Nun ja, die Hersteller und Abonnenten der noch verbliebenen “großen” Zeitungen sind sich über ideologische Gräben hinweg darüber einig, dass die Qualität, die eine Zeitung für Bildungsbürger genießbar mache, sich an Genauigkeit, Gründlichkeit, Stil und Gestaltung festmachen lasse. Solche Überzeugungen überleben -- wie übrigens alle -- die Gründe ihrer Entstehung.
Der Verdacht, es verhalte sich längst nicht mehr so, könnte an der schon teilweise vulgären Aufmachung des Internet-Auftritts der großen Zeitungen genährt werden. Lesen ist aber allemal besser, um festzustellen, dass oft nicht mehr viel dahinter ist.
Die Verteidiger des Kapitalismus haben sich sehr über Pikettys Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert” geärgert, weil es nicht von einem der üblichen durch Abwinken zu erledigenden Linksradikalen stammt, sondern von einem Wirtschaftswissenschaftler aus der Mitte des Establishments. Das Buch ist ausgesprochen datenlastig, kaum zu bestreiten der Befund, dass die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg einen einmaligen Tiefstand erreicht hatte und seit Ende der 70er wieder angestiegen ist, um inzwischen großenteils wieder auf dem Stand zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu sein.
Das aber haben die meisten ohnehin vermutet, nur dass eben manche Strömungen solche Ungleichheiten für richtig halten. Je nachdem, wie es begründet wird, lässt sich darüber streiten oder nicht einmal das. Positionen, die zugleich der so genannten Leistungsgerechtigkeit das Wort reden und die zum größten Teil durch Erbschaft weitergebenen Vermögen rechtfertigen, sind so offensichtlich widersprüchlich, dass ihre Vertreter offenbar niemanden überzeugen wollen. Da sie die tatsächlichen Verhältnisse auf ihrer Seite haben, können sie gut darauf verzichten. Niemand kann bestreiten, dass das Demokratieprinzip von Individuen, denen Zeitungs- und Fernsehkonzerne zu Gebote stehen, beschädigt wird, aber es lässt sich natürlich behaupten, dass die Maßnahmen, die diese Beschädigung verhindern würden, selbst viel mehr beschädigen würden. Ultraliberale Positionen wünschen sich einen Staat, der gerade so viel Steuern erhebt, wie für eine ordentlich Polizei benötigt werden, und ansonsten alles dem Markt überlässt. Das wird (etwa bei Nozick) aus ursprünglichen Freiheitsrechten abgeleitet, doch wird, wie Gerald Cohen bemerkt hat, gerade von den reinen Freiheitsadvokaten vorausgesetzt, dass Privateigentum noch vor Freiheit kommt, denn sonst hätte jeder auch die Freiheit, sich von den großen akkumulierten Vermögen jederzeit etwas zu nehmen. Ich darf aber nicht Mr. Morgans Yacht nehmen, selbst wenn er sie gerade nicht braucht.
So richtig Mühe scheinen sich die Vertreter der "neoliberalen" Ideologie nicht zu geben, Kritik an Ungleichheit aus dem Weg zu räumen. Sie ist ja eigentlich ungefährlich, solange zugleich die bestehenden Verhältnisse als unvermeidlich empfunden werden und keine von größeren Menschenmengen gutgeheißenen Änderungsvorschläge mehr im Spiel sind. Das Ärgerliche an Piketty war nun, dass er auch eine Analyse der Ursachen der Ungleichheit versucht hat und massive Veränderungsmöglichkeiten in der Anwendung bisher verpönter Steuern sieht. Da hört der Spaß auf. Sofort nach der Publikation fingen die Erwiderungen an, die versuchten, Piketty Fehler nachzuweisen. Am Datenmaterial ließ sich nicht viel flicken, also musste seine Theorie her. Das Buch ist aber mit Theorie sparsam, und die vorkommende Theorie macht wenig Voraussetzungen. Wenn die Kapitalrendite r über dem Wirtschaftswachstum g liegt, dann werden die sich vermehrenden Reichtümer stärker in die Hände der Kapitalbesitzer gehen. Dieses Prinzip hat Piketty nicht statistisch getestet, aber im Rahmen seiner Daten bestätigt gefunden. Da hatten die Gegner ihren Kasus! Vor einigen Monaten wurde nun eine vom IMF ausgehende Studie publiziert, die für eine gewisse Zahl von Staaten Daten aus dreißig Jahren untersucht und in diesem Zeitraum keine direkt messbaren Effekte des Verhältnisses r/g auf die Ungleichheit ausmachen zu können glaubt. Großes Geschrei! Ha! Die Autoren der Studie bestreiten übrigens nicht die zunehmende Ungleicheit, sie bestreiten nur die Behauptung, dass ein hohes r/g die Ungleichheit erhöhe. Sie gestehen selbst zu, dass der Zeitraum ihrer Daten für langfristige Entwicklungen möglicherweise zu kurz ist. Sie legen ihre Methode offen, in die sehr viele Modellannahmen eingehen.
Wenige wissenschaftliche Studien schaffen es in die Medien. Diese wurde durch die Internetmedien und die Zeitungen geschleift, was das Zeug hielt. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden: eine Studie zu zitieren, deren Ergebnis den eigenen politischen Vorstellungen entspricht. Diese Studie aber als Studie zu zitieren, ihren Inhalt, ihre Voraussetzungen, ihre Methode wiederzugeben, wäre ein Gebot intellektuellen Anstands, gerade für Zeitungen, die sich als bildungsbürgerlich verstehen. Und damit wären wir beim Anfangsthema. Der Wirtschaftsredakteur Patrick Bernau in der FAZ hat sich frohlockend auf die Studie gestürzt. Die Überschrift seines Artikels “ Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Was für ein Unsinn. ” war bereits falsch, denn sie suggerierte, die Ungleichheit nehme doch nicht zu, das aber behaupten die Autoren gerade nicht. Weiterhin behauptet Bernau, Piketty sage "jetzt auf einmal", seine Aussagen seien streng genommen nur für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg gültig. Die Formulierung ist ausgesprochen hämisch. Hat der Kerl jetzt erst kapiert oder zugegeben, wovon seine Daten handeln! Um sich einen hämischen Ton erlauben zu dürfen, sollte man sauber arbeiten. Das halbe Buch Pikettys handelt aber von der "normalen Periode" des Kapitalismus vor dem ersten Weltkrieg, erst danach war vorübergehend sowohl die Ungleichheit kleiner als auch r/g. Wie ausgesprochen unredlich von Bernau, so zu tun, als hätte Piketty das verschwiegen oder peinlicherweise übersehen. Die Funktion ist offenbar, nicht das Buch, sondern den Mann zu treffen: So einer ist das! Nun ist aber der FAZ-Schreiber, ja -Schreiberling, doch!, einer, der Bücher, über die er schreibt, offenbar nicht richtig liest, und der Artikel, die er zusammenfasst, weder richtig liest noch versteht.
Der Autor ist ein schlechter Journalist, was nicht weiter erwähnenswert ist. Dass aber die FAZ einen so schlechten Journalisten an diese Stelle setzt, besagt doch etwas über eine Zeitung, die von einem Ruf lebt, den sie längst nicht mehr verdient. In anderen Redaktionsbereichen der FAZ gibt es durchaus noch achtenswerte Journalisten, wenige Tage später wurde im Feuilleton eine Monographie von Atkinson über das Messen von Ungleichheit sorgfältig besprochen und im übrigen gelobt. Die Wirtschaftsredaktion aber dient offenbar - um den Preis der Niveaulosigkeit - der Ideologieproduktion. Gut zu wissen.