Ein Nachtrag (14. August) vorweg: Einerseits spielt es für die Einschätzung eines Krieges eine Rolle, wer angefangen hat. Andererseits muss eine Seite nur lange genug schießen, um sich so ins Unrecht zu setzen, dass es eben doch keine Rolle mehr spielt, wer angefangen hat. Was unten abgehandelt wird, ist eine Einseitigkeit der westlichen Medien in der Anwendung des ersten Satzes.
Es geht nicht um eine Rechtfertigung Russlands (die im Licht des zweiten Satzes vielleicht schlecht möglich ist) sondern um eine unreflektierte Haltung, die apriori schon den Bösen und den Guten kennt.
Im Kosovo und anderswo sollte der faktische Friede respektiert werden, wie auch immer der völkerrechtliche Status sein mag. Serbien würde, wenn es sich den Kosovo militärisch wieder einverleiben wollte, mit Recht zum "Bösewicht" erklärt. Das sollte billigerweise nun von Georgien gelten, denn Georgien hat den unfreundlichen Frieden durch einen blutigen Militärschlag gebrochen. Und ähnlich wie die NATO als Schutzmacht für ein überfallenes Kosovo auftreten würden, betätigt sich Russland als Schutzmacht für Süd-Ossetien. Georgiens Präsident wollte von Anfang an die "territoriale Integrität Georgiens" wiederherstellen, d.h. Krieg führen. Die NATO hat Georgien mit dem Aufrüsten geholfen, Saakashvili hat der westlichen Presse in gutem Englisch demokratische Brocken hingeworfen, im übrigen aber nicht sehr demokratisch regiert. Dass diesen Krieg tatsächlich Georgien angefangen hat, bestätigen laut FAZ (13. August) inzwischen auch Quellen der NATO. Dieselbe FAZ schreibt allerdings seitenlang vom russischen Aggressor. In der vermutlich leider repräsentativen Presseschau der FAZ wird unter anderem Jyllands Posten zitiert, die die Aktion der russischen Armee gar mit Deutschlands Annektion der Tschechoslowakei im Namen der Hilfe für die Sudetendeutschen vergleicht. Die Grundlage für diesen Vergleich ist sehr sehr dünn, er ignoriert den Separationskrieg und dessen Gründe in den Neunzigern und, nun ja, die Tatsache, dass nun einmal Georgien angefangen hat. Der georgische Präsident ist mit seinem "Georgien den Georgiern" und anderen nationalistischen oder sogar rassistischen Äußerungen, die den Barbarentopos ausbeuten, um über die Russen zu sprechen, ein sehr viel besserer Kandidat im beliebten Spiel "Wer-ist-der-Hitler", ein dummes Spiel übrigens.
Eine mit Sanktionsdrohung versehene Aufforderung an Georgien, sich wieder zurückzuziehen, hat es nicht gegeben. Stattdessen allenfalls eine symmetrische Aufforderung "an beide Seiten", mit den Kampfhandlungen aufzuhören oder gar die einseitige Aufforderung an Russland. Und auch diese Aufforderung hätte ihr Gutes, käme sie nicht von selbst Krieg führenden Bellizisten.
Es ist merkwürdig, dass die Muster des kalten Krieges weiter die Wahrnehmung strukturieren. In der FAZ schrieb Georg Paul Hefty etwas von der "russischen Psyche", die die Anreiner Russlands aus leidvollen Erfahrungen kennen. Also nochmal: Georgien hat einen Krieg angefangen, den es gerade verliert. Beim georgischen Überfall kamen unter anderem russische Soldaten (unter UN-Mandat) und zahkreiche Zivilisten ums Leben. In vielen Redaktionen wurde aber schon lange beschlossen, wer in diesem Konflikt die Guten sind. Das Muster ist etwa: Russland betreibt immer nur Machtpolitik, die USA und ihre Freunde immer nur Menschenrechtspolitik, Georgien aber ist ein Freund der USA.
Nun haben aber die USA in den letzten Jahren eine weit aggressivere und blutigere Politik betrieben als Russland, ohne dass Hefty deshalb über die amerikanische Psyche zu sinnieren anfinge. Es ist überhaupt so eine Sache mit der Psyche von Völkern oder Staaten. Der Barbarentopos wurde von den Nationalisten und Rassisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gerne auch auf die Slaven angewandt. Der Russe: versteht nur die Gewalt, roh, mitleidslos, "asiatisch". Es braucht nur einen Interessenkonflikt, um die Schablonen auszupacken. Unsere Zeit ist keineswegs für Rassismus sensibilisiert, sondern nur für bestimmten Rassismus. Hefty und die vielen anderen würden sich dagegen verwehren, wenn sie über den Russen schwadronieren, etwa im Kern Rassisten zu sein. Im Falle Russlands haben solche Etikettierungen eine alte und üble Tradition. (Dennoch sei erinnert daran, dass Frankreich Russland überfallen hat und Deutschland Russland überfallen hat, nicht umgekehrt. Andererseits hat Russland zusammen mit Deutschland und Österreich die Polen in den Sack gesteckt und damit dieselbe niederträchtige Machtpolitik betrieben, dieselbe!, nicht etwas eine besonders finstere russische Abart. Trotzdem schwadronieren die Heftys "Russland hat schon immer", ganz geschichtsvergessen und dafür verblüffend selbstbewusst. ) Man braucht natürlich nicht einen wie im Falle Russlands lang geübten Rassismus, es geht unter Umständen auch sehr schnell. Ein paar Jahre einseitige (unter anderem von Werbeagenturen eingefädelte, s. Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan ) Propaganda über das explodierende Jugoslawien, schon ist der Reflex trainiert, dass immer die Serben die Bösen sein müssen. Zögerlich nur tröpfelt das Ausmaß des Nationalismus und der Verbrechen auch der anderen Gruppen ins Bewusstsein.
Das alles ist so einseitig, dass es ein unsichtbares Propagandaministerium nicht besser machen könnte, s. auch diesen amerikanischen
Blog-Artikel.
Es gibt offenbar keine Maßstäbe, und deshalb zählt allein die Macht, ungestraft tun zu können, was man tut. Einseitige Verwendung moralischer Kategorien macht diese stumpf. Wer sollte sich schon von George Bush zum Frieden ermahnen lassen? Anders sähe die Welt aus, wenn nicht nur Karadzic, sondern auch Bush in den Haag säße, wenn Saakashvili angeklagt würde und man dennoch die Russen auffordert, doch gefälligst mit dem Schießen aufzuhören. In der etwas älteren Geschichte sehen alle mit Leichtigkeit durch die dünne Firnis der Rechtfertigung auf die interessegeleiteten Politik, in der Gegenwart dagegen lässt man immer wieder die Kriege der eigenen Seite als gerecht durchgehen. Aus Bosnien hätten wir gelernt, wie wir immer wieder lesen, dass Kriegführen human ist, und von Kriegseinsätzen abraten inhuman. Zu welchem Ende betreiben wir Geschichte?
"Wir brauchen eine allgemeine Abrüstung." Das wäre mal ein schöner Satz. Stattdessen haben "wir" Georgen aufgerüstet und kannten die dortigen Konflikte. So dass die etlichen tausend Opfer des georgischen Überfalls vielleicht ja auch in den Genuss unserer hervorragenden Technik kamen. Pfui also nicht nur über Saakashvili und unsere Presse, Pfui auch über die Waffenhändler und uns alle.
Den Splitter im Auge der anderen sieht die deutsche Presse immerhin. Michael Ludwig analysiert die Berichterstattung über diesen Krieg in den russischen Medien, in denen Georgien nur Aggressor und Russland nur humanität "zur Rettung der süd-ossetischen Brüder" agiert, von anderen Motiven sei nicht die Rede. Ansonsten beschuldigen die meisten Medien wohl die USA, da diese die georgische Armee trainiert und ausgerüstet haben. Und damit wären die russischen Medien gerade so teilweise gerecht, teilweise ungerecht, und überaus einseitig wie die westlichen. Das Russland nur edle Motive habe, klingt fishy, aber die Darstellung z. B. in der FAZ, in der es nur unedle hat, nun ja: kalter Krieg.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.