Stefan Heym eröffnete als Alterspräsident den 13. Bundestag. Er war Schriftsteller in deutscher und englischer Sprache, Sohn eines deutsch-jüdischen Händlers und ein früher Antifaschist, der vor den Nazis zunächst nach Prag floh, später dann in den USA studierte und englisch publizierte. Er kehrte in der McCarthy-Zeit nach Europa zurück und zog in die DDR, mit deren staatlichen Kunstrichtern er trotz sozialistischer Überzeugungen bald aneinander geriet. Er war schließlich auch an den Protesten beteiligt, die ins Ende der DDR und in die Wiedervereinigung mündeten.
Lesen Sie, verehrter Leser, doch Heyms Rede noch einmal, sie verdient es. Und was tat die CDU-Fraktion, die einen Filbinger in ihren Reihen sitzen hatte, die die Lüge von den "blühenden Landschaften" verzapft und ungerührt einer sozialen Katastrophe in den neuen Bundesländern zugesehen hatte? Sie verweigerte den Applaus. Wenn man jetzt den gelähmten Helmut Kohl, der kaum noch sprechen kann, sieht, kann man nur Mitleid empfinden. Man braucht aber nicht zu vergessen, was für ein unsäglich beschränkter, einseitiger Kleingeist und anachronistisch kalter Krieger da Stefan Heym den Beifall verweigerte. (Die Abgeordnete Süßmuth war übrigens die einzige der CDU/CSU, die applaudierte.)
Auch jetzt sitzen nicht wenige von den damaligen Beifall-Verweigerern im Bundestag. Die jetzige Regierung sägt weiter am Sozialstaat, schottet weiter die Festung Europa gegen Flüchtlinge ab. Andererseits ist Deutschland inzwischen der drittgrößte Waffenexporteur der Welt und ballert in Afghanistan. Wir haben offenbar viel aus der Nazizeit gelernt. Wir können nämlich schöne Reden zu Gedenktagen halten, Wohlfühlreden, in denen das einstige Grauen unsere jetzt so guten Manieren unterstreicht. Da klatscht dann auch jeder, nicht aber bei einem deutsch-jüdischen Schriftsteller, der den Nazis und manchem anderen entronnen ist, wenn er von einer wünschenswerten Zukunft der BRD spricht, die bereit wäre, auch aus der DDR trotz ihrer Fehler zu lernen. Man bedenke, dass hier ein Oppositioneller, der in der DDR jahrzehntelang nicht publizieren konnte, spricht - und es dennoch für richtig hält, die DDR nicht in die Pfanne zu hauen. Man klatscht aber nicht. Das Wort "Kleingeister" scheint zu klein, es waren Kleinstgeister in zum Teil riesigen Körpern.
Wer zweierlei Maß auf einerlei Gegenstände anwendet kann noch jede Ungerechtigkeit rechtfertigen und jedes Feindbild stützen. Ein Maß für unsere Freunde, ein anderes für unsere Feinde. Hier sollen einige Fälle von "zweierlei Maß" dokumentiert werden, ein Wasserträgerdienst an der Gerechtigkeit als wirksamer Idee, auf die sich sogar die verpflichten, die sich an ihr vergehen.
Emil Julius Gumbel
Der Heidelberger Mathematiker Emil Julius Gumbel veröffentlichte 1924 die Schrift "Vier Jahre politischer Mord", in der nachgewiesen wurde, dass weitaus mehr Linke von Rechten ermordet wurden als umgekehrt, dass aber die Linken zu weitaus höheren Strafen verurteilt wurden als die Rechten: Die deutsche Justiz hatte zweierlei Maß. Gumbels Schrift änderte daran leider nichts, ihm selbst wurde schließlich auf Betreiben nationalsozialistischer Studenten die Lehrerlaubnis entzogen, er ging ins Exil. Dennoch ist der Nachweis von Ungerechtigkeit kein bloßer Kommentar zur Geschichte, sondern kann hin und wieder etwas ändern, und wäre es nur, weil ein Ungerechter ungern als solcher dasteht.