Emil Julius Gumbel

Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.

Montag, 8. Dezember 2014

Sterben light

Die Afghanen haben ja einen ganz anderen Umgang mit dem Tod als wir. Für die ist das nicht so schlimm. (Reinhard Wolski, deutscher General bei der Isaf)

 

Wie man den Bellum Iustum gegen die Taliban erklärt


Wir erinnern uns oder sollten uns erinnern: Der Krieg gegen den souveränen Staat Afghanistan wurde deshalb von den USA und ihren Verbündeten beschlossen, weil das Land die Gruppe um Osama bin Laden beherbergte, der 9/11 zugeschrieben wurde. Die afghanische Regierung war bereit zu einem Prozess gegen die Gruppe in Afghanistan, nicht aber zu deren Auslieferung. Nach 9/11 wollte die amerikanische Regierung um jeden Preis handeln, auch wenn Handeln bedeutete, die falschen Leute aus den falschen Gründen zu bekämpfen. Unter dem Einfluss der schockierenden Bilder vom kollabierenden World Trade Center hatten die Staaten der westlichen Welt ihre Solidarität mit den USA in einer Weise erklärt, die für den Afghanistankrieg einen Blancoscheck darstellte.  Da nun aber gerade nicht der Staat "Afghanistan" für den Anschlag verantwortlich war, stand der Kriegsgrund zumindest auf dünnen Füßen, es bedurfte der Ergänzung durch größtmögliche Diffamierung der Taliban und speziell ihres Umgangs mit Frauen. Viele haben sich von Spindoktoren dazu missbrauchen lassen, den Krieg mit dieser Begründung zu rechtfertigen und sich zu ihrer ewigen Schande bereit gefunden, im Krieg ein vorzügliches Mittel des rechtlichen Fortschritts zu sehen.

Das gegenwärtige Afghanistan hat, was Frauenrechte betrifft, erneut eine ähnlich rückständige Gesetzgebung wie unter den Taliban. Gleiche Rechte für Frauen und Männer gab es in Afghanistan nur eine kurze Zeit, als die kommunistische, von der Sowjetunion gestützten Regierung der "Demokratischen Volkspartei" ab 1978  regierte. Jene Regierung ließen die USA bekanntlich von bewaffneten und reaktionären Islamisten bekämpfen, deren sich noch immer einige in den Reihen der "Al Qaida" befinden. Den Bürgerkrieg gewannen nach langen Jahren des Leidens die ebenfalls reaktionären "Taliban". Und doch herrschte immerhin zum ersten Mal seit zwanzig Jahren Friede, als die USA und ihre Verbündeten das Land neuerlich in die Luft sprengten. Wer die Entwicklungsmöglichkeit eines Friedens unter reaktionärer Herrschaft behauptet, wurde früher oder später mit dem 'Appeasement'-Vorwurf traktiert. Dazu mussten wiederum die Taliban verhitlert werden ('Islamofaschismus', etc.). Das aber wird vor keiner Geschichtsschreibung Bestand haben; unsympathische Reaktionäre sind noch keine Nazis. Die Taliban haben weder Vernichtungslager betrieben, noch Sympathien für die diversen Manifestationen des historischen Faschismus gezeigt, noch offensichtliches ethnisches oder rassisches Feindbild propagiert (was sie, nota bene, von westukrainischen Neonazis unterscheidet, die, das kann man beispielsweise  auf den Seiten von 'Pravi sektor Lviv' nachlesen, ein offenbar rassistisches Weltbild haben und sich als die Vertreter der 'weißen Christenheit' gegen die 'asiatischen Russen' sehen.  Einige der Gruppen sind auch offen antisemitisch. Und nein, das weiß ich nicht aus 'russischer Propaganda', sondern zumindest teilweise aus eigener Anschauung.)

Ein friedliches Gespräch mit den Taliban über alles, was wir an ihnen ablehnen, muss ausgeschlossen werden. Wir erwarten aber dennoch, dass, wer immer die Politik der BRD mit guten Gründen ablehnt, diese vorbringt, statt zu schießen. Deutsche Handelsketten sind an der entsetzlichen Ausbeutung südostasiatischer Frauen beteiligt. Das ist schon lange bekannt, wurde von internationalen Organisationen moniert, es ändert sich aber wenig bis nichts.  Daraus folgt dann wohl, dass mit der BRD nicht mehr gesprochen werden soll, sondern vielmehr geschossen.

Wie es nach dem Bellum Iustum gegen die Taliban aussieht


Üblicherweise erinnern wir uns nicht. Oder schlimmer, wir glaube uns vage an die Beteiligung an einem gerechtfertigten Krieg gegen "mittelalterliche" Gegner zu erinnern, die so schön dämonisiert wurden, dass es auf ein paar Verhackstückte mehr oder weniger nicht ankommt.  Es wurde ein Sieg erfochten für die Zivilisation und die Frauen, sofern diese nicht die Frauen  und Töchter der im Kriege ermordeten Männer bzw. selbst bedauerliche  'Kollateralschäden' waren.  Wen kümmerts, dass mehr Frauen in diesem Krieg verstümmelt oder getötet wurden, als eine besonders rückständige Auslegung der Scharia jemals verstümmelt oder getötet hätte? Wir sind die Zivilisation und spielen eine Variation des Themas von der Bürde des weißen Mannes. Und jetzt ist alles gut und Afghanistan sieht einer prächtigen Zukunft entgegen?

Im Tagesspiegel vom 1.12.2014 wurde darüber berichtet, dass große Flächen Afghanistans von Landminen und Blindgängern verseucht sind.

Mindestens 36 Menschen sind seit 2010 von Blindgänger getötet worden, die eindeutig von Nato-Truppen stammen, 86 wurden verletzt.

„Kein Militär hat jemals so viel Anstrengungen unternommen, zivile Opfer zu vermeiden wie die Nato-Schutztruppe Isaf.“ Diesen Satz hört man bei Isaf-Pressekonferenzen und Interviews mit westlichen Generälen immer wieder.

Ist das so? Der Artikel dokumentiert, dass die Minen und die Munition nicht nur nicht geräumt wurden, sondern die NATO bisher die Herausgabe einer gründlichen Dokumentation der Verteilung der verschossenen Munition schuldig bleibt, üblicherweise mit schwer nachvollziehbaren Geheimhaltungsgründen.

 Treffen mit Reinhard Wolski, dem deutschen General, der bei Isaf für die Blindgänger zuständig ist. Wir sprechen ihn auf das lange Schweigen der Nato an. Auf den Reuters-Bericht. Auf die hastig einberufene Krisensitzung. „Sie brauchen mir das alles nicht erzählen, ich war schließlich dabei“, raunzt er. „Gibt Isaf Daten über Blindgänger aus Gefechten frei?“

Wolski schweigt, sagt nur, dass Gefechtsfelder das größere Problem seien als Trainigsgelände. Ansonsten wolle er dazu nichts sagen, „und ich werde Ihnen auch nicht sagen, warum ich dazu nichts sage.“ Dann schweigt er wieder.

„Haben Sie keine Bedenken, dass es dem Ruf der Isaf-Mission schaden könnte, wenn Blindgänger Zivilisten töten?“

„Der Großteil aller zivilen Opfer in Afghanistan geht immer noch auf das Konto der Taliban“, sagt er. Und: „Die Afghanen haben ja einen ganz anderen Umgang mit dem Tod als wir. Für die ist das nicht so schlimm.“ Schlimm sei für die Afghanen, wenn man einen Koran verbrenne, nicht wenn jemand sterbe.


Nun könnte man erschüttert sein über den General und den neokolonialistischen Hochmut seiner Worte. Was Wolski sagt und tut,  tut aber auch die NATO/ISAF im Ganzen, die die Toten und Verstümmelten in Kauf nimmt. Der Gedanke, dass es nicht so genau drauf ankomme, muss der vorherrschende Gedanke in der Leitung der westlichen Truppen sein. Gewiefte Pressesprecher würden das Ganze aber in den süßen Seim von Freiheit, Menschenrechten und Sachzwängen einkleiden. Man muss Wolski letztlich danken, sich nicht als PR-Mann, sondern als Militär zu betragen, der sagt, was er denkt, und wär es noch so ekelerregend.  Es mag ihn am Ende seine Stellung kosten oder auch nicht. Unbeschadet aber werden die smarten Entscheidungsträger daraus hervorgehen, die bloß danach handeln, dass es auf ein paar tote Afghanen nicht ankommt, dies aber nie sagen würden.  -- Es gilt übrigens für die Gesamtheit der letzten Kriege, dass sie ohne diese Spielart des Kulturrelativismus nicht führbar wären.  Mindestens eine  Million durch die Invasion des Iraks gestorbene Iraker (Schätzung von 'The Lancet')  erschüttern kaum im Vergleich zu dreitausend im World Trade Center Ermordeten. Wenn den Irakern ihr Leben so lieb wäre wie uns, bliebe ihnen kaum etwas anderes übrig, als uns dafür zu hassen. Indem wir von ihnen das Gegenteil erwarten, gehen wir davon aus, dass sie die Toten gewissermaßen in anderen Maßeinheiten zählen.  Der Kulturrelativismus in Bezug aufs afghanische Sterben verträgt sich in unseren Köpfen mit der Verdammung des Kulturrelativismus, wenn es um die Rolle der afghanischen Frauen geht. Wie's halt gerade passt.


Wie geht es weiter?

 Die Nato sagt, für die Räumung der Trainingsgelände sei jede Nation selbst zuständig. Bernd Schütt war bis Juli Kommandeur im Regionalkommando Nord, dem Verantwortungsbereich der Bundeswehr. Er sagt, die Deutschen hätten alle ihre Schießbahnen geräumt, einen halben Meter tief.

Aber das ist nicht wahr. Die Bundeswehr selbst zeigt in einem Werbevideo, wie sie ihre Trainingsgelände geräumt hat. Soldaten laufen die „Westplatte“ in der Nähe von Kundus in einer Reihe im Abstand von fünf bis zehn Metern ab und lesen Munitionsreste in rote Plastikeimerchen; Munition, die nicht berührt werden darf, sprengen sie vor Ort. Unter der Erde suchen und räumen sie nicht. Am Ende stellen die Soldaten Schilder auf. Sie warnen vor Munitionsresten im Untergrund.

Diese oberflächliche Räumung ist (natürlich, wie sich selbst ein Zivilist denkt)  völlig unzureichend.


 Manche Nato-Länder haben nun zaghaft mit der Räumung begonnen. Von 284 Trainingsgeländen waren bis Ende September 82 erfasst worden – das Ergebnis: Diese ersten 82 Felder sind zusammen 600 Quadratkilometer groß, mehr verseuchte Fläche, als Afghanistan noch aus Sowjetzeiten blieb. Allein auf den ersten 60 Quadratkilometern Schießbahn fand das US-Militär mehr als 35 000 Blindgänger.

Im Auftrag der Amerikaner hat die US-Firma SDA eher zufällig auch ein Trainingsgelände der Deutschen überprüft: das Gelände „Wadi“ bei Kundus – im April 2014, sieben Monate, nachdem die Bundeswehr Kundus verlassen hatte. Das Ergebnis: Auf dem angeblich sorgfältig geräumten Schießplatz wurden fast 100 Blindgänger gefunden, allein an der Oberfläche. „Der Untergrund muss dringend von Blindgängern befreit werden“, heißt es in dem Bericht. Außerdem steht dort: Mehrere Afghanen wurden vor dem Abzug der Bundeswehr verletzt. Ein Mann verlor beide Hände, eine Frau ihr Bein unterhalb des Knies. Ein Bundeswehr-Sprecher sagt, von Unfällen auf der Schießbahn Wadi habe man keine Kenntnis – zu dem Gutachten äußert sich weder die Bundeswehr noch die Bundesregierung. In 13 Jahren habe es auf deutschen Schießbahnen nur einen einzigen Unfall gegeben.

General Reinhard Wolski hat Afghanistan im Juli verlassen. Sein Nachfolger hat angekündigt, die Nationen müssten ihre Trainingsgelände nun räumen. Die Daten zu den Gefechtsfeldern unterliegen weiter der Geheimhaltung.  Afghane, die das Land von Minen säubern wollen, werten derweil Zeitungsartikel über Gefechte aus, weil diese immer noch aussagekräftiger als das von der NATO gelieferte Material sind.

Mia saan mia

 

Nachdem wir nun das Maß unserer übergroßen Humanität vor Augen geführt bekommen haben, derjenigen unserer Soldaten und unserer Politiker, wenden wir unseren Blick auf das mediale Echo der letzten Rede Putins. Darin kommen einige eher rückständige Vokabeln von der 'heiligen Erde' vor, ein nationalkonservatives Weltbild, aber kein einziges Wort, das so krass inhuman wäre wie das eben gehörte. Und wieder sind sich alle einig, dass der Putin ein Hitler sei etc.  Die Rollen der Guten und Bösen werden ein für allemal verteilt, alle weiteren Wahrnehmungen durch diese Vorgabe gefiltert.  Was die grusligen Gestalten der neuen ukrainischen Regierung gesagt oder getan haben, wird ihnen nicht vorgerechnet; dem russischen Präsidenten wird jedes Wort feindselig ausgelegt. Äußerungen des eitlen und etwas verrückten Milizenführers 'Strelka' werden einfach 'Russland' zugeschrieben. Äußerungen eines deutschen Generals werden nicht beachtet oder, wenn sie doch Beachtung finden, einem individuellen Fehler zugeschrieben.  Merkel lehnt die Schwulenehe mit allen Rechten (Adoptionsrecht) nach wie vor ab: Sie ist halt konservativ. Unter Putins Regierung wurde ein Gesetz gegen 'Propagierung der Homosexualität bei Minderjährigen' verabschiedet: Der ist ein Faschist.  Keine kapitalistische Regierung macht sich anheischig, den so genannten Arbeitsmarkt zu reparieren/regulieren, der typische 'Frauenberufe' nach wie vor schlechter entlohnt. Kommunistische Regierungen, die diesen Missstand behoben haben, waren dennoch die Bösen.


Von Selbstgerechtigkeit zu sprechen, genügt nicht mehr. Man bräuchte  Begriffe aus der Psychopathologie, um derart verzerrte Selbst- und Fremdbilder zu verstehen.  Ich bitte kundige Leserinnen um eine Diagnose.