Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Samstag, 3. Juli 2010

Über Zimmermädchen und Knopflöcher; grüne und schwarze Stereotypenverbreiter, dummes Deutsch, ausgestorbene Fische, Schwitzen, Kratzen, stinkendes Geld, Partizipien und Arroganz

Der neue Trend der Bio-Küche im Traum:

PASTINAKEN UND RAUPEN.


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In Hamburg wurde bei einer Schlägerei ein Polizist schwer verletzt. Die Polizei sprach zunächst von einer 'Falle', die den Polizisten gestellt worden sei. Auf inzwischen aufgetauchten Videoaufnahmen sieht man einen Polizisten, der einen am Boden Liegenden schlägt; danach wohl erst scheint die Schlägerei ausgebrochen zu sein, was der Darstellung einer 'Falle' widerspricht. (Erinnert auch an die Demonstration vor einigen Wochen in Berlin, bei der die Polizei von einer Splitterbombe sprach, bis klar wurde, dass es sich um einen gewöhnlichen Feuerwerkskörper, vulgo Kracher, handelte. Den Kracher heiße ich keineswegs gut, ebensowenig aber eine Polizei, die sich offenbar bemüht, die andere Seite möglichst stark zu kriminalisieren.)

Wie auch immer, Joachim Lenders (CDU) nannte die festgenommenen Bewohner des Stadtteils Neuwiedenthal "Abschaum", bzw. "Unterschicht". Der grüne Justizsenator Steffen weist dagegen auf das Problem des "Machismo" oder eines falschen "Männlichkeitsverständnisses" hin, das nach kriminologischen Studien besonders bei Muslimen ein Problem sei, die allerdings anderseits seit 9/11 auch eine deutliche Diskriminierung von Seiten der deutschen Bevölkerung "empfänden". Die Studien von Pfeiffer, Wetzel et al., die er wohl gemeint hat, verwenden in der Tat den Faktor "Männlichkeitsvorstellungen", um den Unterschied in der Gewaltkriminalität, der nach der Berücksichtigung ökonomischer und sozialer Faktoren noch zwischen Gruppen verschiedenere Herkunft besteht, zu erklären. Steffens Äußerungen legen allerdings andere Schlüsse nahe als die vollständigen Studien. Darin wird nämlich der größere Teil der Unterschiede ökonomisch und sozial erklärt, dann erst kommt der Faktor "überzogene Männlichkeitsvorstellungen" zum Tragen, der bei Türken und Russlanddeutschen besonders hoch ist, dann kommen andere Gruppen. 'Vor allem Muslime' ist also wieder eine kaum zu rechtfertigende Lesart der Studien, weil zu
wenig spezifisch. Es hätte übrigens nichts geschadet, zu sagen, dass die Muslime Diskriminierung "erfahren", nicht bloß "empfinden".

NACHTRAG UND KORREKTUR: Eine ganz neue Studie von Pfeiffer et al. (KFN), die mir noch nicht bekannt war, untersucht in der Tat auch explizit den Einfluss der Religion auf die Deliquenz, neben anderen Faktoren. Die Studie ist über 300 Seiten lang, und ich habe soeben nur einen Abschnitt überflogen. Auch diese neue Studie ist sehr sorgfältig und ist sich in hohem Maß der Schwierigkeiten bei der Interpretation statistischer Korrelationen bewusst, wie ich nach erstem Überfliegen sagen kann. Sie stellt gewisse Zusammenhänge zwischen Religion, dem Grad ihrer Ausübung und gewissen Formen von Kriminalität fest. Es steht aber auch in dieser Studie nicht das, was Steffen gesagt hat, sondern z. B. findet sich:

"Für islamische Jugendliche zeigt sich im Ausgangsmodell ein zu den christlichen und 'anderen' Jugendlichen entgegengesetzter Effekt: Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an. Da dieser Zusammenhang aber als nicht signifikant [Hervorhebung von mir] ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang (und damit auch nicht von einem Gewalt reduzierenden Zusammenhang) zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen. "

Anschließend wird ein Zusammenhang zwischen "Islam" und "Männlichkeitsvorstellungen" untersucht, der zu einem gewissen Maße zu bestehen scheint. Was oben über soziale und wirtschaftliche Faktoren gesagt wurde, gilt übrigens. Der Faktor "Hauptschule" etwa hat ein besonders hohes Gewicht im Modell. Und alle diese Abhängigkeiten sagen nichts über Kausalität aus, sondern sind der Ausgangspunkt weiterer Fragen und Untersuchungen. (Entdecken Jugendliche mit Problemen den Islam für sich oder generiert der Islam oder die Form seiner Ausübung Probleme?... Wer die Antwort vorwegnehmen zu können glaubt, ist ein Scharfmacher.) Die Studie geht vorbildlich mit ihren Resultaten um, sie stellt Fragen. Eine aus dem Zusammenhang gerissene Verkürzung erweist allen Beteiligten einen Bärendienst.

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Jetzt schreiben's also alle: "die Gauchos". Gemeint sind die argentinischen Fußballer (kein einziger Gaucho darunter). Irgendwer wählte das Wort, weil es so nahe liegt oder weil
es ihm trotzdem originell schien, andere übernahmen es, möglicherweise ironisch.

Die Gauchos

Was sind denn die Deutschen?

Würste
Kartoffeln
Panzer
Lederhosen
Nazis
Polizisten
Dichter
Denker
Bürokraten

Und richtig war ja beispielsweise gelegentlich schon von den 'Panzern' zu lesen ('I panzer arrivano').

Vielleicht sollte man die Argentinier Argentinier nennen und auf Gnade bei der Bennenung der Deutschen bauen?

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Im Radio gehört "Langzeitarbeitslose in Brandenburg sollen künftig schneller zurück in den Arbeitsmarkt gelangen"

sollen

gelangen

In Brandenburg gibt es eben, wie soll ich es ihnen erklären, wenig anderes als Seen, Kranichbrutplätze, die letzten Refugien der Großtrappe, viel Platz für
Truppenübungsplätze, aber außer der Verwaltung in Potsdam recht wenig "Arbeitsmarkt", in den irgendwer zurückkehren könnte. (Der Unterschied zwischen Sollen und Sein.)

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Vor der Bundespräsidenten-Wahl:

Westerwelle sagte, Wulff wisse, "welche geistige Achse dieses Land braucht."

GEISTIGE ACHSE. (Hitler-Mussolini, bloß geistig?)

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Und sie sagt: "Mich juckts!"

Eine Dame wird's doch nicht jucken, denke ich. Aber natürlich juckt's Damen, Herren, Greise, Kinder, Arbeiter, Professoren und die Herzogin von Alba.

Allein eine Dame kratzt sich nicht in der Öffentlichkeit. Eine Ergänzung zum sichtbaren Sittenbild der feinen Gesellschaft wäre das unsichtbare Jucken, das ohne Regung auszuhalten von dieser für eine besondere Tugend angesehen wird.

Die Erziehung steckt tief, eklig und unfein schiene es mir, mich in der Öffentlichkeit zu kratzen. Geschehen ist es mir allerdings in unbewachten Momenten.

Interessant ist, was alles nicht als unfein gilt:
Pauschalisierend über Minderheiten herfallen, die es ohnehin täglich abkriegen (Sarrazin; Lenders, s. o.) geht beispielsweise als "Schneid" durch.

In Warhheit ist ein Sarrazin in sittlicher Hinsichtwie einer, der sich am Sack kratzt und anschließend, nachdem er an den Fingernägeln gerochen hat, in die Hand schneuzt. So.

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Die Langkiefer-Maräne (Coregonus alpenae) wurde zum letzten Mal 1975 gefangen.

So starb "ein beliebter Speisefisch" aus.


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Die Geschichtsbücher sind voll von Kriegen, die um Macht oder Bodenschätze geführt wurden, auch wenn kaum einer jemals ohne idealistische Glasur
ausgekommen ist. Verteidigung, Präventivschlag, Reaktion auf Provokation, "Wir treten für die Rechte der schwäbischen Minderheit in Tadschikistan ein."

Von den Gründen aber, die "wir" heute angeben, soll sich jeder die Augen zukleistern lassen. Menschenrechte also, oder Frauenrechte. Die Taliban-Regierung, mit der der von "uns" angefachte afghanische Bürgerkrieg nach zig Jahren endete, war nicht nach unserem Geschmack. Die regieren sich nicht so, wie wir das täten, allerhand! Es gehört ja zum Schwersten, einzusehen, dass andere Leute anders sein dürfen. Nein, das ist kein Kulturrelativismus, sondern ein Friedensgebot.

Selbstverständlich können wir jeden Tag sagen und schreiben, dass uns die Gesetze bezüglich des Aufschlagens der Eier widerwärtig und rückständig vorkommen. Aber Krieg?

Der ganze Hochmut und Irrsinn der neuen "humanitären" Kriege lässt sich ja auch daran sehen, dass die von uns Beschützten selten jubeln. Aber der klebrigste aller Kleister ist unser Moralpopanz: Die anderen sind die Nazis. Haben zwar weder KZs, noch die größte Armee der Welt, noch grob rassistische Gesetze, aber wir verstehen die Kunst der Nazignosie: Da ist der Nazi und wir sind die Guten. Ob das in den Geschichtsbüchern mal einen Namen bekommt?

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"Ich bin ein Tölpel, aber einer mit Geld."

Die idealistische Glasur der Verhältnisse sieht stets vor, dass die Herrschaft zwar durch Geld und Gewalt ausgeübt wird, aber von Leuten, die sich druch irgendwelche Tugenden empfehlen. Sie seien die ersten im idealistischen Wertesystem, das daher nicht im Widerspruch zur realen Herrschaft des Geldes stehe.

Die Glasur ist dünn: Nicht wenige reiche Tölpel, Deppen und Schufte herrschen.

Wären Sie lieber ein Tölpel, Schuft und Depp mit Geld, oder eine guter, kluger und anmutiger Mensch ohne?

Die Antwort, die man idealiter gibt, hat wenig Einfluss darauf, ob man realiter anders lebt.

Ein Tölpel, ohne davon zu wissen, unbewusster Schuft, damit subjektiv gut und schön, dazu noch Geld, wie wär's? Stört es eigentlich, so oder so zu sein, oder stört nur ein unschönes Bild von sich selbst? Letzteres lässt sich richten, zumindest wenn man unter seinesgleichen lebt.

Ob allerdings aller Schein wie für Iwan Iljitsch in der Stunde des Todes zerfallen mag, oder ob man friedlich hinwegdämmert, und ob diese letzte Stunde überhaupt von Belang ist, darüber habe ich wechselnde und unklare Meinungen.



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Lea Rosh verlangte unter den Tomaten eines türkischen Gemüsehändlers "die gut Schmeckenden" und mockierte sich anschließend, dass der sich nicht verstand.

Lea Rosh testet Partizipien an Ausländern, sieh an! Leider klingt Roshs Formulierung präziös und falsch. Von der braucht gewiss kein Türke Deutsch zu lernen.

An das letzte Mal, dass ich von einem Berliner ein Partizip Präsens Aktiv gehört habe, kann ich mich nicht erinnern.

Dabei mag ich Partizipien, wo sie hingehören, sehr, im Reich der Gelehrsamkeit nämlich. Das aber ist jemandem, der diesen Unterschied nicht sieht, vermutlich auch verschlossen. (Kleines Detail: In Berlin ist das Schulfach Latein wohl deshalb im Aufschwung, weil es unter den türkischen Schülern beliebt ist. Die Kenntnis des agglutinierenden Türkischen und des  flektierenden Deutschen macht sie wohl besonders empfänglich für des Lateinischen Reize. Und demnächst probiert so ein türkisches Gemüsehändlerskind ein Partizip Futur Aktiv - eines der schönsten - an der Rosh aus.)


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"Weil unser System Korrekturmechanismen kennt, bedarf es keiner grundsätzlichen Korrektur."

Auf diesen zentralen Unsinn kann man die Selbstgefälligkeit unserer Demokratie zurückführen. Welche Demokratien es noch geben kann, hat sie sich zu fragen aufgehört. Das selbstgefällige Abnicken unseres Systems als des Bestmöglichen ist üblich; wer sich ihm nicht anschließt ist ein Spinner oder ein 'Feind der Freiheit.'


Eine so gründliche Erstarrung hat kaum Vorläufer. Vielleicht war zuletzt die römische Kaiserzeit so bombenfest davon überzeugt, vollkommen zu sein. (Unter Domitian dann schon nicht mehr.) - Eine katastrophale Regierung wird in einer Demokratie erkannt, aber dann heißt es: Das ist ja eben die Vollkommenheit unseres Systems, diese katastrophale Regierung abwählen zu können! Popper und so! - Die immer wieder gewählten katastrophalen Regierungen sprechen nicht gegen das System, während wir Domitians Regierung durchaus als Argument gegen erbliches Kaisertum gelten ließen.

"Weil unser System Korrekturmechanismen kennt, bedarf es keiner grundsätzlichen Korrektur", tja.

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Geld stinkt nicht,
ach wenn's doch, je nach Herkunft,
stänke, röche, müffelte!

Keiner würde Geld aus Waffenhandel nehmen,
nicht abzuwaschen der Geruch, auch nicht
von den Fingern, die es hielten.

Aber es stinkt ja nicht. Geruchlos, stumm und unsichtbar fließt es hin und her. Wenn der Vatikan etwa zufällig Anteile von Heckler und Koch besäße, würde sich niemand mehr wundern. Unschuldig wäre das schuldig verdiente. Sieh, wie gut das christliche Waisenhaus den Waisen ist, deren Väter und Mütter von den Schnellfeuergewehren von Heckler und Koch zerrissen wurden!
Welch wunderbare Kreisläufe. Wie doch der Unrat Blüten treibt, die sogar duften, oh heiliger Markt!

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Frage: Wann hat sich die Fachvokabel "Alleinstellungsmerkmal" in der Politik verbreitet?

(Und warum sagt man das? Leicht aufgeblasener Hinweis darauf, was studiert zu haben?)


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Es ist sehr heiß, immerhin geht ein bisschen Wind.


Es ist, wie gesagt, heiß. Heiß war es auch bei einem Interview mit Martin Mosebach,
währenddessen dieser die Anzugsjacke anbehielt. Respekt! Der mit einer erstarrten äußerlichen Auffassung begabte Interviewer nahm ihm die Jacke als Zeichen von Bürgertum bewundernd ab.

Als wär's lobenswert, die Jacke nicht auszuziehen, wenn man schwitzt, denke ich schwitzend. Die Abhandlung "Das Schwitzen als bürgerliche Tugend par excellence" muss noch geschrieben
werden.

Das Bürgertum der "bürgerlichen Epoche" gibt's nicht mehr (im Guten wie im Schlechten). Wer trotzdem auf Bürger macht, muss als Parvenu erscheinen und ist mitunter einer.

Freitag, 2. Juli 2010

Bürger Seibt für Bürger Gauck

Gustav Seibt schreibt häufig Kommentare, die im guten Sinn als bürgerlich zu bezeichnen wären, wenn denn Distanz, Humanismus und gute Manieren bürgerliche Tugenden sind. Die Kehrseite des Bürgerlichen, ein beschränkter und ressentimenthaltiger Klassenstandpunkt, kommt leider auch zuweilen vor:

Zum Verhalten der Links-Partei bei der Wahl des Bundespräsidenten schreibt er (in der SZ vom 1. 7. 2010)

Das parteipolitische Kalkül, das hinter der Nominierung von Joachim Gauck fürs Amt des Bundespräsidenten natürlich stand, ist in glänzender Weise aufgegangen, und zwar in beide Richtungen: Die Einheit im Regierungslager wurde durch das brillante Manöver von Grünen und Sozialdemokraten nachdrücklich in Gefahr gebracht; und die Linkspartei wurde für die Augen jedenfalls der urbaneren Teile der gesamtdeutschen Gesellschaft ihrer konzeptionellen Nichtigkeit überführt.

sowie

Diesen Eindruck hat Gregor Gysi durch seinen denkwürdigen Auftritt am Mittwoch vor dem dritten Wahlgang im Reichstag befestigt, als er den grünen Abgeordneten Werner Schulz, einen DDR-Bürgerrechtler, der sich einen kritischen Einwurf zur Enthaltung der Linken erlaubt hatte, vor laufenden Kameras auf eine so autoritär höhnende Weise abfertigte, dass die ohnehin locker sitzende Maske demagogisch plappernder Bonhomie minutenlang abfiel.


Wenn Sie sich aber eine Videoaufname der Pressekonferenz ansehen, werden Sie einen recht höhnischen Herrn Schulz und einen eher ironischen Herrn Gysi hören. Außerdem scheint sich der bürgerliche Kompass Seibts dahingehend umgepolt zu haben, dass es auf einmal recht und fein und höflich ist, jemandem ins Wort zu fallen, dagegen ein Affront, darauf hinzuweisen, dass in einer Pressekonferenz nun einmal der rede, der sie gebe, und nicht ein anderer. Und zwar ein Politiker einer anderen Partei, der recht offenbar Punkte machen will.

Kurzum, hier hat leider ein Ressentiment die ansonsten ganz verlässliche Urteilskraft getrübt. Schwamm drüber, aber 's ist schon ein ziemlicher Stuss, was Sie da geschrieben haben. Sehen wir aber weiter, was denn nun an Gauck einerseits und Grünen, die die Linke abwatschen, andererseits, so gut ist.

So lässt sich Gauck in vielen Zügen ebenso gut als linker Bürger beschreiben wie als Konservativer. Die Impulse, die seiner Popularität so zugutekommen, sind heute sogar am ehesten bei den Grünen zu finden, die längst zu einer bürgerlichen Partei geworden sind und - nicht zuletzt in Südwestdeutschland - das Erbe des lokalen, in Vereinen und für konkrete Anliegen engagierten klassischen Honoratiorenliberalismus angetreten haben.

Dieser links-konservativ-bürgerliche Grünenliberalismus ist stark bildungsbürgerlich geprägt, und er passt auch zu jenen Schichten, die in gentrifizierten Stadtquartieren wie dem Prenzlauer Berg in Berlin oder Haidhausen in München modernisierte Familienwerte wiederentdecken, dort die Kirchen mit jungen Leuten füllen und auf nichts so kritisch blicken wie die Schulpolitik in ihrem jeweiligen Bundesland.

Kurzum, Seibt wünscht sich schwarz-grün, und nimmt's mit der Vokabel links nicht so genau. Man kann natürlich in gewissem Sinn konservativ und links sein. Das ist Gauck, obwohl er sich selbst vor der Wahl so bezeichnet hat, gerade nicht. Er betonte nämlich immer wieder, ihm ginge es um Freiheit und Demokratie, wobei er sich teils mehr, teils weniger von Sozialpolitik distanzierte. Er sprach über Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern (s. etwa hier), als ob es da nur oder vor allem verbogene Mentalität und nicht eine tatsächliche ökonomische und soziale Misere gäbe. Die Rede zeugt von Ignoranz und einem gewissen Zynismus eines Wendegewinners gegenüber Millionen, die ihre Arbeit verloren haben, und gegenüber zahllosen Familien, die sich anschließend in die Arbeitsmarkt-Diaspora zerstreuten. (Gehn' Se mal nach Glauchau und erforschen sie die Stimmung. Dort träumen die Leute nicht von Dikatur, sondern davon, dass es Arbeit gibt und junge Leute. Welcher Hochmut, den Leuten eine Predigt (Pfaffe!) über Freiheit und Demokratie zu halten, als wüssten sie es nicht zu würdigen,
und dabei zu unterschlagen, dass die Bundesrepublik mit durchaus vermeidbaren wirtschaftlichen Entscheidungen an vielen Bewohnern der neuen Bundesländer ein Unrecht begangen hat.)

Fazit: Dass SPD und Grüne sich aus (von Seibt bewundertem) Kalkül für einen so gut wie gar nicht linken Kandidaten entschieden, der den Linken mit Gründen ebensowenig wählbar schien wie Wulff, wird nun den Linken zum Vorwurf gemacht. Hätten die anderen nicht auch Luc Joachimsen wählen können? Mir scheint durchaus, dass die Nachwelt finden wird können, sie habe weniger Stuss geredet als Gauck oder Wulff. Und wenn nun der Kandidat Gauck durchgekommen wäre, dann wäre das ein 'politischer Sieg' von rot-rot-grün ohne jeden Inhalt gewesen. Es geht aber (bei Punktemachern a la Schulz) längst nur noch ums Siegen. Wenn die SPD den Spitzensteuersatz senkt und die Solidarität mit den Arbeitslosen wie keine CDU-Regierung beschädigt, haben sich die 'Linken' zu freuen, denn die Schlipse sind schließlich rot.