Indizien für eine merkwürdige Sicht


Einige Zeit nach der orangenen Revolution war ich in der Ukraine und sah die ungeheure Ernüchterung und Enttäuschung derjenigen, die wirklich an eine Revolution geglaubt hatten. Juschtschenko und Timoschenko haben dem ukrainischen Nationalismus gehuldigt, das mag einigen gefallen haben, am Grundübel der Korruption hat sich dadurch nichts geändert, nur wurden vorübergehend die Kleptokraten ausgetauscht. Janukowitsch wurde wiedergewählt, was nur geschehen konnte, weil die neue Regierung sich in kurzer Zeit noch verhasster als die alte gemacht hatte. Geliebt wurde keine. Solche Enttäuschungen beschädigen Demokratien längerfristig, umso erstaunter war ich, dass Umland 2009 (Ukraine-Analysen 65, "Die orangene Revolution als postsowjetischer Scheideweg") die Enttäuschung zwar konstatiert, aber behauptet, diese habe einen Demokratisierungsschub in den Medien und der Zivilgesellschaft bewirkt. Wenn ich an die traurigen Gesichter einiger Bewohner der ukrainischen Kleinstadt Burshtyn 2005 denke, kommt mir der Versuch, deren velorenes Jahrzehnt und missbrauchte Energie durch (zweifelhafte) Strukturanalysen schönzureden, unfair vor. Auch fehlt in der Analyse das anderweitig analysierte Phänomen, dass gerade derartige Enttäuschungen das Erstarken von Protestparteien, auch faschistoiden, fördern.  Umlands Kollegen Bredies und Segert haben übrigens Umlands Einschätzung kritisiert, dessen Erwiderung auf die Kritik finde ich letztlich unverständlich.
[...] Ich bin mit Bredies einverstanden, dass Sozialwissenschaft, zumal Demokratieforschung, immer auch kritische Wissenschaft sein sollte und dass die politische Ordnung der post-orangen Ukraine viel Kritik verdient. Allerdings darf man den geschichtlichen Kontext und die sich hieraus ergebenden besonderen Herausforderungen der ukrainischen Demokratisierung nicht aus den Augen verlieren. [...]
Ich bin mit Bredies einverstanden, dass Sozialwissenschaft, zumal Demokratieforschung, immer auch kritische Wissenschaft sein sollte und dass die politische Ordnung der post-orangen Ukraine viel Kritik verdient. Allerdings darf man den geschichtlichen Kontext und die sich hieraus ergebenden besonderen Herausforderungen der ukrainischen Demokratisierung nicht aus den Augen verlieren.
Herkunft: http://ukraine-nachrichten.de/andreas-umland-ukrainische-protodemokratie-zeitgeschichtlichen-kontext_2144_meinungen-analysen
Besuchen Sie auch unser Forum: http://forum.ukraine-nachrichten.de
Ich bin mit Bredies einverstanden, dass Sozialwissenschaft, zumal Demokratieforschung, immer auch kritische Wissenschaft sein sollte und dass die politische Ordnung der post-orangen Ukraine viel Kritik verdient. Allerdings darf man den geschichtlichen Kontext und die sich hieraus ergebenden besonderen Herausforderungen der ukrainischen Demokratisierung nicht aus den Augen verlieren.
Herkunft: http://ukraine-nachrichten.de/andreas-umland-ukrainische-protodemokratie-zeitgeschichtlichen-kontext_2144_meinungen-analysen
Besuchen Sie auch unser Forum: http://forum.ukraine-nachrichten.de
Anschließend führt Umland die Leiden des Landes unter des Sowjetunion an, die die bürgerlichen, zivilgesellschaftlichen Strukturen weitaus gründlicher zerstört habe als in den erst später dem "Rand es Sowjetimperiums" einverleibten Staaten wie Polen.  Das Bürgertum, das sich zwischen den Kriegen gerne auch hinter die  jeweiligen Faschismen stellte (Polen, Ungarn, Slowakei), als Vorläufer der von den gegenwärtigen Debatten so geliebten Zivilgesellschaft zu sehen, ist mindestens unhistorisch. Auch taugt es nicht zur Rechtfertigung einer positiven Bewertung von etwas, was von der überwiegenden Mehrheit der Ukrainer nur als negativ hat erfahren werden können.


Der Autor als Leserkommentarschreiber



Umland hat sich  sich als Leser an der Kommentierung eines Artikels in der Zeit beteiligt, der das Befremden von Lesern über russlandfreundliche Kommentare aufgreift. Dort hat er solche Leser als 'Trolle' bezeichnet, die immerhin viel weniger schlimm seien als die entsprechenden auf gewissen russischen Seiten. Nun gibt es manche Kommentare, die mag man wirklich nicht lesen; umgekehrt habe ich aber auch viele derart unlesbaren Kommentare für den ukrainischen Umsturz gefunden, nationalisisch so gut wie alle, antirussisch die meisten, antisemitisch einige.

Die Webseiten von Swoboda und Pravi Sektor sind eine "Fundgrube an völkischer Ideologie", wie gestern der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen im Deutschlandfunk festgestellt hat. Ich selbst habe ein wenig auf den Seiten des Prawi Sektor gelesen, bis mir schlecht wurde. Und der Reisende muss in der Westukraine wirklich nicht lange nach Nationalismus und Geschichtsrevisionismus suchen.

(Kleine Bemerkung: Es gibt auch 'russischen Nationalismus' und russische Gruppierungen mit faschistischen Ideen. Wenn 'wir' die Russen unentwegt loben würden, würde ich es als Korrektiv auffassen, auch darüber zu schreiben. Da es sich aber so verhält, dass am ukrainischen Umsturz zunächst nahezu alles schön geredet, am russischen Verhalten nahezu alles dämonisiert wurde, interessiert mich gerade diese Seite der Medaille mehr.)

Diesen Nationalismus zu benennen und abzulehnen ist geradezu eine Voraussetzung dafür, den anständigen Teil der bisherigen ukrainischen Opposition anzuerkennen. Die allermeisten Ukrainer, im Westen wie im Osten der Ukraine, wollen vermutlich eine funktionierende Wirtschaft in einem Staat, dessen Repräsentanten sich nicht bereichern. Das aber steht mit der neuen Regierung so wenig zu erwarten wie mit der alten.  Vielleicht wird die neue Regierung eine größere Annhäherung an die EU erreichen; was das dem durchschnittlichen Ukrainer bringt, bleibt abzuwarten.

Wer Russland kritisiert und Swoboda nicht, wer ist das?


Dieser Blog stößt sich an zweierlei Maß, Einseitigkeit. Umland ist einer von vielen, die in den Medien zur Ukraine gehört werden. Über die Rolle von Rechtsextremen/Faschisten bei den jüngsten Ereignissen gehen sie nonchalant hinweg: alles nur russische Propaganda. Nun ist aber die Präsenz der Gruppen auf dem Majdan ebenso belegt wie die Teilnahme von Swoboda an der Regierung. Die raschen Gesetzesänderung, nachdem der demokratisch gewählte Präsident geflohen war, werden allgemein als voll demokratisch legimiert dargestellt, die Abstimmung auf der Krim dagegen als bloße Machinationen Moskaus, usw.  (Darin ist etwa Ralf Fücks, der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, deutlich einseitiger noch als Umland.) Alle diese Leute haben auch die orangene Revolution bejubelt und eine Analyse von deren Ergebnissen schlicht verweigert. Der Geschichtsrevisionismus (Ehrung Banderas und der UPA) war auch Programm der Regierung Juschtschenko/Timoschenko. Einiges davon hat Janukowitsch völlig zurecht zurückgenommen, wie auch sein Sprachengesetz den Minderheitensprachen den Status als Verwaltungssprache gab,  den die europäische Konvention zu Minderheitensprachen verlangt (auch wenn das Gesetz noch hinter dieser zurückblieb.) Dass im Rahmen des Umsturzes das Parlament dieses Sprachengesetz aufgehoben hat,  wird von Umland, Fücks et al. mit dem Argument beiseite gefegt, dass der Übergangspräsident sich geweigert hat, diese Aufhebung zu unterzeichnen. Die 'Rada' hat es aber nun einmal beschlossen. Welches Signal gab dieses Verhalten der russischsprachigen Bevölkerung? Es ist sehr zu bezweifeln, dass starke russische Einflussnahme überhaupt nötig war für die Entwicklung auf der Krim. Fücks, Umland, unsere Regierungen wären glaubwürdiger, wenn sie sich deutlicher von solchen Kräften distanzieren würden.

Und inmitten von soviel Einmischung und Einseitigkeit könnte man vielleicht mit weniger spitzen Fingern auf Russland zeigen.

Aber vielleicht kommt trotzdem was Gutes raus?

 Ja, das wäre schön.  Lauter neue Leute, die was neues versuchen. Aber huch, gar nicht so wenige der Gesichter im Übergangskabinett haben auch unter Janukowitsch gedient.  Die einzigen wirklich neuen Gesichter sind eben die der Rechtsextremen, und was wäre von denen zu hoffen?

Ja, aber jetzt gibt es doch noch neue Kräfte der Zivilgesellschaft, nicht wahr?

Es gibt im Kabinett diverse Parteilose mit anderem Hintergrund; wer weiß, vielleicht stehen sie ja für einen anderen Regierungsstil. Der bereits erwähnten Universitätspräsident und Minister Serhij Kwit hat 2012 eine Ausstellung des zur Kiew-Mohyla-Akademie gehörigen Zentrums für audiovisuelle Kultur besucht und diese anschließend schließen lassen.  Eine Petition des Zentrums für audiovisuelle Kultur formulierte das so:

Am 10. Februar 2012 hat der Präsident der Kiew-Mohyla-Akademie (NaUKMA) Serhij Kwit, die in der Akademie stattfindene Ausstellung „Ukrainischer Körper“ geschlossen, die von dem dort ansässigen Zentrum für visuelle Kultur organisiert wurde. Die Ausstellung setzte sich mit der Problematik der Körperlichkeit in der ukrainischen Gesellschaft auseinander. Die Schließung der Ausstellung wurde von Serhij Kwit auf folgende Weise erklärt: „Das ist keine Ausstellung. Das ist Scheiße“. Nach diesem Akt der Zensur, der sowohl in den ukrainischen als auch in den internationalen Medien eine breite Diskussion auslöste, initiierte Serhij Kwit eine Reihe von bürokratischen Sanktionen gegen die Organisatoren - das Zentrum für visuelle Kultur. Am 23. Februar verabschiedete
schließlich der Wissenschaftsrat der Universität unter der Leitung von Serhij Kwit den Beschluss, die Arbeit des Zentrums einstellen zu lassen. Am 12. März wurden alle Veranstaltungen in den Räumen des alten, akademischen Gebäudes, in dem das Zentrum seit 2008 aktiv arbeitete, vom Präsidenten der NaUKMA mit der Erklärung
verboten, die Räume seien in einem „gefährlichen Zustand“. Trotz dieser „Gefahr“ ist geplant, in dem Gebäude ein Bibliotheksarchiv einzurichten.

Zuerst wurde also die Ausstellung „Ukrainischer Körper“ geschlossen, dann das Zentrum selbst und schließlich das ganze Gebäude, in dem das Zentrum für visuelle Kultur seine Veranstaltungen durchführt. Solche Handlungen halten wir für eine unzulässige Zensur, die eine kritische Analyse wichtiger sozialer und politischer Probleme gezielt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Die jetzigen Sanktionen der Universitätsverwaltung blockieren gegenwärtige und zukünftige Veranstaltungen des Zentrums für visuelle Kultur.

Das klingt nach einem x-beliebigen Spießer mit autokratischem Stil. Zumindest klingt so etwas nicht nach Neuanfang.

Und dennoch kann man natürlich hoffen, denn es gibt ja sicher viele vernünftige Leute ohne politisches Amt. Ich habe ukrainische Publizisten gefunden, die den ukrainischen Nationalismus analysieren, ohne ihn zu beschönigen, die aber auch in der russischen Politik der letzten zehn Jahre faschistoide Tendenzen sehen. Leider ist mein Ukrainisch zu schlecht, um mir das alles durchlesen zu können, aber es ist doch Anlass zu hoffen, dass irgendwann auch Leute, die nicht bloß Partei sind, etwas zu sagen haben werden.

Donnerstag, 13. März 2014

Kohlers Welt

Berthold Kohler ist eingemauert in ein polares Weltbild, eine Fortsetzung des kalten Krieges. Er hat sich heute in der FAZ geäußert, so gestanzt, einseitig und eigentlich merkwürdig, dass dieser Blogeintrag sich als eine Art Museum von etwas versteht, das für ausgestorben zu halten angenehm wäre:

Wenn Putin interessierte, was im Westen über ihn gedacht und gesagt wird, dann hätte es sich für ihn gelohnt, der Bundestagsdebatte über die Krim-Krise zuzuhören. Das deutsche Parlament ist bekanntlich alles andere als eine Versammlung von außenpolitischen Scharfmachern. Wenn dort ein anderer Staat gescholten werden soll, dann wendet sich inzwischen nicht mehr nur die Linkspartei lieber Amerika als Russland zu.
Wer deutschen Debatten der letzten Jahre folgt, kann wohl kaum den Eindruck gewonnen haben, dass es lieber gegen Amerika als gegen Russland geht. Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall, und das obwohl die die BRD in den letzten Jahren besondere Hühnchen mit seinen Verbündeten zu rupfen hatte.  Kohlers Behauptung, die sich durch eine leichte Zählung widerlegen ließe, soll implizieren, dass eine seltene Kritik an Russland deshalb auch Hand und Fuß haben müsse.

Doch auch die Linken kamen nach dem üblichen Abarbeiten an Washington und Nato nicht umhin, das Vorgehen des Kremls auf der Krim zu verurteilen. Putins Lügen, Scheinbegründungen und Täuschungsmanöver ziehen selbst bei ihnen nicht mehr. Freilich ist die Linkspartei auch die Kraft, der es am wenigsten darauf ankommt, dass für die deutsche Wirtschaft weiter der Rubel rollt.
Insofern sich Russland in innere Angelegenheiten der Ukraine einmischt, sind völkerrechtliche Prinzipien verletzt, die auch linke Politiker (und im Hinblick auf Irak, Kosovo eigentlich nur diese) einfordern.  Insbesondere wird durch völkerrechtliche Abstraktion auch die vorherige Einmischung Europas und der USA in den ukrainischen Umsturz ebenso fraglich, worauf linke Politiker hingewiesen haben. Schließlich ist die letzte Aussage des Absatzes sehr hübsch und erinnert an den seligen FJS.  "Wo ich schon einmal dabei bin", kann ich, obwohl es thematisch hier nicht hingehört, noch einmal darauf hinweisen, dass die Linken der deutschen Wirtschaft schaden wollen.  Nun redet die Linkspartei aber davon, dass der Rubel, wenn er denn rollt, auch für die Ärmeren rollen sollte.  Wenn es nun so wäre, dass mehr Gerechtigkeit automatisch weniger Wettbewerbsfähigkeit bedeutete, so wäre die vorbehaltlose Bejahung letzterer durch Kohler doch wohl problematisch; ist es aber nicht so, so ist die Aussage Kohlers falsch. Auch ist bei den so genannten 'Reformern' in der Linkspartei, die spätestens bei einer Koalition mit der SPD auch zu Verrätern würden, sowieso die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Wege zur heiligen Kuh.

Die Kanzlerin dagegen muss auch diesen Aspekt bedenken. Dennoch hält sie mit allem Recht an ihrer Linie fest, dass der Westen nicht tatenlos zusehen kann, wie Moskau sich über die Regeln des Völkerrechts und die lange Zeit auch von Russland respektierten Prinzipien der politischen Ordnung in Europa hinwegsetzt. Ginge der Westen nach einer solchen massiven Grenzüberschreitung mit abnehmendem Murren zum Tagesgeschäft über, wäre der russischen Reconquista Tür und Tor geöffnet. 
"Die Kanzlerin" (man sieht förmlich den servilen Kratzfuß) und die anderen deutschen Politiker bedenken in der Tat unentwegt "diesen Aspekt", indem sie gerne moralisieren, aber ungern ein gigantisches Handelsvolumen mit Russland aufs Spiel setzen; auch im übrigen von Krieg und Konflikten letztlich nur Sorgen erwarten, zu Recht.  Von einer russischen Reconquista kann wohl kaum die Rede sein, vielmehr frisst sich die NATO von allen Seiten an Russlands Grenzen.  Und ob nun die Rechte der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ein Vorwand für Russland waren oder nicht, es ist dennoch wahr, dass die ersten Akte der neuen Regierung uneingeschränkt feindselige Signale an diese Bevölkerung aussendeten. Das 'Revolutionsziel', die Oligarchen zu entmachten, dem auch die Ostukraine mit Freuden zustimmen hätte können, wurde durch bloßen Austausch von Oligarchen ebenfalls sogleich verraten. Was Russland tut, dient vermutlich Russlands Interessen; Reconquista sieht anders aus.

Diejenigen Staaten, die 1989 dem sowjetischen Joch entkamen, würden sich unter wachsender Verunsicherung fragen, ob die Beistandsversprechen von Nato und EU auch so viel wert seien wie das Budapester Memorandum von 1994, in dem sich Russland, Großbritannien und Amerika verpflichteten, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Kiew hatte damals im Gegenzug auf die in seinen Grenzen stationierten Atomraketen verzichtet. Putins Griff nach der Krim wird den Staaten mit nuklearen Ambitionen als weiteres Beispiel dafür dienen, dass man sich in Fragen der nationalen Sicherheit nur auf sich selbst und die eigene Atombombe verlassen kann.

Oho, "Joch", schön, dich wieder mal zu lesen!  Seit dem Budapester Memorandum hat sich die NATO weitergefressen und haben NATO-Mitglieder bei mindestens zwei eindeutig völkerrechtswidrigen Kriegen (Kosovo, Irak) mitgemacht.  Gerade der letztere Krieg konnte tatsächlich als Signal verstanden werden, dass nur nukleare Bewaffnung vor Invasion schützt. Nun hat aber Russland im Fall der Krim keine Invasion durchgeführt, sondern einen teilweise legitimen, teilweise illegitimen, von westlichen Mächten beinflussten Sturz der Regierung in Kiev durch einen teilweise legitimen, teilweise illegitimen, von Russland beeinflussten Schritt der Krim beantwortet.  Sich nun zur Verhinderung dieses Schritts die Ukraine nuklear bewaffnet zu wünschen, ist, gegeben das verhältnismäßig geringe Gewaltniveau und die verhältnismäßig große Legitimierung, well, gaga.

Denn sosehr sich der Westen auch solidarisch mit Kiew erklärt: militärisch geht er nicht gegen die Einverleibung der Krim vor. Er hat sie bereits abgeschrieben. Die bisherigen „Sanktionen“ sind Symbolpolitik, mit der die westliche Welt dem Kreml für die Zukunft zeigen will, dass es für sie Werte und Prinzipien gibt, die ihr noch mehr bedeuten als Gas und Profit. Ob Putin das den westlichen Demokratien abnimmt, wird sich schon im Osten der Ukraine weisen.

Ja, natürlich geht niemand militärisch gegen "die Einverleibung der Krim vor"; soweit herrscht eben Vernunft. Das bestreitet wohl auch Kohler nicht, obwohl  er die ganze Zeit sich zu wünschen scheint, es Russland mit Gewalt zu zeigen.  Die unsrigen für ihr tatenloses Gerede zu rügen, scheut er sich aber auch, der kleine Tiger: Werte, Prinzipien!  Da wiederum wird es wieder dünn, denn die Einflussnahme des Westens in der Ukraine hat nun ebenfalls sehr viel mit Interessen, eventuell auch mit Werten zu tun.
Dass Schweigen des Westens zu den inakzeptablen Teilen der Maidan-Bewegung (ja, es gab und gibt dabei Faschisten, eine Minderheit zwar, aber eine gewalttätige) zeigt die Wertevergessenheit der Werte predigenden Bande und gab überhaupt Russland erst die Chance, in seiner Darstellung die Opposition en gros als Faschisten darzustellen. Dass die Triebkraft der Proteste in der Westukraine unter anderem ein großes antirussisches (und zwar rassistisches) Ressentiment ist, kann jeder bestätigen, der dort schon gereist ist: Das ist keine russische Propaganda, und es könnte einem Land, in dem der Nationalsozialismus  über 20 Millionen Menschen getötet hat, durchaus zuzubilligen sein, die Bekämpfung von antirussischem Nationalismus mit Werten zu rechtfertigen.

Den Russen nur Interessen, nie aber Werte zuzutrauen, ist das rassistische Weltbild in seiner Kontinuität vom Nationalsozialismus über den kalten Krieg bis heute. Kohlers Welt ist alt und ranzig, aber in einem Museum sollte sie nicht fehlen.  Könnte Kohler, wie er schreibt, wäre er eine größere Gefahr für den Frieden als Putin. Aber er kann nicht.