Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Freitag, 20. Februar 2015

Die Totengräber der EU

[Nachtrag vom 21. 2.: Der unten stehende Artikel war zu pessimistisch, da er die Verhandlungen zwischen der 'Eurogroup' und Griechenland schon scheitern sah. Eben aber habe ich erfahren, dass sich Griechenland und die EU  in letzter Sekunde doch noch auf eine 4-monatige Verlängerung geeinigt haben (unter Bedingungen, die  ich mir noch nicht angesehen habe.) Ich ändere trotz der falschen Prämisse nichts am nachstehenden Artikel, da ich die darin gemachten unerfreulichen Beobachtungen weiterhin für richtig halte, leider.  Sollte mich die Zukunft widerlegen, köpfe ich eine Flasche Champagner.]

Harmlos wirken heißt nicht harmlos sein. Einer der Totengräber der EU ist Schäuble. Griechenland hat eine neue Regierung gewählt; selbst wer vorgibt, die dahinter stehenden Gründe nicht zu verstehen, müsste so viel zugeben. Ansonsten ist es nicht so furchtbar kompliziert, zu verstehen, dass die von der Troika verordnete 'Rosskur' nicht der einzig mögliche Weg ist. Unsere Regierung wäre längst mit Schanden verjagt, wenn sie Deutschland zumuten würde, worüber sich die Griechen nicht beschweren sollen. Zwar haben die deutschen Duckmäuser Hartz IV, zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit und einen allmählichen Übergang zur 'Zweiklassenmedizin' mit wenig Murren hingenommen und betrachten einen spät eingeführten, niedrig angesetzten und von Ausnahmen durchlöcherten Mindestlohn schon als große Errungenschaft. So weit aber, das Gesundheitssystem für hoi polloi zusammenbrechen zu lassen, würde man hier einstweilen nicht gehen. In Griechenland wurde genau das verlangt; es war kein Ergebnis irgendwelcher Misswirtschaft sondern eine direkte Folge der Umsetzung aller Kürzungsmaßnahmen, die die Troika verlangt hat. Aber stellen wir uns ruhig jemanden vor, der zu bigott wäre, das zuzugeben; es bliebe doch eine demokratisch gewählte Regierung mit einem Auftrag.

Die Stellungnahmen Varoufakis' gegenüber der 'Eurogroup' liegen als TRANSSKRIPT vor. Es finden sich Argumente, Statistiken, Vorschläge für einen anderen Schuldendienst, andere Modalitäten. Diese Vorträge sind darauf ausgelegt, den Boden für einen Kompromiss zu bereiten. In dem Transskript findet sich auch eine Stellungnahme, in der dargelegt wird, dass ein den Griechen angetragenes Kompromissangebot des Franzosen Moscovici kurz vor der anberaumten Unterzeichnung durch ein anderes Dokument ersetzt wurde, das bloß die Forderungen der Troika mit leicht aufgeweichter Wortwahl wiederholte. So geht man nicht mit Leuten um, die man respektiert, nicht wahr? Griechenland soll sich beugen, uns, Schäuble; die griechische Wahlentscheidung, die schon vor der Wahl nicht akzeptiert wurde, spielt keine Rolle. In der Pressekonferenz, die sich an das Eurogroup-Treffen vom 16. Februar 2015 anschloss, gab es noch weitere bemerkenswerte Stellungnahmen Varofakis', darunter diese [meine eigene Transskription]:
Let me simply say that in the history of European Union nothing good has ever come out of ultimatum. We proceed, as [?] had said, from crisis to crisis, and this is how we improve it. If have no doubt that in the next few days any notion of an ultimatum is going to be withdrawn and in a spirit of collegiality there will be... -- After all, what are we referring to? We are asking for a phrase that allows both sides an honourable means by which to commence the exploration of common ground. Our government respects that there is a current programme and that we have a commitment to it, as the Greek state like every state has a continuity. This is an important principle and we fully subscribe to it. And at the same time there is another important principle, and that is that democracy changes the facts on the ground. And we are in a government that has a critique of the current programme. Now what is democracy? Democracy is all about blending seemingly contradictory principles. This is the whole point of our democracy. Europe is a democracy, a splendid democracy, it's a big [?] for the rest of humanity. To proceed on the basis of ultimatum and to prioritise one principle against the other, and the especially when the other principle is a principle that democracy can change, a contract between partners and this government, that would be, I think, quite a negative repercussion for the whole of the European project.
Und da ich diese Passage, die man sich auf Youtube anhören kann, nirgends als Transskript gefunden habe, hier noch eine deutsche Version (ohne Gewähr):
Lassen Sie es mich einfach so sagen: In der Geschichte der Europäischen Union hat ein Ultimatum nie etwas Gutes bewirkt. Wir schreiten, wie [?] gesagt hat, von Krise zu Krise, und auf diese Weise verbessern wir es. Ich zweifle nicht, dass wir jede Idee eines Ultimatums in den nächsten Tagen vom Tisch kommt und es in kollegialem Geist zu... -- Worum geht es eigentlich? Wir bitten um einen Satz, der beiden Seiten einen ehrenhaften Weg zum Beginn der Suche nach Gemeinsamkeiten ermöglicht. Unsere Regierung anerkennt, dass es ein laufendes Programm gibt und das wir in diesem Verpflichtungen haben, da der griechische Staat wie jeder andere Staat in einer Kontinuität steht. Das ist ein wichtiges Prinzip, dem wir voll zustimmen. Gleichzeitig gibt es ein anderes Prinzip, nämlich, dass Demokratie die Sachlage ändert. Wir sind in einer Regierung die das laufende Programm kritisiert. Was ist nun Demokratie? Es geht darum, scheinbar widersprüchliche Prinzipien zu vereinen. Darum geht es in unserer Demokratie. Europa ist ein Demokratie, eine prachvolle Demokratie, sie ist ein großes [?] für den Rest der Menschheit. Auf der Grundlage eine Ultimatums weiterzumachen und das eine Prinzip über das andere zu stellen, besonders wenn das andere, an den Rand gedrängte Prinzip durch Demokratie verändert werden kann, ein Vertrag zwischen Partnern und dieser Regierung, das wäre, wie ich denke, ein ziemlicher Rückschlag für das europäische Projekt.
Tja so ist's. Und der (Zwangs-)Optimismus dieser Worte scheint durch die Engstirnigkeit Schäubles, der sicher nicht ohne Rückendeckung Merkels handelt, leider bereits widerlegt. Demokratie kümmert uns im Großen keinen Pfifferling, das ist die Wahrheit. Schäuble fertigt die griechische Regierung einfach so ab. Sich mit Argumente auch nur abzugeben, I wo. Die Presse raunt von persönlicher Abneigung Schäubles gegen Varoufakis; das mag Geschwätz sein. Es bleibt aber dabei, dass eine neue Regierung mit guten Argumenten etwas vorschlägt, das sie vorschlagen muss, wenn Demokratie eine Bedeutung hat, und man sie einfach so abblitzen lässt.  Es zieht sich eine Irritation durch viele Kommentare: Man ärgert sich, dass Varoufakis nicht demütig ist. Man ärgert sich wohl auch, dass er intelligenter wirkt als sein Gesprächspartner. Die Intelligenten fertigzumachen ließ sich in Deutschland immer schon ganz gut verkaufen. Einige Zeitungen frohlocken, dass der verkniffene Schwabe es dem stolzen Varoufakis zeigt. Gerne wird ad personam geschrieben, ein besonders blöder Kommentar von Jurek Skrobala im Spiegel arbeitet sich an Varoufakis' Lederjacke ab, die deplaziert sei. Wow! Tolle Analyse!

Schäuble ist einer der Totengräber der Europäischen Union, das ist kein falscher Satz, wenn das Demokratieprinzip derart unter ökonomische Prinzipien gestellt wird. Die ganzen forschen Hetzer gegen Russland sind die anderen Totengräber, weil sie aus einem kollaborativen Projekt  einen "Block gegen den Feind" machen. Das auswärtige Amt hat eine Handreichung an die Abgeordneten des Bundestags verschickt, die alles, was der ukrainischen Regierung zur Last gelegt werden kann, für russische Propaganda erklärt. Die Handreichung lässt alles aus, was ihr nicht passt, oder dreht's so, wie es ihr passt. Dass das von der Rada verabschiedete Gesetz, das dem Russischen den offiziellen Status als Minderheitensprache nahm, nicht in Kraft trat, wird als Argument dafür benutzt, eine Reaktion auf dieses Gesetz sei unverständlich und unnötig. Dabei ließe sich an diesem Gesetz auch ablesen, wes Geistes Kinder die sind, die es verabschiedet haben. Ein entsprechendes Gesetz gegen das Flämische würde in Belgien  zuverlässig zum Bürgerkrieg führen, was ist daran so unverständlich? "Die Russen sind schuld. Basta."  Wen kümmert's dann noch, dass die Kiewer Regierung derart rabiat auf eigene Bürger schießt  -- was sie nicht müsste -- und rechtsextreme Freiwilligenbataillon unterhält -- was vielfach belegt ist, aber in dem Schriftstück keine Erwähnung findet. Paragraph für Paragraph könnte man das Schreiben zerpflücken. Das aber wäre verlorene Liebesmüh: Der Sinn des Schreibens ist ja bloß, denjenigen, die ohnehin auf Burgfrieden eingeschworen ist, eine kanonische Formulierung vorzuschlagen.  Überaus demokratisch.

Dass wir nur Recht, und die nur Unrecht haben, propagiert der Text des Auswärtigen Amts wie auch der größere Teile unserer Presse, unserer Publizisten, unserer Dichter. Schulterschluss, Burgfrieden allenthalben.  Es ist aber bei Konflikten generell weiser, anzunehmen, dass beide Seiten in irgendwas Recht haben könnten. Dann aber müsste man ja ernsthaft nach Lösungen suchen,  das genau wollen die Akteure aber, wie im Fall Griechenlands, nicht, sondern sie wollen herrschen. Der Vorschlag einer Föderalisierung der Ukraine entspricht allgemeinen Grundsätzen der EU, hat auch beispielsweise Belgien vor dem Zerbrechen bewahrt, aber so richtig will keiner davon reden, da ihn der Russe gemacht hat.

Es konnte nicht ausbleiben, dass diese beiden Arten, das zu verraten, was die EU des Friedensnobelpreises würdig gemacht hätte, einen Claqueur finden, der sie verschmilzt:  Irgendwie gehören Griechenland und Russland zusammen; also schrieb's dem Sinn nach Bittner, einer der dümmsten unter den sich für Großjournalisten haltenden Schreibern der Zeit. Eine Schande das Ganze.   Die Uneinsichtigkeit der Mächtigen ist das eigentlich schlimme. Besonders widerwärtig ist aber  die Journaille, die vor der Macht kriecht und sie rechtfertigt, wie es Karl Kraus so schön für den Ersten Weltkrieg dokumentiert hat.   Wird der Bittner wohl bald wieder einen Preis kriegen. Alla.